SSAS-
stilfragen.
Grundlegungen
Geschichte der Ornamentik.
Von
Alois Riegl.
Mit 197 Abbildungen im Text.
Berlin 1893.
Verlag von Georg Siemens,
Nollendorfstr. 42.
m
liuchrlruckcrei von Gu»tav .Schade (Otto I'rnncke) in Itcrlin N.
Inhalt.
Seite
I. Der geometrische Stil 1
II. Der Wappenstil 33
III. Die Anfänge des Pflanzenornaments und die Entwicklung der ornamen-
talen Ranke 41
A. Altoi'ientalisches 48
1. Egyptisches. Die Schaffung' des Pflaiizenornaments . 48
2. Mesopotamisches 86
3. Phönikisches 102
4. Persisches 109
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst . 112
1. Mykenisches. Die Entstehung- der Eanke 113
2. Der Dipylon-Stil 150
3. Melisches 154
4. Rhodisches 160
5. Altböotisches. Frühattisches 172
6. Das Eankengeschlingc 178
7. Die Ausbildung der Ranken-Bordüre 191
8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung 197
9. Das Aufkommen des Akanthus-Oi'naments 208
10. Das hellenistische und römische Pflanzenornament . . 233
a. Die flache Palmetten-Ranke 241
b. Die x\kanthusranke 248
IV. Die Arabeske 258
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen
Kunst 272
2. Frühsaracenische Rankenornamentik ....... 302
Einleitung.
„Grundleg'nngen zu einer Geschichte der Ornamentik" kündigt der
Titel als Inhalt dieses Buches an. Wie Mancher mag da schon bei
Lesung des Umschlags misstrauisch die Achseln zucken! Giebt es
denn auch eine Geschichte der Ornamentik? Es ist dies eine Frage,
die selbst in unserem von historischem Forschungseifer ganz erfüllten
Zeitalter eine unbedingt bejahende Antwort wenigstens bisher durchaus
noch nicht gefunden hat. Man braucht dabei gar nicht an jene Radi-
kalen zu denken, die überhaupt alles ornamentale Kunstschaften für
originell erklären, eine jede Erscheinung auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste als unmittelbares Produkt aus dem jeweilig gegebenen
Stofi:' und Zweck ansehen möchten. Neben diesen Extremsten unter den
Extremen gelten schon als Vertreter einer gemässigteren Anschauung
Diejenigen, die den dekorativen Künsten wenigstens soAveit als die so-
genannte höhere Kunst, insbesondere die Darstellung des Menschen und
seiner Thaten und Leiden hineinspielt, eine historische Entwicklung
von Lehrer zu Schüler, Generation zu Generation, Volk zu Volk, ein-
zuräumen geneigt sind.
Allerdings giebt es und gab es seit dem ersten Aufkommen einer
kunsthistorischen Forschung allezeit eine Anzahl von Leuten, die sich
berechtigt glaubten, auch die bloss ornamentalen Formen in der Kunst
vom Standpunkte einer stufenweisen Entwicklung, also nach den Grund-
sätzen historischer Methodik zu betrachten. Es waren dies naturgemäss
hauptsächlich die Buchgelehrten , die schon durch ihren Bildungsgang
auf Gymnasien und Universitäten mit der philologisch-historischen Me-
thodik und Betrachtungsweise erfüllt, dieselbe auch auf ornamentale
Erscheinungen anwenden zu müssen vermeinten. Die Art und Weise
aber, in welcher diese Anwendung historischer Methodik auf die Be-
Y£ Einleitung".
traclitmig- (Ut Ornamentik bisher zu li'esehelH-n pHeg'te, ist höchst
bezeichnend für den ganz überwifgx'uilcu Eintius^s, den die in erster
Linie erwähnten extremeren Kreise auf die üttentliche ^Meinung in
Dingen der omamentah-n Künste ausübten. Historisehe Weehsell^ezüge
zu behaupten wagte man nur schüchtern, und bloss für eng begrenzte
Zeitperioden und nahe benachbarte Gebiete. Vollends wo die unmittel-
bare Bezugnahme der Ornamente auf reale Dinge der Aussenwelt, auf
organische Lebewesen oder Werke von ^lenschenhand aufhörte, dort
machte die Kühnheit der Forseher mit entschiedener Scheu ein Halt.
"Wo einmal die mathematische Darstellung von Symmetrie und Rhythmus
in abstrakten Lineamenten, wo der Bereich des sogen, geometrischen
Stils begann, dort wagte man es nicht nielir, den künstlerisclien Nach-
ahmungstrieb des Menschen und die ungleiche Befähigung der einzelnen
Völker zum Kunstschaffen gelten zu lassen. Die Eile, mit der man je-
weilig sofort versicherte, dass man ja nicht so ungebildet und naiv wäre zu
glauben, dass etwa ein Volk dem anderen ein ,,einfaches" Mäanderliand
abgeguckt haben könnte, und die Entschuldigung, um die man viel-
mals bat, wenn man sich herausnahm, etwa ein planimetrisch stilisirtes
Pflanzenmotiv mit einem ähnlichen aus fremdem Kunstbesitz in ent-
fernte Vei'bindung zu bringen, lehren deutlich genug, welch' siegreichen
Ten'orismus jene Extremen auch auf die ..Historiker" unter den mit
der Ornamentforschung Beflissenen ausübten.
"Worin liegt nun der Erklärungsgrund für diese Verhältnisse . die
in den letztverflossenen 25 Jahren einen so bestimmenden und vielfach
lähmenden Einfluss auf unsere gesammte Kunstforschung ausgeübt
haben? Er liegt vor Allem in der materialistischen Auffassung von dem
Ursprünge alles Kunstschaff'ens, Avic sie sich seit den sechsziger Jahren
unseres Jahrhunderts herausgebildet und fast mit lincni Schlage .ilU'
kunstübenden, kunstliebemlcii uiid kuiistrorsrli.iKlcii Kreise iur sieh
gewonnen liat. Auf (Jottfricd Sem]i<r ])flegt man die Theorie von
der teclinisch-materiellen Entstclrnng der ältesten Ornamente und Kunst-
formen überhaupt zurückzuführen. Es geschieht dies mit demselben,
oder besser gesagt, mit rlx-nsowenig Recht, als die Identiiieirung des
modernen Darwinismus mit Darwin: die Parallele -- Darwinismus und
Kunstmaterialismus - scheint mir um so zutrelfender, als zwischen
diesen beiden Erscheinungen zweifellos ein inniger kausaler Zusannnen-
Einleitung". vri
hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung- in der
Auffassung' der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die
Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. vSo
wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem-
perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem-
per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und
Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg:
die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff' und Technik. Die „Technik"
wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien
es bald gleichwerthig mit „Kunst" und schliesslich hörte man es so-
gar öfter als das Wort Kunst. Von „Kunst" sprach der Naive, der
Laie; fachmännischer klang es, von „Technik" zu sprechen.
Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst-
materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An-
hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried
Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei
schöpferischen Kunstwollens einen Avesentlich mechanisch-materiellen
Xachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ-
niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler-
Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität,
welche die ausübenden Künstler in Sachen der „Technik" genossen,
brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen
und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen,
wo nur irgendwie die „Technik" in Frage kommen konnte, von der
sie — die Gelehrten — selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver-
standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten
kühner. Das Wort „Technik" erwies sich als äusserst geduldig, man
fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell-
bar waren und thatsächlich dargestellt Avurden, man machte die fröh-
liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten Hess, und so
hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit-
schriften jene Avilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht
nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für
ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man
sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge-
gangen ist.
yjjj Einleitung".
Inmitten einer solchen Stimmung der Geister wagt es dieses Buch
mit Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik hervorzutreten.
Dass es vorab nur Grundlegungen sind und nichts Anderes sein Avollen,
rechtfertigt sich -wohl von selbst. Wo nicht bloss das Terrain Schritt
für Schritt hart bestritten ist,. sondern sogar die Grundlagen mehrfach
in Frage gestellt Averden, da müssen erst einige sichere Positionen er-
obert, einige fest verbundene Stützpunkte gewonnen werden, von denen
aus dann späterhin eine umfassende und systematische Gesammtbear-
beitung wird gewagt werden können. Ferner brachte es die Natur der
Sache mit sich, dass der „Thätigkeit des Yerneinens" in diesem Buche
ein allzu grosser Raum zugemessen werden musste, als sich mit einer
positiven, pragmatischen Geschichts-Darstellung vertragen Avürde: er-
scheint es doch als die nächste, dringendste Aufgabe, die fundamen-
talsten, die schädlichsten, der Forschung bisher hinderlichsten Irrthümer
und Vorurtheile hinwegzuräumen. Dies ist ein weiterer Grund, Avarum
die in diesem Buche niedergelegten Ideen zunächst in Form von ..(irund-
legungen" vor die Oeff'entlichkeit treten.
Unser Erstes Avird nach dem Gesagten sein müssen, die Existenz-
berechtigung dieses Buches überhaupt naclizuweisen. Dieselbe er-
scheint insolange in Frage gestellt, als die technisch-materielle Ent-
stehuugstlieorie für die ursprünglichsten, anfänglichsten Kunstformen
und Ornamente unbestritten zu Kraft besteht. Bleibt es doch in solchem
Falle ewig zAveifelhaft, wo der Bereich jener spontanen Kunstzeugung
aufliört und das historische Gesetz von Vererbung und Erwerl)ung in
Kraft zu treten beginnt. Das erste Kapitel musste daher der Frage
nach der Stichhaltigkeit der technisch-materiellen Entstehungstheorie
der Künste gewidmet Averden. In diesem Kapitel, das die Erörterung
des "Wesens und Ursprungs des geometriscli c n Stils in der i\'l>er-
sclirift ankündigt, hoffe ich dargelegt zu haben, dass nicht bloss kein
zwingender Anlass vorliegt, der uns nöthigen Avürde a priori die ältesten
geometrischen ^'erzierungen in einer bestimmten 'JVclmik, ins1)esondere
der textilen Künste, ausgeführt zu vermutlien. sondern, dass die ;iltesten
Avirklich historischen KunstdenkniähT «hn lie/üglielien Ann.ihinen Aiel
eher Aviderspreclieii. Zu dem gh-ielieii Ergebnisse Averden wir durch
andere Erwägungen von mehr allgemeiner Art geluhrt. AVeii eleineiilarer
näralicii, als das Bedürfniss des Menschen nach Scimtz (k's Leibes
Einleitung'. jX
mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nacli Sehmuck des Leibes
entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen,
darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem
Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen
Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der
die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die
Identificirung der Textilornamentik mit Flächen Verzierung oder Flach-
ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass
die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler
Technik ausgeführt Avaren, hört auch die Identität der beiden zu gelten
auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die
Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich-
werthig anderen flächenverzierenden Künsten.
Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende
Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts-
punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der
Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen geAvesen
ist, — ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige
Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums
für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge-
fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen,
dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu
verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der
langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen
Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Tlieil ihres Nimbus
rauben zu müssen.
War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes
von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil-
verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik
fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen
Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man
alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten
organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass
die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren
zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung
auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei
X Etnleitiiug-.
der "Weiten Yerbreituiiü' dieses oriianientalen Gruiipiruniissclieiuas. das
man auch den Wappen st il genannt hat, hielt ich es für noth wendig,
demselben das zweite Capitel zu -widmen, um darin auseinander zu
setzen, dass auch diesbezüglich jeglicher Nachweis, ja sogar die "Walir-
scheinlichkeit fehlt, dass man zur Zeit, ans welcher die ältesten Denk-
mäler im "Wapi^enstil stammen, sich auf die Kenntniss einer so aus-
gebildeten Kunstweberei wie sie die technische Voraussetzung hiefür
bilden müsste, verstanden hätte, und dass wir anderseits im Stande
sind, das Aufkonnnen des Wappenstils noch aus anderen, allerdings
nicht so greifbar „materiellen" Gründen zu erklären.
Die Grundtendenz der beiden ersten Capitel dieses Buches er-
scheint hiernach als eine verneinende, Avenngieich überall versucht
wird, an Stelle des Umgestürzten ein Neues, Positives zu setzen.
Was insbesondere den geometrischen Stil anbelangt, so erschien es als
das Dringendste, einmal die damit verknüpften falschen Vorstellungen
hinwegzuräumen, das Vorui'theil von der angeblichen Geschichtslosig-
keit dieses Stils, und seiner unmittelbar technisch-materiellen Abkunft
zu brechen. Der Umstand, dass die mathematischen Gesetze von Sym-
metrie und Rhythmus, als deren Illustrationen die einfachen Motive des
geometrischen Stils gelten können, auf dem ganzen Erdball mit ge-
ringen Ausnahmen die gleichen sein müssen, Avährend die organischen
Wesen und die Werke von Menschenhand dem von ihnen inspirirtcn
Künstler mannigfache Abwechslung gestatten, erschwert die Tuter-
suchung über geometrische Stilgcbiete nach historischem Gesichtspunkte
allerdings ganz ungemein. Spontane Entstehung der gleichen geome-
trischen Ziermotive auf verschiedenen Punkten der Erde erscheint in
der That nicht ausgeschlossen; aber aucli das historische Moment ^\ ii'd
man hier jeweilig mit voller Unbefangenheit in Rechnung ziehen dürfen.
I'^inzelne Völker sind den übrigen gewiss in dem gleichen Maasse vor-
angeeilt, als allezeit einzelne l)egabtere Individuen über ihre Neben-
menschen sieh erhoben lial>en. Und von der gi'ussen .Masse gilt in dei-
grauen Vergangenheit gewiss dassell)e, was hent/niage: sie ätl't lieher
nach, als dass si«- selbst erfindet.
Festenin Boden gewinnt die Oi'nainenti'drsehiiiig \<>n <lein Angen-
blicke an, da die Pflanze nnt<;r die Motive aufgenommen erscheint.
Der nachlnldungsfähigen Pll.in/.enspecies gieljt es unendlich mehr, als
Einleitung*. XI
der abstrakt-symmetrischen Gebilde, die sich auf Dreieck, Quadrat,
Eaute und wenige andere beschränken. Daher hat auch die klassische
Archäologie bei diesem Punkte mit ihren Forschungen eingesetzt; ins-
besondere der Zusammenhang der hellenischen Pflauzenmotive mit
den am Eingange aller eigentlichen Kunstgeschichte stehenden alt-
orientalischen Vorbildern ist bereits vielfach Gegenstand des Nach-
weises und eingehender Erörterungen gewesen. Wenn trotzdem von
Seite der deutschen Archäologie bisher kein Versuch gemacht Avurde,
die Geschichte des für die antike Kunst als so maassgebend anerkann-
ten Pflanzenornaments im Zusammenhange von altegyptischer bis
römischer Zeit darzustellen, so muss der Grund hiefür wiederum nur
in der übermächtigen Scheu gesucht werden, die mau davor empfand,
ein „blosses Ornament" zum Substrat einer weiter ausgreifenden histori-
schen Betrachtung zu machen. Der Schritt nun. dessen sich ein an
deutschen Schulen Herangebildeter nicht zu unterfangen getraute, wurde
vor Kurzem von einem Amerikaner gemacht. W, G. Goodyear war
der Erste, der in seiner Grammar of the lotus die gesammte antike
Pflanzenornamentik und ein gut Stück darüber hinaus als eine Fort-
bildung der altegyptischen Lotusornamentik erklärt hat; den treiben-
den Anstoss zu der universalen Verbreitung dieser Ornamentik glaubt
er im Sonnenkultus erblicken zu sollen. Um die technisch-materielle
Entstehungstheorie der Künste kümmert sich dieser amerikanische
Forscher augenscheinlich ebensowenig, wie um Europas verfallene
Schlösser und Basalte; der Xame Gottfried Sempers ist mir im ganzen
Buche, wenn ich nicht sehr irre, nicht ein einziges Mal aufgestossen.
Im Grunde ist der Hauptgedanke Goodyears nicht ganz neu : sein
unbestrittenes Eigenthum ist l)loss der entschlossene Radikalismus, wo-
mit er seiner Idee universale Bedeutung zu geben bemüht ist, sowie
die Motivirung für das Zustandekommen der ganzen Erscheinung.
"Was einmal diese letztere — die Berufung auf den Sonnenkultus
— betrifft, so schiesst der Autor damit zweifellos weit über das Ziel hin-
aus. Schon für die altegyptische Ornamentik bleibt der allmächtige
Einfluss des Sonnenkult-Symbolismus mindestens zweifelhaft; vollends
unbewiesen und auch unwahrscheinlich wird er, sobald wir die Grenzen
Egyptens überschreiten. Symbolismus Ist gewiss auch einer der Fak-
toren gewesen, die zur allmählichen Schaffung des historisch gewordenen
3H Einleitung.
Ornameutenschatzes der Menschheit beigetragvu halten. Aber denselben
zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen
Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen
Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear
übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch-
künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er-
scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein-
lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort
lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso Avie die Kunstmateria-
listen in dem gleichen Falle die Teclmik, den zufälligen todten Zweck
in"s Feld führen.
"Was andererseits die fast schrankenlose Ausdeluiung der A'orbild-
lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst
auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin
eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria-
listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his-
torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken , wo eine be-
sonnene Forschung sie unbedingt znrückw<'isen niuss. Da er überall
nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für
feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar niclit anders
geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der
mykenischen Oi-namentik übersah, und damit zugleich den viel-
leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi-
schen Ornamentik unberücksichtigt liess.
Die überwiegende Bedeutung, die dem Pllanzenornamenl inner-
halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug
auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Orn.iinentilv inner-
halb der rJesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat
Tioodyear ebenso klar erkainit, wie schon viele andere Forscher vor
ihm. Im AVintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität
Vorlesungen über eine „rieschiclii"' dii- ( )rn;iininiik" gelialten, inner-
halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pfianzenornaments
von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war.
Ein Tlieil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im :5. Kapitel
dieses Buches wiedergebe, mit geringen Znsätzen, die lianptsächlich
durch die nothwendig gewoi-denen P>(zi<linngen auf das mittlerweile
Einleitung". -^m
erschienene Biicli Goodyear's veranlasst wurden. Entlehnung von Mo-
tiven aus altorientalischem Kunstbesitz seitens der griechischen Stämme
bin auch ich geneigt in umfassendem Maasse anzunehmen. Die Aus-
gestaltung dieser Motive im reinen Sinne des Formschönen ist ein längst
anerkanntes Verdienst der Griechen. Was aber das eigenste, selbst-
ständigste und fruchtbarste Produkt der Griechen gewesen ist, das hat
nicht bloss Goodyear ignorirt, sondern es wurde auch von Forschern un-
beachtet gelassen, die mit Eifer nach selljständigen occidentalen Keimen
und Regungen in der frühgriechischen Kunst gesucht Iiaben. Es ist dies
die Erfindung der Ranke, der beweglichen, rhythmischen Pflanzen-
ranke, die wir in sämmtlichen altorientalisehen Stilen vergebens suchen,
die dagegen auf nachmals hellenischem Boden uns schon in der myke-
nischen Kunst fertig entgegentritt. Die Blüthenmotive der hellenischen
Ornamentik mögen orientalischer Abkunft gewesen sein : ihre in schönen
Wellenlinien dahinfliessende Rankenverbindung ist speciflsch griechisch.
Die Ausbildung der Rankenornamentik steht von da an überhaupt im
Vordergrunde der Fortentwicklung der ornamentalen Künste. Als
saumartig schmales Wellenband mit spiraligen Abzweigungen sehen
wir die Ranke zuerst in die Welt treten, als reichverzweigtes Laubge-
winde überzieht sie in reifer hellenistischer Zeit ganze Flächen. So
geht sie durch die römische Kunst hindurch in das Mittelalter, in das
abendländische sowohl wie in das morgenländische, das saracenisclie,
und nicht minder in die Renaissance. Das Laubwerk der Kleinmeister
ist ein ebenso legitimer Abkömmling der antik -klassischen Pflanzen-
rankenornamentik, wie das spätgothische Krieclnverk. Jener fort-
Avährende kausale Zusammenhang im menschlichen Kunstschaffen aller
bisherigen Geschichtsperioden, der sich uns bei der historischen Be-
trachtung der antiken Kunstmythologie und der christlichen Bilder-
typik offenbart: er lässt sich nicht minder für das ornamentale Kunst-
schaffen herstellen, sobald man das Pflanzenornament und die Pflanzen-
ranke durch alle Jahrhunderte hindurch von ihrem ersichtlich ersten
Aufkommen bis in die neueste Zeit verfolgt. Eine so weitgespannte
Aufgabe in vollem Umfange lösen zu wollen, erschien im Rahmen
dieses Buches undurchführbar. Ich habe mich daher darauf beschränkt,
die Entwicklung des Pflanzenrankenornaments von seinen Anfängen
bis zur hellenistischen und römischen Zeit im Einzelnen aufzuzeigen.
XIV
Einleitung'.
Das diesen Ausführungen gewidmete 3. Ka]»itel glaube ich unter Er-
wägung der also klargestellten Bedeutung des Gegenstandes als eine
ganz wesentliche „Grundlegung" betrachten zu düi'fen.
Solange man in der PÜanzenornamentik an den überlieferten
stllisiiten Typen festhielt, ist der historische (Jang als solcher unschwer
festzustellen: dagegen müsste eine grosse Unsicherheit in den Schluss-
folgerungen eintreten in dem Momente, wo der ■Mensch in der Zeich-
nung der Ornamente der natürlichen Erscheinung einer vorbildlichen
Ptianze möglichst nahe zu konnnen trachten würde. Z. B. kann die
Projektion der Palmette, die wir in Egypten und Griechenland an-
treffen, kaum beiderseits selbständig erfunden sein, da dieses Motiv
eine dm'chaus nicht in der natüi'lichen Erscheinung begründete Blüthen-
form wiedergiebt: der Schluss ist unabAveisbar, dass das Motiv nur an
einem Orte entstanden sein kann und nach dem andern übertragen
worden sein muss. Ganz anders, wenn wir an zwei ornamentalen
"Werken verschiedener Herkunft etwa eine Kose in ihrer natürlichen
Erscheinung dargestellt fänden: die natürliche Erscheinung der Rose
in den verschiedensten Ländern ist im Allgemeinen die gleiche: eine
selbständige Entstehung jener Kopien da und dort wäre hienach sehr
wolil denkbar. Nun ist es aber ehi Erfaiirungssatz, der sich uns ge-
rade aus einer Gesammtbetrachtung des Plianzenornaments ergeben
Avird , dass eine realistische Darstellung von Blumen zu dekorativen
Zwecken, wie sie heutzutage im Schwange ist, erst der neueren Zeit
angeliört. Der naive Kunstsinn früherer Kulturperioden verlangte vor
Allem die Beobachtung der Symmetrie, auch in Nachbildungen von
Naturwesen. In der Darstellung von Mensch und Thier hat man sich
frülizeitig davon emancipirt, sich mit AiKudiuing derselben im W,ii)iien-
stil u. dergl. beJiolfen; ein so untergeordnetes, scheinbar lebloses Ding
wie die Pflanze dagegen hat man noch in den reifesten Stilen ver-
flossener .Talirhunderte symmetrisirt, stilisirt — namentlich, sofern nini
dem l'll;in/<'nliild«- nicht eine gegensiiiiKllielie iledciining nniei'lt ^te,
sondern in der Tluit ein lth>sses Ornament l)i'al)sicliiigi w;ir. \in\ der
Stilisirung der ältesten Zeit zum J<(;alismus der luddernen ist man aber
nicht mit einem Schlage übergetreten. Zu wiederliolten Malen begegnen
wir in der Geseliiclite des Pflanzenornaments einer Neigung ztir Natura-
lisirung. zni- Annäheriin;,'' der lMl;inzen<'i"n;nnente an die i-eaje perspek-
Einleitving". XV
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der
Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten
Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war
nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten
traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All-
gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna-
ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals
bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch Avichtigste Beispiel für die Art
und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten
Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf-
kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt Aviderspruchs-
los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un-
mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver-
dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich
das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte,
scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen-
der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein
solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der
That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass
dieselben im Ausselien gerade die charakteristischen Eigenthümlich-
keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen
Eigenthümlichkeiten haben sich nachAveislich erst im Laufe der Zeit
aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf
der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan-
thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da
dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe
gekommen Avar? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so
hofie ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts
Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal-
metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus
Avichtigste A'on allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex
machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen-
hängenden, normalen EntAA'icklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die
sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
XVI Einleitung'.
ausdrückt, scheint der Orient von Anbeginn, seit er sieh der höheren
griechischen Kultur und Kunst gefangen gegeben, widerstrebt zu haben.
Die hellenistischen Formen hat er durchgreifend übernommen: an
diesem Satze Mird. heute wohl Niemand mehr zweifeln, dem es nicht
um ein blosses Justament-Festhalten an liebgewordenen Anschauungen
zu thun ist. Dass es Anhänger dieser letzteren trotz der überzeugen-
den Sprache der Denkmäler heute noch giebt, ist wohl auch vornehm-
lich auf Rechnung der festgewurzelten antihistorischen Tendenz in der
Beurtheilung ornamentaler Kunstformen zu setzen. Aber thatsächlieh
begegnen uns an orientalischen Kunstwerken aus der römischen Kaiser-
zeit vielfach die stilisirtcn Blüthenformen der reifhellenischen und der
alexandrinischen Kunst neben den naturalisirenden Bildungen des
römischen Westens. Das byzantinische Ornament knüpft theilweise
direkt an hellenistische Formen an, die offenbar auf griechischem und
kleinasiatischem Boden auch während der römischen Kaiserzeit fort-
dauernd in Gebrauch geblieben waren. Wegen der grösseren Eeilie
von Zwischengliedern nicht so unmittelbar einleuchtend, aber nicht
minder vollgiltig ist dies hinsichtlich der saracenisehen Kunst.
Die derb byzantinischen Elemente in der saracenisehen Ornamentik
hat man längst richtig auf ihre Herkunft hin erkannt, ja, man kann
sagen, in den vierziger und fünfziger Jahren richtiger als heutzutage,
woran eben wiederum die dazwischen gekommene, unselige technisch-
materielle Entstehungstheorie mit der Schwärmerei für spontan-autooli-
thone Anfänge der unterschiedlichen nationalen Künste Schuld ist.
Dagegen blieb die Arabeske allezeit unangetastetes Sondereigenthum
des Orients, insbesondere der Araber. Und doch lehrt die Geschichte
der Ornamentik im Alterthum, dass der antike Orient das Rankenorna-
ment, das ja der Arabeske zu Grunde liegt, nicht gekannt lial und da-
her dasselbe erst vom hellenischen AVesten übernommen halten niuss.
Auch konnte man längst bei näherem Zusehen in dem dichten Arabesken-
geschlinge einzelne mehr hervorstechende .Alotive w.iiirneliiuen, die mit
ihren Volutenkelchen und l'.l.itif.-icliei-n liciitlicii (Jen /iisnninimli.iiig
mit der alten Palmettenornamentik vcrrathen. Was aber an der
Arabeske als scheinbar völlig neu und gegenüber der antiken Auf-
fassung des Pflanzenornaments ganz fremdartig erschienen ist, das war
die Eigenthümlicldvcit, dass die an den Raid^en sitzenden saracenisehen
Einleitung. XV rr
Blüthenmotive nicht bloss, wie dies in der Xatur und im Allg'omein<'n
auch in der abendländischen Ornamentik der Fall ist. als freie Endi-
gungen selbständig auslaufen, sondern sehr häufig Aviederum in Ranken
übergehen. Dadurch wird der Charakter der Blüthen als solcher unter-
drückt, die Bedeutung der Ranken als Stengel verwischt, das Wesen
der Arabeske als eines Pflanzenrankenornaments für den Beschauer oft
bis zur Unkenntlichkeit verschleiert.
Diese Eigenthümlichkeit nun, die als die wesentliche und
charakteristische der Arabeske bezeichnet werden darf, und in
welcher die antinaturalistische auf das Abstrakte gerichtete Tendenz
aller frühsaracenischen Kunst ihren schärfsten Ausdruck gefunden hat,
lässt sich ebenfalls schon in der antiken Rankenornamentik vorgebildet
beobachten. Dem Nachweise dieses Sachverhaltes ist nebst den
Schlüsse des dritten das vierte Kapitel dieses Buches gewidmet. Ich
hole damit zugleich etwas nach, was ich in meinen „Altorientalischen
Teppichen" zu geben, hauptsächlich dui'ch Raummangel verhindert
war. Dieser Nachtrag erscheint mir um so nothwendiger, als sich her-
ausgestellt hat, dass man vielfach die Natürlichkeit des Vorganges, die
antike Kunst zum Ausgangspunkte der frühmittelalterlichen auch auf
orientalischem Boden zu machen, nicht recht einsehen wollte: so tief-
gewurzelt ist in den modernen Geistern die antihistorische Anschauung,
dass die Kunst da und dort ihren spontanen, autochthonen Ursprung
genommen haben müsse, höchstens der Occident der lernende, der
Orient aber immer nur der spendende Theil gewesen sein könne.
Nicht bloss den Dichtern, auch den Kunstschriftstellern wurde der
Orient zum Lande der Märchen und Zauberwerke : in den fernen Orient
verlegen sie mit Vorliebe die Erfindung aller erdenklichen „Techniken",
namentlich aber der flächenverzierenden. Und schien einmal eine
„Technik" als im Orient autochthon erwiesen, so musste es dann auch
die mittels derselben hervorgebrachte Kunst gewesen sein, die doch
nach der herrschenden Anschauung der führenden „Technik" überall
erst nachgehinkt wäre.
Mehr Voraussetzungen für eine historische Betrachtung des
Pflanzenrankenornaments sind innerhalb des abendländischen Mittel-
alters gegeben. Nicht als ob dieses Gebiet von den Einwirkungen des
Kunstmaterialismus völlig verschont geblieben wäre: vielmehr lassen
X\ll[
Einlc'ituno-.
sich dieselben auch dort auf Schritt und Tritt nachweisen, und ihnen
ist es wohl zuzuschreiben, dass die Beurtheilung- der Verhältnisse in
der Frühzeit, in der sogen. Yölkerwanderungs-, aber auch noch in der
Karolingischen und Ottonischen Periode, trotz verhältnissmässig reich-
lichen Materials eine vielfach unklare, widerspruchsvolle, der Einheit-
lichkeit entloehrende geblieben ist. Aber ich meine, dass man wenig-
stens nicht auf so eing-ewurzelte Vorurtheile und blinden Widerstand
stossen würde, wenn man den Versuch machte, das mittelalterlich-
abendländische Pflanzenornament in seiiwr historiscluni Entwicklung
vom Ausgange der klassischen Antike bis zum Aufkunnnen der Re-
naissance darzustellen. Da nun Zeit und Kaum vorläufig nicht ge-
gestatten Alles zu eriu'tern, Avas auf die historische Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments Bezug hat, so habe ich mich darauf be-
schränkt, Ji'ue Partien daraus zur S])rachc zu bringen, die am meisten
«•ini-r fundamentalen Klärung bedürftig erscheinen, so dass die bezüg-
lichen Klarstellungfu in der That als Grundlegungen zu einer darauf
weiter zu bauenden (reschichte der Ornamentik gelten dürfen. Es be-
ti-effen diese Partien, wie wir gesehen haben, das PHanzen-
rankenornanient im Ali< rtlinni mul dessen treueste Fortsetzung im kon-
servativen Orient, die Arabeske. Auch in der mittelalterlichen Kunst-
geschichtsliteratur begegnen wir übrigens in den Peschreibungen von
Kunstwerken so überaus häufig der allgemeinen Bezeichnung: ..ein
Ornament", worauf dann eine nähere Besclu'eihung l'olgt, die ganz
überflüssig wäre, wenn man das betreff'ende ( )rnameni in der Oesammt-
entwicklungsgeschichte bereits unterge])i-aclit hätte. Dass diese Unter-
bringung, wenigstens soweit das antike und sai'acenische l'Hanzen-
rankenornament in Betracht k^nnut, nichts weuigci' .-ils schwer ist, zu
zeigen, — für eine solche systematische Unterbringung eine historische
..Orundleguug" zu schaffen: dies ist der Hauptzweck, den ich mir mit
dem y>. und 4. Kapitel dieses BucIk^s gestellt lial)e.
Wenn es oberste Aufgabe .illei- historischen l'^orschnng und so-
mit auc-h dei- kunsthistorischen ist, kritisch /n sondern, so erscheint
die Grundtendenz dieses Buches n.ich ileiii (io.igien \ielniehr nach
der entgegengesetzten Seite gerii-htei. I'.isher (ieii-enntes und (ie-
schiedenes soll untereinander verlmuden. un<l iintei' einheillichem (ie-
sicht.spunkte lietr.ichtet werden. in der That liegt die näcliste .\ul'-
Einleituiio'.
XIX
g'abe auf dem Gebiete der Ornamentg-escbichte darin, den in tausend
Stücke zersclmittenen Faden wieder zusammenzuknüpfen.
Der Inbalt dieses Bucbes rübrt an allzu tiefgewurzelte und lieb-
gewordene Anscbauung-en, als dass icli niebt auf vielfacben Wider-
sprucb g'efasst sein müsste. Ich bin seiner gewärtig; docb weiss ich
micb auch bereits mit so Manchem eines Sinnes. Andere mögen mir im
Stillen Recht geben, obgleich sie vielleicht nicht den Beruf in sich
fühlen, sich laut dazu zu bekennen. Die Uebrigen aber, die sich nicht
überzeugen lassen wollen, wenigstens dazu gebracht zu haben, dass sie
die Xothwendigkeit einsehen, für ihre vorgefasste Lieblingsmeinung
stärkere und bessere Gründe als die bisherigen beiscbaffen zu müssen,
erschien mir schon eine erstrebenswerthe That, indem selbst ein solcher
bedingter Erfolg dazu beizutragen vermöchte, Klarheit in die uns in
diesem Buche beschäftigenden fundamentalen Fragen zu bringen: ist
es doch menschliche Erbsünde, nur durch Irrthum zur Wahrheit zu
gelangen.
I.
Der geometrische Stil.
Alle Kunst und somit auch die dekorative steht in unauflöslieliem
Zusammenhange mit der Natur. Jedem Gebilde der Kunst liegt ein
Gebilde der Natur zu Grunde, sei es unverändert in dem Zustiinde, in
dem es die Natur geschaffen hat, sei es in einer Umbildung, die der
Mensch, sich zu Nutz oder Freude, damit vorgenommen hat.
Dieser stets vorhandene Zusammenhang tritt aber an verschie-
denen Kunstgebilden mit verschiedener Deutlichkeit zu Tage. Am un-
verkennbarsten offenbart er sich an den Werken der Skulptur: die
HervorbringTingen der Natur erscheinen hier eben nachgeahmt mit
allen ihren drei körperlichen Dimensionen. Die Versuchung zu einer
stärkeren Abweichung von den Vorbildern der Natur und die Gefahr
einer Verdunkelung des obwaltenden Zusammenhanges mit diesen
letzteren war erst recht nahegerückt von dem Augenblicke an, da
man im Kunstschaffen die Tiefendimension und damit zugleich die
volle körperliche Erscheinung preisgab, was bei jenen Künsten der
Fall ist, die in der Fläche darstellen.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Punkte. Wir haben
eben die beiden grossen Klassen festgestellt, in die sich die dekora-
tiven Künste scheiden: die plastischen und die in der Fläche darstel-
lenden. Es lassen sich aber aus dem Gesagten auch schon Schlüsse
auf das genetische Verhältniss ziehen, das zwischen den beiden ge-
nannten Kunstgebieten obwaltet. Wenn wir vorerst die Denkmäler
beiseite lassen und zunächst auf rein deductivem Wege uns die Frage
zu beantworten suchen, welcher von beiden Klassen von Künsten, den
plastischen oder den flächenbildenden, der Vorantritt in der Entwick-
lung zuerkannt werden müsse, so av erden wir schon a priori — trotz
der weitverbreiteten gegentheiligen ^leinung — das plastische Kunst-
Riegl, Stilfragen. 1
2 Der g-eoiiietrisclie Stil.
seluifteu als das ältere, primitivere, das in der Fläclie bildende als das
Jüngere, raftinirtere bezeieliuen dürfen. EtAva ein Tliier in fencliteni
Thon schlecht und recht nachziunodelliren, dazu bedurfte es, nachdem
einmal der Xachahmung-strieb im 31enschen vorhanden war, keiner
höheren Bethätiguiig- des menschlichen Witzes, da das Vorluld — das
lebende Thier ^ in der Xatur fertig" vorlag. Als es sich aber zum
ersten Male darum handelte , dasselbe Thier auf eine gegebene
Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu
schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Köri)er
■wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um-
risslinie, die in AYirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst
frei erfunden -werden nmsste'). Von diesem Augenblicke an gewann
die Kunst erst recht ilire unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man
die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that
man den wesentlichsten Schritt, die l'hantasie von dem Zwange der
strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu
einer freieren Behandlung und Condunirung dieser Xaturformen hin-
zuleiten.
Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form-
gebung noch so Avunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen l)richt
doch immer das reale, aus der Xatnr entlehnte \'<abihl hindurch. Dies
gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den i>lasti-
schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind niclit
minder von X'aturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober-
körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen "Welt nicht
existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei-
spaltigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestinnnt auf das
Xaturvorbild der Lotusblüthe zurück, nuichte nun der Zusammenhang
mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyitrischen
Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht.
Also die Xatur blieb i'iir die Kunstlnmien .lucli dann nueli \or-
bildlieli, als dieselben die Tiefendiniension jjreisgegehen imd die in
dei- AVii'klichkeit nicht existirendc umgi'enzende Linie zum Eh iiienle
ihrer l);ir.-tellimg gemaelit li.it!«ii. In- rnn'isslinieii (l,irge>tellte Tliier-
', Von Hottentotten und Australnegcin wissen die Reisenden vielfacli
zu berichten, dass sie ihr eig'enes Bild in Zeiclnnuig- oder PlK)tog-rai)liie nicht
erkennen: sie vermögen eben die Ding'e nur kör))erlicli, aber nicht in die Fläche
g-ebannt, ohne Tiefendiincnsion, aufzufassen — ein Beweis, dass für letzteres
bereits eine vorgeschrittcnf Knltni stufe vorjius^^csctzt werden nniss.
Der geometrische Stil. 3
lig'uren bleiben nichtsdestoweuig'er Tlnertigurcii , wenn ihnen aucli die
Plasticität der körperlichen Erscheinung fehlt. Man ging- aber endlich
auch daran, aus der Linie selbst eine Kunstform zu gestalten,
ohne dabei ein unmittelbares fertiges Vorbild aus der Xatur im Auge
zu haben. Diese Gestaltungen geschahen unter Beobachtung der fun-
damentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus: ein regel-
loses Gekritzel ist eben keine Kunstform. So bildete man Dreieck,
Quadrat, Raute, Zickzack u. s. w. aus der geraden, den Kreis, die
Wellenlinie, die Spirale aus der gekrümmten Linie. Es sind dies die
Figuren, die wir aus der Planimetrie kennen; in der Kunstgeschichte
pflegt man sie als geometrische zu bezeichnen. Der Kunststil, der sich
auf der ausschliesslichen oder doch überwiegenden VerAvendung dieser
Gebilde aufliaut, heisst somit der geometrische Stil.
Wenn nun auch den Gebilden des geometrischen Stils anschei-
nend keine realen Wesenheiten zu Grunde liegen, so stellte man sich
damit dennoch nicht ausserhalb der Xatur. Dieselben Gesetze von
Symmetrie und Rhythmus sind es doch, nach denen die Natur in der
Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier. Pflanze, Krystall), und
es bedarf keineswegs tiefere)- Einsicht, um zu bemerken, Avie die
planimetrischen Grundformen und Configurationen den Xaturwesen
latent anhaften. Der eingangs aufgestellte Satz a^ou den engen Be-
ziehungen aller Kunstformen zu den körperlichen Xaturerscheinungen
besteht also auch für die Formen des geometrischen Stiles zu recht.
Die geometrischen Kunstformen A^erhalten sich eben zu den übrigen
Kunstformen genau so, Avie die Gesetze der Mathematik zu den leben-
digen Xaturgesetzen. Ebensowenig, wie im sittlichen A' erhalten der
Menschen, scheint es im Gange der Xaturkräfte eine absolute Voll-
kommenheit zu geben: das AbAveichen von den abstrakten Gesetzen
schafft da und dort die Geschichte, fesselt da und dort das Interesse,
unterlu'icht da und dort die Langeweile des ewigen Einerlei. Der
nach den obersten Gesetzen der Symmetrie und des Rhythmus streng
aufgebaute geometrische Stil ist, vom Standpunkte der Gesetzmässig-
keit betrachtet, der vollkommenste; in unserer Werthschätzung steht
er aber am niedrigsten, und auch die EntAvicklungsgeschichte der
Künste, soAA^eit Avir dieselbe bisher kennen, lehrt, dass dieser Stil den
Völkern in der Regel zu einer Zeit eigen gcAvesen ist, da sie noch auf
einer verhältnissmässig niedrigen Kulturstufe verharrten.
Trotz dieser geringen ästhetischen Würdigung hat doch der geo-
metrische Stil im Verlaufe der letztverflossenen ZAvei Decennien eine
1*
4 Der geometrisclie Stil.
sehr weitgehende Berücksiehtigiuig erfahren. Einmal von Seiten der
archäologischen Forschung. Die ältesten Xekropolen von Cypern, die
vorhomerischen Schichten von Hissarlik, die Terramaren der Poebene,
die Gräber des prähistorischen Xord- uu<l Mitteleuropa u. a. förderten
den geometrischen Stil an Gegenständen zu Tage, deren Entstehung
nach sehr gewichtigen Anzeichen in verhältnissmässig frühe Zeiten zu-
rückgehen dürfte. Dazu gesellten sich die Beobachtungen der ethno-
logischen Forscher, denen die charakteristischen Linienniotive des
geometrischen Stils vieltach als \'erzierungen auf Geräthen moderner
Naturvölker begegneten. Da wir im Sinne der modernen Naturwissen-
schaft uns für berechtigt halten, die Naturvölker für rudimentäre
Überbleibsel des Menschengeschlechtes aus früheren längstveräossenen
Kulturperioden anzusehen, so erscheint, in diesem Lichte betrachtet,
die geometrisehe Ornamentik heutiger Naturvölker ebenfalls als eine
historisch längst überwundene Phase der Entwicklung der dekorativen
Künste, und darum von hoher historischer Bedeutsamkeit.
Da nun die Avenigen grundlegenden Motive des geometrischen
Stils sich fast bei allen jenen prähistorischen und Naturvölkern in der
gleichen Weise, wt-nngleich in verschiedenen Combinationen und unter
Avechselnder Bevorzugung einzelner Motive, gefunden halben, in Europa
wie in Asien, in Afrika Avie in Amerika und in Polynesien, so zog
man hieraus den Schluss, dass der geometrische Stil nicht auf einem
Punkte der Erdoberfläche erfunden und von diesem Punkte aus über
alle Welttheile hin verbreitet worden sein mochte, sondern dass er, avo
nicht bei allen, so doch bei den meisten Völkern, bei denen Avir seiner
AnAvendung begegnen, spontan entstanden AA^äre. Als höchst naiA- und
uuAvissend würde derjenige gelten, der zAA^ei Töpfe verschiedener Her-
kunft, die beide das gleiche Zickzackmuster aufweisen, nicht ctAva in
unmittelbaren Zusammenhang, nein, bloss in eine ganz entfernte, durch
eine längere Reihe A'on ZAvischengliedern vermittelte Verwandtschaft
unter einander bringen Avollte. Der geometrische Stil Aväre überall
auf der Erdoberfläche spontan entsiandcn: dies ist der erste
autoritative Lehrsatz, der heutzutage von diesem Stile gilt.
Stand einmal diese Ülierzeugung fest, so ergab sich daraus sofort der
Aveitere Schluss, dass der Anstoss zur Erfindung und Entfaltung dieses
Stils AA'ohl überall der gleiche gcAvesen sein niusstc. Der rastlos nach
Causalzusammenhängen forschende Sinn unseres naturwissenschaftlichen
Zeitalters Avar alsbald bemüht, dieses EtAvas zu ergründen, das den geo-
metrischen Stil an so vielen Piiukleu spontan li.it in's Lrl.cn treten
Der g'eometrische Stil. 5
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein;
der blosse Hinweis auf unfassbare iDsyeliisclie Vorgänge hätte nicht als
Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende
Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen
Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus
ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der
Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs
bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden
wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von
Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi-
tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur
allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernoth wendigste Produkte
eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen
Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen.
Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh-
zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den
Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben
gesucht haben.
Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech-
nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro-
ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente
beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns
und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen
Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten Avären? Eine glückliche
Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie
zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie
der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben.
Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl-
gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden
sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man
glaubte sich schon mit dem soAveit Gewonnenen begnügen zu dürfen.
Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines
rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand — so rai-
sonnirte man — die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge-
bracht. Sie waren einmal da, und der Menscli konnte sie nachahmen,
gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange-
feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am
Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge-
boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie
6 Der geometrische Stil.
g-etiel ihm an diesen Ictzterini nnd er wollte sie auch dort sehen, wo
sie nicht spontan entstand. Das geometrische Motiv des Zickzack, ur-
sprünglich das zufällige Produkt eines rein technischen Vorgangs, war
hiemit zum Ornament, zum Kunstmotiv erhoben. Die einfachsten
und wichtigsten Kunstmotive des geometrischen Stils wären
ursprünglich durch die textilen Techniken der Flechterei
und Weberei hervorgebracht: dies ist der zweite souveräne Lehr-
satz, der heutzutage vom geometrischen Stile gilt.
^lit dem zuerst entwickelten Lehrsatz von der spontanen unab-
hängigen Entstehung dieses Stiles an verschiedenen Punkten der Erd-
oberfläche berührt sich dieser zweite Lehrsatz insofern, als das elemen-
tare Bedürfniss nach Schutz des Leibes sich auf verschiedenen Punkten
der Erdoberfläche selbständig geltend gemacht haben dürfte und daher
auch an verschiedenen Punkten eine spontane Erfindung (h'r Zaun-
flecliterei und Gewandweberei veranlasst haben konnte. Ein Lehr.satz
stützte auf solche Weise den anderen; in ihrer Harmonie gal:)en sie
zusammen ein um so überzeugenderes Bild von der I-^ntstehung des
geometrischen Stils und zugleich des frühesten primitivsten Kunst-
schaflTens überhaupt.
Gottfried Sem per war es, der zuerst die linearen Ornamente
des geometrischen Stils auf die textilen Techniken der Flechterei und
Weberei zurückgeführt hat. Dieser Schluss ergab sielt ihm aber kcines-
Avegs selbständig, etwa wie wir ihn im A^orstehenden entwickelt haben,
sondern im Zusammenhange mit jenem Grundgedanken, dessen Be-
gründung und konsequenter Durchführung sein Stil in erster Linie ge-
widmet war: der Theorie vom Bekleidungswesen als Ursprung aller
monumentalen Baukunst. Auf diesem Wege gelangte er zur Zurück-
führung aller Flächenverzierung auf die Begriffe von bekleidender
Decke und einfassendem, abschliessendem Band, mit welchen Px'gritlen
ein textiler Gharakter schon sprachlich verknüpft erscheint. Es geht
nun aus zahlreichen Stellen im Siil hervor, dass Semper sich diese Vor-
bildlichkeit von Decke und Band ursprünglich u\\(\ iilierwiegend iiiclit
so sehr in stofflich -materiellem, als in ideellem Sinne gedacht hat,
wie denn auch Semper gewiss der Letzte gewesen wäre, der den frei
schöpferischen Kunstgedanken gegenüber dem sinnlich-materiellen \arli-
ahmungstriebe nicht gebühren<l berücksichtigt hätte; die Ausliilduiig
dieser seiner Theorie in grob materialistischein Sinne ist erst durch
seine zahllosen Nachfolger erfolgt. Aber es lag nnn einmal nahe, die
Dinge auch in materiellen Zusannnenliaiig /n lu-ingen. nnd an <'iner
Der geometrische Stil. 7
Stelle-) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters
aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen,
dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur-
sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel
übrig bleibt.
Semper's Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit-
willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn
unseres Zeitalters, der lur alle Erscheinungen die Causalzusammenlxänge
nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich l^efriedigt fühlen von
einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das-
jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver-
blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben
wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie
aufgegriffen, die sich el)en in die Lage versetzt fand, sich mit den auf
griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus-
einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen
Conze's, der vor 20 Jahren Semper's Hypothese für die sogen. Vasen
des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen
Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entAvickelten beiden Lehr-
sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er-
rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der
Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er-
örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken
hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen
Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde
der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf
noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen
Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus
einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht
bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu Ijeweisen
gesucht.
Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom
Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit
unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze
betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen
Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn
sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-
-) Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.
8 Der geometrische Stil.
tciusenden begegnen, behauptet, so müssen wir uns damit begnügen,
darzuthun, dass in dieser Frage eine zuverlässige Entscheidung heut-
zutage nicht getroffen werden kann, und daher die autoritäre, Allge-
meingiltigkeit beanspruchende Fassung, in welcher der besagte Lehrsatz
heute vorgetragen Avird, zumindest eine verfrühte genannt werden
rauss. "Wie lineare Motive bei einem Volke spontan in die Ornamentik
eingeführt Averdeü, lässt sich heutzutage wohl nirgends mehr beobachten.
Die spontane Entstehung an mehreren verschiedenen Punkten lässt
sich somit nicht mehr unmittelbar beweisen, allerdings auch nicht das
Gegentheil. Das Material, auf Grund dessen man ein zuverlässiges
rrtlieil schöpfen könnte, ist einfach nicht mehr vorhanden, und es liegt
daher dermalen auch kein genügender Grund vor, um die Verbreitung
des geometrischen Stils von einem einzigen Punkte aus zu behaupten.
Es muss sogar zugestanden werden , dass es Völkerschaften mit
sehr respektablem omamentalem Kunstschaffen giebt, deren nachweis-
liche, des bei ihnen beobachteten gänzlichen Mangels an Metall und
Metallwaaren halber unabsehbar weit zurückreichende Isolirtheit eine
Abhängigkeit von anderen Kunstvölkern geradezu auszuschliessen
scheint ; dem interessantesten dieser Völker, den Maori auf Neuseeland,
werden auch Avir späterhin mehrfach Beachtung zu schenken Veran-
lassimg finden.
So viel wird man aber immerhin sagen dürfen, dass die Ergebnisse
der letztjährigen Forschungen der Annahme allzuvieler selbständiger Ent-
stehungsherde keineswegs günstig scheinen. Die Zeiten, in welche die
Ijezüglichen Funde in den Mittelmeerländern zurückgehen, rücken uns
immer näher und entfernen sich in dem gleichen Älaasse vom suitponirten
Urzustände, und das Gleiche gilt von den Überbleibseln der sogen, nord-
und mitteleuropäischen Bronzezeit. Ferner wird es immer klarer, dass die
friedliclien Beziehungen selbst sehr entfernter Völker zu einander, ihr
Verkehr zur See und zu Lande, wenn auch durch zahlreiche Zwisclien-
gliedei- vermittelt, in überaus frühe Zeiten zurückgehen; an Gelegen-
heiten, Avelche den stets wachen Nachahmungstrieb der Menschen reizen
mocliten, liat es somit seit unvordenklichen Zeiten nicht gefehlt. Min-
destens zwisclien den das Mittelmeerbecken umwohnenden Völkern
werden vielfache causale Ziisammenhänge auch in Betreff des geome-
trisclien Stils nicht abzuweisen sein. Und was die anscheinend primi-
tive geometrische Ornamentik bei den modernen Naturvölkern betrifft,
so erscheint d;i dop|ielte Vorsicht gel»oten zu einer Zeit, da selbst die
chinesische ,M;iii<r liedcnkliclie Risse zeiüt, wie insbesondere die Nach-
Der geometrische Stil. 9
weise F. Hirth's von den intensiven Bsziehnngen Chinas zum römischen
Kaiserreich ergeben haben 2).
Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs-
lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische
Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er-
blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des
geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei
allen Völkern, bei denen Avir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab-
zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber
keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu
ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche
einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann Avar aber wieder
der Xachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen
nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit
pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem
zu rechnen.
Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der
Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes
sagen. Es liegt keiu zwingender Grund vor zur Annahme, dass die
geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus
Verbreitung gefunden haben: die Möglichkeit verschiedener selbstän-
diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf
dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkem dürfte weitgehende
wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu
begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch
von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was
aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist
das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die
Frage als spruchreif erscheinen zu lassen.
Wir gehen nun an die Erörterung des zAveiten Lehrsatzes, der
vom geometi'ischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak-
teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der
Flechterei und Weberei. Dieser Satz galt seit Semper und Conze
als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nui' be-
scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die
■^) F. Hirth, China and the Roman Orient. — Bezeichnend ist es mit Bezug-
auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es
bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst-
historischem Gebiete zu ziehen.
]() Der geometrisehe Stil.
jüngste Zeit ein näheres Eingehen auf den ganzen Proeess. der von
den Textiltechniken zu den geometrischen Verzierungen auf den früh-
griechischen Vasen geführt haben mochte , für übertiüssig gehalten
wurde. Angesichts der streng wissenschaftlichen Methode, mit welcher
die klassische Archäologie unserer Tage arbeitet, ist die Autoritätsgläu-
bigkeit gegenüber dem in Rede stehenden Lehrsatze nur zu verstehen,
Avenn man den allgemeinen Zug der Zeit, die ül)ermächtige Strömung
der Geister in den letztverflossenen dreissig Jahren in Betr;ielir zieht.
Es ist die durch Lamark und Goethe angebalmte, durch Darwin zum
reifen Ausdruck gelangte Art der "Weltanschauung nach stoftlich-natur-
wissenschaftlichen Gesichtspunkten, die auch auf dem Gebiete der Kunst-
forschung schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat. Parallel mit
der Darlegung der EntAvicklung der Arten unter rein stoft'lichen Fort-
bildungsmotiven war man bestrebt, auch für die geistige Entwicklung
des Menschengeschlechts ursprünglich wesentlicli nmtcricHc IIel)el aus-
tindig zu machen. Die Kunst als augenscheinlich höhere Potenz einer
geistigen Entwicklung konnte ^ so meinte man ■ — nicht von Anbeginn
vorhanden gewesen sein. Zuerst Aväre die auf Erreichung rein praktischer
Zwecke gerichtete Technik da gewesen, aus der sich erst mit steigender
Entwicklung der Kultur die Kunst entfaltet hätte. Zu den ältesten
Techniken zählte man dit- Flechterei und Weberei, zu ilen ältesten
Verziernngs- oder Kunstformen die geradlinigen geometrisclien Figuren.
Da nun die geradlinigen geometrischen Figuren sich für die ^Musterung
einfacher Geflechte und Gewebe aus tcchnisclien Beciuendichkeitsgründen
ganz besonders eignen, lag es sozusagen in der Luft, beide Erschei-
nungen in causalen Zusammenhang unter einnnder zu bringen und zu
erklären: die geradlinigen geometrischen l-'ignreii sind urs]iriinglieli
nicht auf dem Wege künstlerischer Ertiiidimg. somleni (lin\-h die
Teclinik ;nif dem Wege einer generatio sp(iiit;nie;t iier\'()rgel>raeht.
Dies(' gei-adlinigen g(.'ometrisclien Ornamente sind ahei" nieiit die
einzigen auf den ältesten vor- und früligrieehischen Vasen: es konnnen
liiezu aucii Urnmndinige Gebilde: ^Velleiilinie. Kreis. Spii-.ile u. s. w.,
für deren Entstehung die Texiili'cliiiil<eii doch iiielii sn iilierzcugend
in's Feld geführt werden konnten. \\'\f li'ii' die ger;iillinigi'ii ( )rn.iMienle.
Dafür musste nun eine Anzahl .■inilerwciiiger Techniken herli.illen . J;i
man k.'inn sagen, dass es in den letzten zw.nizig .I.ihi'i'n. und /.wiw in
steig(;iidem Maasse, ein fnndannntales inethndisches Gesetz der klassi-
schen Archäologie gewesen ist. für Jedes Motiv, das man von einem
gewissen Punkte ans nielii mehi- im Wege lelmweiser Febern.ilmie n.icli
Der g'eometrisclie Stil. W
rückwärts vcrfolg-eii konnte, die Technik ausfindig- zu niaelien, die
sozusagen spontan, mit Ansschluss bewusst künstlerischer Erfindung-,
auf die Schaffung des betreöendeu Motives geführt haben mochte. Es
ist die Theorie von der technisch-materiellen Entstehung- der
künstlerischen Urformen, die zur schrankenlosen Geltung in der
Archäologie erhoben wurde und innerhalb Avelcher die Theorie von der
Entstehung- der geradlinigen geometrischen Ornamente aus den textilen
Techniken nur eine Unterabtheilung bildet , so Avie die geradlinigen
geometrischen Ornamente selbst nur einen Bruchtheil von sämmtlichen
nachAveisbaren primitiven Ornamenten. Mit einer Sicherheit, als Avenn
sie persönlich dabeigcAv^esen Avären und Material und Werkzeug des
kunsterAveckenden Urmenschen gesehen hätten, wussten die Archäologen
die textilen, die metallurgischen, die stereotomischen u. s. aa-. Techniken
für die einzelnen ZiermotiA^e auf den ältesten Vasen anzugeben. Eine
Unsumme A^on Arbeit Avurde an diese Versuche verscliAvendet, die Aer-
schiedensten Combinationen versucht , die verschiedensten Techniken
für ein und dasselbe Motiv ins Feld geführt, Avie sich dies bei der
Natur der Sache a^ou selbst A'ersteht. Und gleichAA'ie der Deutsche
Häckel Darwin's Theorie am konsequentesten und autoritatiA^sten aus-
gebildet hat, so Avaren es auch unter den Archäologen wiederum die
Deutschen, die hierin am entschiedensten a^ orangeschritten sind. Wie
weit sie hiebei über die Anschauung des eigentlichen Vaters dieser
Theorie, Gottfried Semper's, hinausgegangen sind, möge eine Stelle aus
dessen Stil IL 87 lehren, die ich im Wortlaute hieher setze:
Die Regel, dass die dekorative Ausstattung des Gefässes dem bei
seiner Ausführung anzuAvendenden Stoffe und der Art seiner Bearbeitung
entsprechen soll, „führt auf schwer zu lösende Zweifel über den tech-
nischen Ursprung vieler typisch gCAvordenen dekorativen Formen, über
die Frage, in Avelchem Stoffe sie zuerst dargestellt wurden, Avegen der
frühen Wechselbeziehungen und Einflüsse Avelche die Stoffe auf diesem
Gebiete, den Stil eines jeden unter ihnen modificirend, gegenseitig aus-
übten. So bleibt es dahingestellt, ob die Zonen A^on Zickzackorna-
menten, Wellen und Schnörkeln, die theils gemalt theils vertieft auf den
Oberflächen der ältesten Thongefässe fast überall gleichmässig vor-
kommen, ob sie die Vorbilder oder die Abbilder der gleichen flachver-
tieften Verzierungen auf ältesten Bronzegeräthen und metallenen Waflfen-
stücken sind, oder ob sie keinem a^ou beiden Stoffen ursprünglich an-
gehören. . . . Erst mit vorgerückter Kunst beginnt die bcAVusst-
volle Unterscheidung und künstlerische VerAverthung der
1'2 Dev g-eometrisclie Stil.
Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung"
sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge-
statten."
So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge-
lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts
die technischen. Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit
und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch
aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende
Thätigkeit der „Technik" im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten
der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge
des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung.
Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren
für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen.
Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein
unvergängliches Verdienst Gottfried Semper's bleiben. Wenn dieser
Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird,
so mag man dies aus dem Umstände erklären, dass ich mir eben die
besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Teclmik unverdienter-
maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf
anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst-
formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria-
listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung
abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin's und seiner
Xachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von 'der technisch-
materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der
archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen,
nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen
schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper's und Conze's, und
dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe
sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun
scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in
Sachen der Kunst iu dei- aiigedeutcicn K'ichtung ^•iel zu weit vorgewagt
haben, und dass gewichtige Bedciikm. die ich im Naclifolgeiiden ent-
Avickeln Averde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten
Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu
erklären, den Rückzug anzutreten.
Es wird sicli iu den folgeiulen Capiteln dieses Buches wiederholt
rJelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech-
nisch-materiellen pjrklärunyen und Ablcitniiiien einzelner Ornamente zu
Der geometrische Stil. 23
prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es
bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den
textilen Techniken zu thun.
Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils
aus den textilen Techniken hervorgegangen sein?
Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen
haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss-
mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht
hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213.
Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver-
tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt
er fort: „von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten
des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung
des Webeus, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern,
hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen
Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran-
lasste bald ihre Benutzung nach abAvechselnder Ordnung und so ent-
stand das Muster.^-
Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich
darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits
in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der
Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er
es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon-
kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten
hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak-
tors nicht zu läugnen vermag. „Die Verschiedenheit der natürlichen
Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abM^ech-
selnder Ordnung." Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster
in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste („veran-
lasste") Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in
rhythmischer Abwechslung („abwechselnder Ordnung") sodann zum
Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein
kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt.
Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung
in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten.
Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht,
werden wir weiter unten kennen lernen.
Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten
Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Faden verflech-
14 Dpi' geometrische Stil.
tmig-eii entstanden sein mochten, hat Semper, Avie sclion erwähnt wurde,
nicht versticht, und ebensowenig seine zahh-eichen Nachfolger, bis auf
die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekule"s mit denen Avir
uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Eaisonnement lautete
ungefähr folgendermaassen : Im Anfange Avar keine Kunst, sondern bloss
Handwerk (nicht in Avirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne
gemeint ). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht
und dem gCAvebten GeAA'ande kamen die geradlinigen planimetrischen
ZiermotiAe in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre
formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug.
Das ^laterial, mit AA-elchem man diese Theorie zu illustriren pflegt,
ist überwiegend ein keramisches, zum geringeren Theile ein metallur-
gisches. Thonvasen und Vasenseherljen , die man in A^orhistorischen
Schichten des Erdbodens fast aller Mittelmeerländer gefunden hat,
tragen überAA'iegend Ornamente des geometrischen Stils zur Schau.
Sollen diese Ornamente in der That unmittelbare Ableitungen aus den
textilen Verflechtungen und Fadenkreuzimgen sein, so müsste ihre Ent-
stehung in sehr, sehr frühe Zeit zurückgehen. Das Werden des Musters
aus dem Flechten und Weben soll ja am Anfange alles Kunstschaflcns
gestanden sein. Eeichen nun die keramischen Funde aus den Mittel-
meerländcrn in der Tliat auch nur annähernd in so frühe Zeit zurück?
Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren
Sinne galt, A^om Dipylon, Avird jetzt niemand mehr ein höheres Alter
behaupten. Ol) seine Verbreiter in Griechenland — nehmen wir an die
einAvandernden Dorer — diesen Stil in uuA^ordenklich früheren Zeiten
aus der Textilkunst erfunden haben, mag einstAveilen dahingestellt
bleiben. ZAveifellos ist das Dipylon des ersten Jahrtausends v. Chr.
kein primiti\^er, sondern ein Avohl überlegter, festgeschlossener, rafti-
nirter Kunststil. Ein Volk, das die Metalle zu bearbeiten verstand,
wird nicht erst die i»rimitivsten Ornamente aus der primitiA^sten Technik
(•rfunflen haben.
Aber die Ausgral;)ungen Schliemann's und AndiTcr haben uns l)e-
lehrt, dass das Dipylon bei Aveitem nicht der älleste geometrische Stil
bei den Mittelmeervölkern gcAvesen ist. Als solcher gelten gegenAvärtig
die gravirten Linienverzierungeu auf Gefässen, die in den untersten
Schichten A'on Hissarlik und in gcAvissen Nekropolen Cypcrns gefunden
wurden sind. Wie steht es nun mit dem Alter dieser GefässeV (ieniäss
den Fundbericliten ist auf d;is Zeitalter derselben alsbald der niyke-
nisclie Stil gefolgt. Dei' niykenischc Siil ist alx-r nach /icnilich siclu-r-
Der g-eometrische Stil. 25
gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etAva in
die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen
also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und
Hissarlik gewiss nicht Aveit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist
dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des
Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr-
tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die Aveit über das geo-
metrische Stadium hinaus gediehen AA^ar? Es ist eine ganz AAÜlkürliche,
durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen
auf den bisher getundenen mittelländischen Tlionscherben auf diese
letzteren A^on den Erzeugnisson der Textilkunst übertragen AA^orden
seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen
AA'ürde, in denen das erste Muster in die "Welt gekommen ist, steht uns
— etAA^a mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde
aus der Dordogne — heute nirgends zur Verfügung. ]\Ian kann an die
Theorie von der Textiltechnik als del' ältesten musterbildenden Technik
glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf
man nicht zur Illustration und zum BcAveise jener Theorie heranziehen.
Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische
Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon
Jahrtausende früher A'ollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan-
den sind.
Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der KulturfiUiigkeit
der Völker, — ein Unterschied der nur za einem Theile von den
äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen
sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder
selbst um 3000 \. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster
gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen Aväre
und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern
aufgerafft hätte, Avird man sich ebensoAA^enig entschliessen können, als
man die in den assyrischen Trünnnerstätten oder in Jerusalem ge-
fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch
in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare
Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger
als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern
Avird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und JVIetallfunde aus der
nord- und mitteleuropäischen Bronzezelt als Zeugnisse einer unmittel-
baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf
anderes Material ansehen dürfen, da diese Funde gemäss der sich immer
16
Der o-eometrische Stil.
mehr Bahn brechenden Erkenntnis^ noch jünger sind und zu den
mittelländischen vielfach im Abhäng-igkeitsverhältniss stehen.
Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin
sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Toxtil-Technik
vollzogen hat. nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den
Mittelmeerländern und Nordeuropa vor-
liegenden prähistorischen Funde uns das
älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden
repräsentiren , und dass nicht ebenda-
selbst in noch früheren Zeiten ein w^esent-
lieh anderes Kunstschaffen bestanden
haben könnte. Ja noch mehr: es giebt
Monumente, welche der Annahme, dass
der geometrische Stil in Europa der
älteste Kunststil gewesen wäre, direkt
/.; V .myx , ^a.^^^ widersprechen.
. ■■'-AwA ''M 1^1 Es ist heute über ieden Zweifel hiu-
' yß^/r ' j aus erwiesen, dass es menschliche Ge-
schlechter gegeben hat, die ein sehr be-
merkcnswerthes Kunstschaffen entwickelt
haben , ohne dass eine textile Technik
(mit Ausnahme des Zusammennähens
von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach-
gewiesen werden konnte. Der Schutz
des Leibes, den man als ein so elemen-
tares Bedürlhiss , als Bahnbrecher für
die erste älteste Technik, für die Textii-
kunst zu betrachten pflegt, wairde den-
selben augenscheinlich durch andere
Dinge gewährleistet, als dnrcli den ge-
flochtenen Pferch und (Uncli gewebte
Gewänder. Dieses Geschlecht von Men-
schen wolnite in Höhlen und bekleidete
sicli mit den Häuten der erlegten Jagd-
thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann
man daran erkennen, dass sie das Mark aus (hn Kimchen der erlegten
Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ilin-n eigenen Wolm-
höblen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannil)alismus, der uns da
entgegentritt. Die Iläutc wusstcii diese Ildlileiilx'wnlnicr zusaniininzu-
rig. 1.
iJolchgriff in lleuntbierknochcn geschnitzt,
Laugerie-Basse.
Der o-eometrische Stil.
17
nähen, wie zahlreich aufg-efmidene Nadeln aus Bein und Gräten be-
weisen; als Material hiezu dienten ihnen die Sehnen der Thierfüsse,
was sich ebenfalls aus den, an den Beinkuochen vielfach beobachteten
Einschnitten zur Evidenz ersehen lässt. Also das Zickzack als spontanes
Produkt der Naht könnte man ihnen allenfalls lassen, wenn sie nicht
nachweislich weit Grösseres und Vollkommeneres zu leisten im Stande
gewesen wären. Denn diese halben Kannibalen mit ihren roh zube-
hauenen, ungeglätteten Steinbeilen übten eine wirkliche und unan-
zweifelbare Skulptur.
Die Schnitzereien (Fig. 1) und Gravirungen (Fig. 2) in Thierknochen.
die man auf mehreren Punkten von Westeuropa, insbesondere in den
Höhlen Aquitaniens gefunden hat, und deren Echtheit angesichts der
Fig. 2.
Gravirter Reiinthierknochen. La iladeleine.
Überaus genauen und gewissenhaften Grabungen und i'undberichte
namentlich Lartet's und de Christy's zum grössten Theile ausser allem
Zweifel steht, sind schon eine Reihe von Decennien bekannt und ver-
öffentlicht^j. Bisher hat aber bloss die Anthropologie davon gebührende
Notiz genommen ; die Kunstgeschichte hat sie fast vollständig ignoriren zu
dürfen geglaubt. Ich gebe nun vollständig Georges Perrot Recht, wenn
er in der Einleitung zu seiner Histoire de l'art dans l'antiquite die
bezüglichen Kunsterzeugnisse als ausserhalb des Rahmens seiner ge-
schichtlichen Darstellung stehend erklärt und sich damit für berechtigt
hält, dieselben ausser Erörterung zu lassen. In der That haben die
aquitanischen Höhlenfunde mit der Entwicklung der antiken Künste,
■*) Vg'l. hiefür namentlich die Reliquiae Aquitanicae, ferner den
Dictionnaire archeologique de la Gaule, (aus welchem unsere Figg.2,
3 und 6 entlehnt sind), und die knapp zusammenfassende Bearbeitung von
dem besonnenen Alex. Bertrand: La Gaule avant les Gaulois , woraus
unsere Fig. 1.
Riegl, Stilfrageu. 2
Ig Der geometrische Stil.
soweit Avir sie geg'enwärtig überblicken, nichts Aiigenfälliji'es gemein.
Man nehme irgend einen von den ältesten geometrisch verzierten Thon-
scherben und wird daran mehr historische Beziehungspunkte zur späteren
hellenischen Kunst entdecken, als an den besten geschnitzten Handgriffen
und gravirten Thiertiguren aus der Dordogne. In letzterem Falle handelt
es sich also anscheinend um eine isolirte Entwicklung, isolirt wenigstens
in Bezug auf die späteren mittelländischen Künste. Was dagegen den
Gegenstand der Kunstgeschichte des Alterthums ausmacht, das sind
Erscheinungen, die entweder schon ursprünglich unter einander in
"Wechselbeziehungen gestanden sind, oder doch im Laufe der Entwick-
lung in einander Üiessen: Orient und Occident tauschen sich fortwährend
einander aus, und alles drängt unaufhaltsam zum Endziele der Ge-
sammtentwicklung der antiken Künste, zur Schaffung der hellenistisch-
römischen Weltkunst. Mit dieser letzteren haben die Troglodyten
Aquitaniens, soviel wir zu sehen vermögen, niemals, weder niittell)ar
noch unmittelbar, zu thun gehabt.
Lassen sich also genügend triftige Gründe finden, welche die von
der Kunstgeschichte des Alterthums den Ilöhlenfunden der Dordogne
Vüsher bezeugte Gleichgiltigkeit zu rechtfertigen geeignet sein könnten,
so ist dies keinesAvegs der Fall mit der Geschichte der technischen
Künste, der ja so viel und wesentliches an der Aufhellung der (an-
geblich rein technischen) Anfänge der Künste gelegen sein sollte. Da
haben wir Ja nun eine Kunst, die in völlig unmessbare Kulturperioden
der Menschheit hinaufreicht^). Von keinem der europäischen und west-
asiatischen Völker, bei denen man den geometrischen Vasenstil gefunden
hat, existirt ein genügender Grund zu der Annahme, dass dieselben
noch auf so barbarischer Kulturstufe gestanden wären wie die Troglo-
dyten Aquitaniens. Es hiesse nun gewiss den Forschern bitteres Un-
recht thun, die mit so viel uneigennützigem Eifer und peinlicher wissen-
schaftlicher Sorgfalt dem Studium dieser Fragen obliegen, wenn man
die Vermuthung äussern wollte, dass bloss die augenfällige Schwierig-
keit jene figuralen Schnitzereien uiul Gravirungcn mit der 'I'licorie
■) (Jb zur Zeit der Entstellung der bezüglichen Kunsterzeugnisse noch
das Manimuth in Frankreich hauste, oder nur das einer späteren Zeit angehö-
rige Rcnntliier. ist in diesem Fnlie ziemlich irrelevant. Dass diese paläolithische
„Steinzeit" weit hinter .jene Zeit zurückgeht, aus welcher die von der klassi-
schen Archäologie beliandelten vorgriechischen Funde geomctrisclien Stils und
vollends diejenigen der Bronzezeit stnnniicn. wird von Niemandem hcstritfcn
und ist geologisch festgestellt.
Der geometrisclie Stil. ig
von der technisch -materiellen Entstehung der Künste in Einklang- zu
bringen, das beobachtete hartnäckige Stillschweigen über diesen Gegen-
stand verschuldet hätte. Man betrachtete vielmehr diese Dinge offenbar
als eine isolirte bizarre Erscheinung, mit welcher man vorläufig nichts
anzufangen wusste, und für die sich vielleicht mit der Zeit und mit
fortschreitenden Ausgrabungen eine befriedigende Formel finden lassen
würde. Wir, denen Bedenken an der Allgemeingiltigkeit der Theorie
von der technisch-materiellen Entstehung der Künste von anderer Seite
her gekommen sind, haben alle Ursache, uns mit den bezüglichen
frühesten aller bisher aufgefundenen menschlichen Kunsterzeugnisse
näher vertraut zu machen. Wenn selbst ein so umsichtiger und das
Gebiet ornamentaler Erscheinungen allseitig überblickender Forscher
wie Sophus Müller sagen konnte: „eine Erklärung der paläolithischen
Kunst wird sich wegen des spärlichen Materials nie über unsichere
Hypothesen erheben können"^), so haben Avir darauf die Erwiderung,
dass uns da Avenigstens ein Material überhaupt vorliegt, und wäre es
ein noch spärlicheres als es in der That ist, 'wogegen die beliebten
technischen Ableitungen der Urmotive vollständig in der Luft hängen,
da doch das Material, auf welches sie sich zu stützen vermöchten,
nicht entfernt in jene Zeit zurückreicht, in welcher sich die Entstehung
der „Urmotive" vollzogen haben muss. W^eleher Art sind nun die von
den halbkannibalischen Troglodyten Aquitaniens hinterlassenen Kunst-
erzeugnisse gewesen?
Den besten und bequemsten Überblick über dieselben gewinnt
man dennalen im ]Musee des antiquites nationales im alten Schlosse von
Saint Germain en Laye, wo sie sich, sei es in Originalien, sei es in Ab-
güssen, fast vollständig zusammengestellt finden. Material ist fast aus-
schliesslich der Thierknochen, und zwar überwiegend Rennthierknocheii,
die Technik Schnitzerei oder Gravirung. Da ist es nun überaus lehr-
reich zu beobachten, in welchem Verhältnisse die beiden Techniken,
Schnitzerei und Gravirung, an diesen ältesten aller bisher gefundenen
Kunstdenkmäler der Menschheit zu einander stehen. Sehr häufig be-
gegnet uns das volle Rundwerk, z. B. ein Rennthier als Griff einer
Waffe, etwa eines Dolches (Fig. 1)'). Das gleiche Motiv kehrt sogar öfter
'^) Thierornamentik im Norden 177.
') Die g-rösste Beaclitung- verdient hiebei die wohlüberlegte und doch
nicht gegen die Natürlichkeit verstossende Art, in welcher die Extremitäten
des Thieres an den Rumpf angelegt erscheinen; das Stück ist übrigens nach
Lartet in unvollendetem Zustande geblieben.
2*
20 Der geometrische Stil.
wieder. Dann haben wir eine ganze Stufenleiter von Entwicklungs-
phasen, in denen sich der plastische Charakter allmälig verflüchtigt:
zunächst ein flach gehaltenes RundAverk, dann ein mehr oder minder
hohes Relief, ein Flachrelief, und endlich die blosse Gravirung (Fig. 2),
die häufig mit dem Flachrelief zusanmien entgegentritt, indem eines
in das andere übergeht.
Es entspricht dies völlig dem natürlichen Processe, den wir uns
schon am Eingange dieses Capitels in rein spekulativer Weise konstruirt
haben. Die unmittelbare Reproduction der Naturwesen in ihrer vollen
körperlichen Erscheinung, im "Wege des durch einen weiter unten zu be-
zeichnenden psychischen Vorgang zur Bethätigung angespornten Nach-
ahmungstriebes, steht hiernach am Anfange alles Kunstschaff'ens: die
ältesten Kunstwerke sind plastischer Natur. Da man die Naturwesen
immer nur von einer Seite sieht, lernt man sich mit dem Relief be-
gnügen, das eben nur so viel vom plastischen Scheine wiedergiebt, als
das menschliche Auge liraucht. So geAvöhnt man sich an die Darstel-
lung in einer Fläche und gelangt zum Begriffe der Umrisslinie. Endlich
verzichtet man auf den plastischen Schein vollständig, und ersetzt den-
selben durch die Modellirung mittels der Zeichnung.
Das wichtigste Moment in diesem ganzen Processe ist zweifellos
das Aufkommen der Umrisslinie, mittels welclier man das Bild eines
Naturwesens auf eine gegebene Fläche bannte. Iliemit war die Linie
als Element aller Zeichnung, aller Malerei, überhaupt aller in der
Fläche bildenden Kunst erfunden. Diesen Schritt hatten die Troglodyten
Aquitaniens bereits weit hinter sich, trotzdem ilnien die Fadenkreu-
zungen der Textilkunst wegen Mangels eines Bedürfnisses nach den
Plr^eugmissen derselben noch völlig fremd gewesen sein müssen. Das
technische Moment spielt gewiss auch innerhalb des geschilderten Pro-
cesses eine Rolle, aber beiweitem nicht jene führende Rolle, Avie sie ilnn
die Anhänger der technisch -materiellen Entstehungstheorie vindit-iren
möchten. Der Anstoss ging vielmehr nicht von der Technik, sondern
von dem l)estiiiimt('n Kunstwolh'ii aus. INFaii wollte das Abliihl eines
Naturwesens in todlem Matei'ial schaffen, und erfand sich hierzu die
nöthige Technik. Zum Zwecke des handsameren Greifens Avar die
Rundfignr eines Rcnnthiers als Dch-hgrilf gewiss nicht notlnvendig.
Ein immanenter künstlerischer Tri<li, der im Menschen rc^c und ii.icli
Durchbruch ringend vorhanden war yny ;dlei- lOrtindung texliler Scliutz-
wehren für den Körper, musst«- ihn ilazu gcriihil haben den beinernen
Griff in l'Virm eines Rennthien-s zn biklcn.
Der geometrische Stil. 21
Bevor Avir aber das Wesen dieses Triebes nälier zu bezeiclinen
suclien, empfiehlt es sich, bei dem geschilderten Entwicklungsgang der
Flachverzierung aus dem Plastischen noch einen Augenblick zu ver-
weilen, um darzuthun, dass damit eigentlich gar nichts so Unerhörtes
vorgebracht wurde.
Eine Bestätigung für das Gesagte bietet nämlich einmal auch das
Studium der altegyptischen Kunst, d. i. jener Kunst, die weiter als
irgend eine andere unter den antiken Künsten in die verflossenen Jahr-
tausende der Menschheit hinaufreicht. In bemaltem Relief en creux sind
die Bildwerke in den Gräbern des alten Reiches ausgeführt; erst in der
Kunst des mittleren Reiches, in den Felsengräbern von Beni Hassan be-
gegnen wir reinen figürlichen Flachmalereien, wenngleich der Übergang
zu den letzteren schon im alten Reiche sich vorbereitet hat. Aber auch
die Betrachtung der Kunstgeschichte im Allgemeinen lässt sich zur Be-
stätigung heranziehen: Seit den Tagen des Phidias ist die Skulptur
niemals mehr zur gleichen Blüthe gediehen, weil schon seit hellenistischer
Zeit immer ein mehr oder minder starkes malerisches Element in der
Skulptur sich geltend gemacht hat, und zwar entsprechend dem allge-
meinen Zuge der Zeit und ihrer Kunst mit eiserner Naturnothwendig-
keit sich geltend machen musste. Dass es auf diesem Wege keine Umkehr
giebt, dass Alles' auf die Vervollkonnnnung der darstellungsfähigeren
Malerei hindrängt, lehrt zur Genüge die moderne Kunstentwicklung.
Die Techniken, welche an den Erzeugnissen der Troglodyten Aqui-
taniens zu beobachten sind, gehören nicht specifisch dem sogen. Kunst-
handwerk, sondern vielmehr der sogen, höheren Kunst (Figuralskuli)tur)
an, wodurch freilich das Sinnlose und Ungerechtfertigte, das in dieser
Scheidung vom wissenschaftlichen Standpunkte ans liegt, erst recht
augenfällig wird. Das Gleiche bestätigt uns die Betrachtung des Inhalts.
Wie schon erwähnt, handelt es sich hiebei vorwiegend um Reproduc-
tionen von Naturwesen, nicht um bedeutungsarme „bloss ornamentale"
Flächenfüllungen. Die Thiere, die dem Menschen zur Nahrung dienten,
oder mit denen er im Kampfe lebte, hat er auf seinen Geräthen bildlich
dargestellt: Rennthier, Pferd, Bison, Steinbock, Rind, Bär, Fisch. Auch
ihn selbst, den Menschen, finden wir, sowohl gravirt als in Rundwerk,
aber weit unbeholfener als die Thierbilder wiedergegeben: eine Erschei-
nung die wir in primitiven' Künsten allenthalben Avahrnehmen können.
Wenn man also bisher gewöhnlich die rein zwecklichen Techniken
der Textilkunst an den Beginn des menschlichen Kunstschaffens gestellt
hat, so widersprechen dem die Höhlenfunde der Dordogne in der aller-
22 Der geometrische Stil.
■bestimintes.ten Weise. Wir tretfen hier gerade diejenig'en Techniken,
bei denen der Gegenstand der Darstellung-, der künstlerische Inhalt von
vornherein gegeben sein mnss, bevor derselbe aus dem todten ^Material
herausgearbeitet werden kann. Der Zweck aber, um dcssent willen
dem Material die beschriebenen thierischen Formen, sei es in plastischer
sei es in flacher Ausführung, gegeben wtirden, kann unmöglich ein
anderer als ein rein künstlerischer, ornamentaler gewesen sein. Man
wollte das Geräthe schmücken. Das Schmuckbedürfniss ist eben
eines der elementarsten Bedürfnisse des Menschen, elementarer als das-
jenige nach Schutz des Leibes. Es ist dies ein Satz, der hier nicht
zum ersten ^lale vorgebracht Avird und zu dem sich auch Semper
wiederholt ausdrücklich bekannt hat^). Um so unbegreiflicher muss es
erscheinen, dass man trotzdem die Anfange des Kunstschaffens erst
nach den Erfindungen der Techniken, die den Schutz des Leibes zum
Zwecke haben, setzen wollte. Sehen wir doch heute noch manche
polynesische Stämme jedAvede Kleidung verschmähen, aber die Haut
von der Stirne bis zu den Zehen tätoAviren, d. i. mit linearen Ver-
zit-rungen schmücken'-^). Leider feldeii uns die Mittel um zu entscheiden,
ob die Troglodyten Aquitaniens ihre Haut gleichfalls tätoAAärt haben;
auf den erAväliuten Xachbildungen von menschlichen Figuren von ihrer
Hand lässt es sich nicht nachAA'eisen. Dass sie aber Schmuckgehänge
trugen, ist durcli Funde sichergestellt. Denn zu Avelch' anderem ZAvecke
als zu demjenigen, etAA^a auf eine Sehne oder einen Baststreifen aufge-
reiht um den Hals getragen zu Averden, konnten die durchlöcherten
Rinder- und Bärenzähne, zum Tlieil gleichfalls mit graAii-teii Tliier-
*) An jener obcitirten Stelle Stil I. 21o: „Die Kunst des liekleidens der
Nacktheit des Leibes (Avenu man die Bemalung- der eig-enen Haut nicht
dazu rechnet) ist A'ennuthlich eine jüngere Erfindung als die Beniitzung
deckender Oberflächen zu Lagern und zu räumlichen Abschlüssen." — IL 466
. . . „der Schmuck des eigenen Leibes aus kulturphilosophischen Gründen den
Schönheitssinn zuerst zu aktiver Bethätigung auffordert. "
•') Einen Widerspruch mit Semper's eben erörterter Annahme begründet
es, Avenn er I. 92 sagt: „Die Ornamente auf der Haut dieser Völker sind ge-
bildet aus gemalten oder tätOAvirten Fäden" . .. Diesen Widerspruch mildert
er dadurch, dass er das TätoAviren möglicherAveise nicht für die Eigenthüm-
Jichkeit eines primitiA'Cn, sondern bereits eines sekundären Kulturzustandes
erklärt, welche Annahme liinAviederum nur zulässig erscheint miter der bei
Semper öfter Aviederkehrcnden Idee A^on einem ursprünglichen \'olikommen-
lieitszustand des Menschengeschlechts. Wie verträgt sich aber diese letztere
Idee Aviederum nnt der Descendcnzthcorie und der ihr ])arallel gehenden
teclinisch-matericllcn Entstehxuigstheorle der Künste?
Der g-eometrische Stil.
23
bildern bedeckt, gedient luibeu, deren man eine ganze
Anzahl in den Höhlen gefunden hat? Hier begegnen
wir bereits der Reihung als elementarem Kunstgesetz,
uiid nicht erst bei den regelmässigen Fadenkreuzungen
der Textilkunst, die der Höhlenmensch noch nicht ge-
braucht hat, weil ihm das Bedürfniss darnach augen-
scheinlich noch mangelte. Und das Gleiche gilt von
der Symmetrie. Es ist schon Lartet und Bertrand auf-
gefallen, dass auf einem Geräthe, das ersterer für einen
Marklöffel hält, sich symmetrisch vertheilte Relieforna-
mente finden"'). Aber wir begegnen an den Erzeug-
nissen des aquitanischen Höhlenmenschen auch solchen
Verzierungen, die reiner Rhythmus und abstrakte Sym-
metrie sind, d. h. den linearen Verzierungen des geo-
metrischen Stils.
Wir gewahren auf gravirten Rennthierknochen die
Zickzacklinien (Fig. 3)"), das sogen, Fischgrätenmuster,
dieses letztere mit der rhythmisch bereicherten Variante,
dass beiderseits Lagen von je drei Stricheln miteinander
alterniren, netzartig gekreuzte Linien (das scheinbar
textilste aller Muster), gereihte liegende Kreuze u. a. m.
Da haben wir es offenbar nicht mit Abschreibungen aus
der Natur zu thun: es sind rein omamentale Gebilde,
bestimmt eine gegebene Fläche zu verzieren. Die Be-
stimmung war dictirt von dem gleichen Schmuckbedürf-
niss oder horror vacui, AAie die Thierbilder. Zu beachten
bleibt aber hiebei, dass diese geometrischen „Muster"
den Thierbildern an Zahl beträchtlich nachstehen. Wer
diese Bevorzugung des Thierbildes nicht für zufällig
halten will, dem muss sich schon daraus eine Priorität
der Entstehung desselben gegenüber den geometrischen
„Mustern" und die überwiegend plastische Tendenz des
Fig. 3.
Marklöft'el aus
Rennthierkuoclien ,
mit gravirten
Verzierungen.
Laugerie Basse.
^°) La Gaule avant les Gaulois G6: . . . „porte des onienients en relief
disposes symmetriquement et d'un tres hon g'oüt".
'') Die bisherig-en Publikationen haben den geometrischen Verzierungen
dieser Höhlenfunde beg'reiflichermaassen weit weniger Beachtung* g'eschenkt,
als den verblüffenden plastischen Gebilden. Unsere Fig. 3 giebt das verhält-
nissmässig- beste unter den im Diction. arch. de la Gaule publicirten Stücken
wieder: unter den Funden selbst befinden sich aber weit besser und strenger
gezeichnete Muster, als das vorliegende flüchtis'e Zickzack.
24 Dei' geometrische Stil.
primitiven menschlichen Kunstschatt'enstriebes ergeben. Wie kam man
nun auf die Eründung dieser „Muster"'? Die Halm- und Fadenkreu-
zungen derTextilkunst, die angeblich hätten ein Vorbild abgeben können,
■waren den Leuten augenscheinlich noch unbekannt. Es ist aber jL::ar
nicht einzusehen, warum man derselben zu dem Zwecke überhaupt
bedurft hätte. Wie die Troglodyten zur Erfindung der Linie als des
Elementes aller Flächenzeichnung und Flächen Verzierung von der
Plastik her gelangt sein mochten, haben Avir ja oben gesehen. Es ist
dies offenbar im natüi'lichen Verlaufe eines überwiegend künstlerischen
Processes geschehen. Das Element der Linie also kannten die Höhlen-
menschen bereits; es bedurfte nur der Zusammenstellung derselben
nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie die beide, wie wir
gleichfalls gesehen haben, den Troglodyten nicht minder bekannt und
vertraut Avaren. Wer Bärenzähne zum Schmucke neben einander reiht,
Avird dasselbe mit graA'irten Linien zu Stande bringen. Der geometrische
Stil bei den Troglodyten Aquitaniens erscheint hienach nicht als
materielles Produkt einer handwerklichen Technik, sondern als reine
Frucht eines elementaren künstlerischen Schmückungstriebes.
Die gesammte Kunstgeschichte stellt sich ja dar als ein fortge-
setztes Ringen mit der Materie; nicht das Werkzeug, die Technik ist
dabei das Prius, sondern der kunstscli äffende Gedanke, der sein Ge-
staltungsgebiet erAveitern, seine Bildungstahigkeit steigern Avill. Warum
soll dieses Verhältniss, das die gesammte Kunstgeschichte durchzieht,
nicht auch für ihre Anfange gelten?
Was wir also über das Kunstschaffen der ältesten, in iliren Kultur-
überresten uns bekannt gcAvordenen, anscheinend noch auf halbkanni-
balisclier EntAvicklungsstufe gestandenen Vcilker Avissen, das ZAvingt uns
nicht bloss in keiner Weise, eine techniscli-matericllc Entstehung der
Künste und insbesondere der Zierfornu-n des geometrischen Stils an-
zunehmen, sondern es Aviderstreitet sogar direkt einer solchen Annahme.
Angesichts dieses Resultates dürfen AAär es AVohl unterlassen, uns
im Wege spekulativ<'r I^rA\;iguiig den Process veransch.nilichcn zu
tracliten, wie denn etAva doch das eine oder antlere geonu-trisclie .Motiv
mittels einer Textilteehnik si)ontan hervorgelu-aclit und zur l'bertragung
auf anderes Material mittels einer anderen Technik l)ercitgestellt Avurden
sein konnte. Dass zur Erklärung der Entstehung aller geometrischen
Ornamente die textilen Techniken allein nicht ;nisr('ichen, Avurde schon
mehrfach eingesehen, und man hat zu diiu ]',( hufc aucli ;indere Tech-
niken, insljcsondcre die ciinT \ ci-liiilinissmässig vorgeschrittenen Knltui--
Der geometrische Stil. 25
stufe augeliörigen Metalltechniken herangezogen. Auf einzelne Ver-
suche dieser Art zurückzukommen wird sich in den folgenden Capiteln
wiederholt Gelegenheit bieten. An dieser Stelle, wo auf die aller-
dings Aveitaus im Vordei'grunde der ganzen Controverse stehenden tex-
tilen Techniken allein Bezug genommen Avurde, obliegt es uns noch,
uns mit dem einzigen Versuche zu beschäftigen, der bisher gemacht
worden ist, um die Übertragung der geometrischen Ziermotive von den
Textiltechniken auf ein anderes, und zwar auf das keramische Gebiet,
in greifbarerer, über bloss allgemeine 4T-^fstellungen hinaus gehender
Weise zu erklären.
Kekule hat in der Juli-Sitzung der Berliner Archäologischen Ge-
sellschaft vom J. 1890 eine vorläufige Mittheilung ül)er den „Ursprung
von Form und Ornament der ältesten griechischen und vorgriechischen
Vasen" gemacht, welcher eine ausführlichere Darlegung folgen sollte.
Bis jetzt ist es bei dem im archäologischen Anzeiger von 1890 S. 106 f.
abgedruckten Sitzungsberichte geblieben, und da im engen Rahmen
eines solchen leider nur für allgemeinere Bemerkungen Platz war, muss
auch ich mich im Folgenden auf Gegenbemerkungen allgemeinerer
Natur beschränken.
Kekule ging aus von der Beobachtung der Ethnologen, wonach die
Korbflechterei der Töpferei Aveit vorausgegangen Aväre. Da er nun fand,
dass „innerhalb des sogen, mykenischen Stils, bei den sogen. Dipjion-
und den kyprischen Vasen u. dgl., bei den altrhodischen, melischen Thon-
gefässen u. s. w. korbartige Formen und korbgeflechtähnliche Orna-
mente, oft auch beide zugleich sich erkennen lassen", so schloss er
daraus, dass „die ersten bestimmenden Vorbilder für die Vasen leib-
haftige Körbe, für ihre Ornamentik Korbflechtmotive" Avaren. Fast
noch mehr Gewicht als auf die Abstammung der geometrischen Orna-
mentmotive von den Korbflechtmotiven scheint Kekule auf die Formen
der Vasen zu legen, die er unmittelbar von Körben entlehnt sein lässt.
Das geflochtene Material, auf das er seine diesbezüglichen Beobachtungen
stützt, ist naturgemäss fast durchweg neuerer Entstehung, aber sehr
umfassend und reichhaltig.
Was zunächst die zur. Voraussetzung gegebene Beobachtung der
Ethnologen betrifft, so mag dieselbe vielleicht richtig sein; ausgemacht
ist sie sicher nicht. Ich für meinen Theil mache mich sofort anheischig,
in Nachahmung der hohlen Hand oder einer ausgehöhlten Kürbishälfte
aus angefeuchtetem Thon eine Trinkschale aus freier Hand schlecht
und recht zu formen, Avogegen ich in Verlegenheit käme, Avenn man
26 Der geometrische Stil.
mir zumuthete einen Korb zu flechten. Auch dürfen die Körbe, die da
zum Beweise herangezogen Averden, nicht so ohne weiteres als „Urkörbe",
als Erzeugnisse einer primitiven Korbflechterei angesehen werden. Es
giebt eine KiTurü^t-Korl^flechterei ebenso wie eine Kunstkeramik: dieser
Kunst -Korbflücliterei mit ihren schrägen und complicirten, durchaus
nicht rein durch die Technik bedingten Verflechtungen gehören Avohl
auch die von Kekule angeführten exotischen Korbflechtereien an, deren
Schönheit iind Stilgefühl er gewiss mit Recht rühmt. Aber nehmen
wir in der That an, dass die Menschen früher Körbe geflochten als
Thongefasse geformt hätten. Hatte man sich bei der Bereitung dieser
letzteren in der That bloss an Körbe als Vorbild zu halten, oder lagen
nicht andere Vorbilder zu dem Zwecke nälier? Thongefasse dienten
zum Unterschiede von den Körben namentlich zur Fassung und Autbe-
wahrung flüssiger Stofte. Die Vorbilder hiefür in der Xatur und aller
"Wahrscheinlichkeit nach die Vorläufer in dieser Funktion waren die
hohle Hand und Fruchtschalen, Avodurch man von vornherein auf rund-
liche Formen hingewiesen Avar, ohne dass es hiefür der Analogien der
Körbe bedurft hätte. Schon die Handsamkcit erforderte beim Thon-
gefäss die Eundung, all dies natürlich vor der Erfindung der Dreh-
scheibe, die vollends aus der Rundung ein „technisches" Postulat ge-
macht hat. Bei Körben waren sogar viereckige Formen viel natürlicher
als beim Tliongefäss. Hier ist der Punkt, wo ich es bedauere, dass der
mir vorliegende Sitzungsbericht Kekule's Gedanken nur so auszugs-
Aveise Aviedergiebt. "Wenn da gesagt Avird: „im JMaterial des Tliones sind
gerade so gut andere zweckentsprechende Gefässformen denkbar, als
die, Avelche gcAvälilt und ausgebildet Avorden sind, und die ästhetischen
Ausdeutungen, Avelclie man Acrsucht hat, reichen zur Erklärung nicht
aus", so kann ich dem gegenüber aucli nur im Allgemeinen bemerken,
da.ss gerade die bezügliclie Partie aus Semi)er"s Stil, auf Avelche im
Obigen offenbar angespielt ist, mir immer nocli als eines der überzeu-
gendsten Capitel seines Werkes gilt, namentlich um des Umstandes
Avillen, dass A'on Semper hiebei keineswegs bloss „ästhetische Ausdeu-
tungen" versucht, sondern auch das statische Erfahrungsnioment in
reclit sinnfälliger und überzeugender Weise berücksichtigt Avorden ist.
ZAveifellos hat Kekul6 bei der Enunciation des obigen Satzes ganz be-
stimmte Beobachtungen im Auge gehabt, \'on denen es höchst er-
Avünscht Aväre, dass er sie in vollständigerem Maasse zur allgemeinen
Kenntniss brächte. Denn die ZAvei einzig<-ii Beweispunktc dii' er daselbj^t
A'orbringt, sinfl un>eli\\ii- zu eutkräfteu. Es heisst nämlieh Aveiter: „Beim
Der g-eometrische Stil. 27
Korbflecliten ist es z. B. etwas Natürliches, class man den runden, oben
offenen, nach unten sich verengenden Haupttheil kleiner wiederholt
und, ihn umstülpend, als Fuss verwendet; dass man ihn ein zweites
Mal wiederholt und mit einem aus Bastenden gewundenen Knopf ver-
sehen als Deckel oben aufsetzt — für den Töpfer liegt an sich kein
Grund vor, gerade diese Formen zu Avählen." Dem gegenüber ist erstens
zu bemerken, dass mit einem Fussring versehene Vasen eine höhere
Standfähigkeit besitzen als solche ohne Fussring, also das Vorhanden-
sein dieses letzteren am Korb wie an der Vase durch einen unmittelbar
gegebenen praktischen Zweck gefordert war. Zweitens, dass es zwar
für uns schM'Cr hält, uns heute in den Gedankengang des primitiven
Töpfers hineinzufinden, dass es aber nicht minder schwer hält, sich
auszudenken, wie er den Deckel anders, auf eine dem Töpfer natür-
lichere Weise hätte machen sollen. Ebenso wenig einleuchtend ist mir
die darauffolgende Bemerkung, dass „auf die flachrundlichen Henkel-
formen Avelche z. B. bei den altböotischen Schalen auffällig sind, kein
Töpfer je selbständig gekommen sein kann."
SoAveit von den Formen der ältesten Vasen in ihrem Verhältnisse
zu den Körben. Was aber uns im vorliegenden Falle noch mehr in-
teressirt, das ist die Ableitung der gangbarsten Ornamentmotive der
Vasen von Korbflechtmotiven. Leider sind Kekule's diesbezügliche
Ausführungen im Einzelnen noch kargere als hinsichtlich der Formen.
„Bei vielen Henkeln weist das Ornament schon äusserlich ganz unzwei-
deutig auf den Ursprung hin." Das ist noch die speciellste Bemerkung
im ganzen Berichte; man hat dabei offenbar an die in gewundener
Strickform plastisch modellirten oder in ähnlicher Weise bemalten
Henkel zu denken, wie sie sich mehrfach, aber keineswegs an den aller-
frühesten, wirklich prähistorischen Vasen, z. B. auf den Schnabelkannen
und anthropoiden Gefässen, vorfinden. Dass gelegentliche Uebertragungen
von einem Gebiete auf das andere möglich waren und stattgefunden
haben mögen, wird auch kein Besonnener in Abrede stellen; aber die-
selben sind eher das Produkt einer reiferen, raffinirteren, mit dem Eeich-
thum der technisch zu bewältigenden Formen spielenden Kunst, als das
imitative Nothprodukt einer aus den Anfängen sich emporringenden
Kunstübung. Und hier muss ich dasselbe wiederholen, was ich schon
früher (S. 15) nachdrücklich hervorgehoben habe: fast das gesammte
Vasenmaterial, das uns heute zur Verfügung steht und das auch Kekule
zum Substrat seiner Untersuchungen gedient hat, ist ein verhältniss-
mässig spätes, mit der Urzeit sich gar nicht mehr berührendes. Wie
28 Der g'eometrische Stil.
soll in einer Zeit wie der mykenischen, die Metalle zu inkrustiren ge-
wnsst hat, Eaum sein für eine nachahmende Üliertragung- von Formen
und Ornamenten von den Produkten des primitivsten Kunsthandwerks?
Und auf die niykenische Kunst folgt erst das Dipylonl Selbst Avenn
sich zur Evidenz nachAveisen Hesse, dass die bezüglichen Formen und
Ornamente nur auf geflochtenen Körben in die Welt gekommen sein
konnten, müsste ein so zähes atavistisches Festhalten an denselben in
der Keramik von der supponirten Primitivzeit bis in die glänzenden
Jahrhunderte niykenischer Kultur wunderbar erscheinen. Wir haben
aber ..Korbflechtmotive" auf Beinschnitzereien eines Volkes gefunden,
dem die Textilkunst augenscheinlich fremd und nicht Bedürfniss Avar,
und ebenso haben AA'ir auf dem Wege rein spekulatiA^er Schlüsse ge-
funden, dass die plauimetrischen Liniencombinationen nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie nicht erst des materiellen Anstosses
einer geflochtenen Matte bedurften, um in die Welt zu kommen.
Wenn ich also bekennen darf, dass Kekules Ausführungen
Avenigstens in dem beschränkten Ausmaasse, in dem sie bisher in die
Öffentlichkeit gedrungen sind, mich nicht überzeugt haben, so T)in ich
doch weit davon entfernt, den aufklärenden Fortschritt der in den lie-
züglichen Untersuchungen Kekule's liegt, nicht in aller gebührenden
Bedeutung zu Avürdigen. „Man hat öfter das Vorhandensein eines Zier-
formenschatzes angenommen, AA^elcher freilich vorAAiegend technischi'U
Ursprunges sei und hauptsächlich auf die Technik der Weberei, chvu-
falls auch auf die des Flechtens und Stickens zurückAveise. Dazu
kommt dann die Bronzetechnik und aus diesen A-erschiedeneii Tccliiiikcn
entsteht eine verAvirrende Zahl einzelner Ornamente und Ornament-
systeme, Avelche als Erbtheil einzelner Volksstämme oder irgendAvie
sonst nach und nach zu einem abstrakten Formenschatz zusannnen-
getragen Averden und zu beliebiger A'crAvciulung bereitstellen. Dieser
abstrakte Formenschatz soll dann ganz äusserlich nach Belieben auf
den Überzug der Tliongefässe üb(>rtragen Avorden sein." Di«^ Verur-
tlieilung der /waiizigjiilirigcn Teclmikciijagd, die in diesen AVurten
Kekules liegt, bedeutet den namhaftesten Fortschritt auf diesem Gebiete
der klassischen Archäologie, der seit dem Tage gemacht Avorden ist, da
Conze uns über die Bedeutung der „geometrisclien'' Klasse unter den
frühgriechischen Vasen zum erstenmale aufgekl.iit li.ii.
Es bleibt noch die Frage zu beantAvorten, wanini denn gerade an
den Produkten der textilen Teclmiken, der Fh'cliterei und der AVeberei,
das bloss geometrische Mn>^trr. (Ijc lincircii \'ei-/iei'iinM('ii sieh so h.Mrt-
Der geometrische Stil. 29
nackig-, bis auf den lieutigen Tag, erhalten haben. ZAveifellos weil
diese Muster den textilen Teclniilven am besten entsprechen, oder besser
gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die
eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament-
lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun-
dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch-
liche Kunstwollen erscheint el)en von Anbeginn unablässig darauf
gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb,
namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende
geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die
spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man
daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren,
also an Theilen, die nicht in's Auge fallen, sondern nur zur Trennung
oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend
die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht
infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil
es eben die am leichtesten und einfachsten darstellljaren ^lotive waren.
Die „geometrischen" Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in
der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die
angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be-
treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm-
lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute
zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den
Geräthen der aquitanischen Höhlenl)ewohner vor Augen haben, zuerst
in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die
Haut tätowirt Avorden sind.
Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so
Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die flguralen Schnitzereien
und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen.
Bronzezeit gefolgt sein sollen'-). Nachdem man einmal zur Kenntniss der
'2) Einen analogen Vorgang- glaubt Hjalmar Stolpe in der Ornamentik
gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung-
der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung
derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge-
wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und
rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe-
dischen Zeitschrift „Ymer" und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil, der
Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang
Stolpe's, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen
30 Der geometrische Stil.
Linie und zu plauimetrischen Combinationen derselben nach den Reg"eln
von Rhythmus und Symmetrie gehängt war, Uisst sich ganz gut einsehen,
warum man gerade diese zunächst mit überwiegender Vorliebe zur
Flächenverzierung' verwendet hat. Diese Combinationen Avaren eben
weit leichter 'hervorzubringen als Schattenrisse von Thier und Mensch.
Für letztere Avar übrig:ens immer noch Platz im plastischen Kunstschaffen.
Aber auf den zahlreichen, insbesondere keramischen Geräthen und Ge-
tässen, deren eine steigende Civilisation bedurfte, mochte man sich gerne
mit einfacheren, leichter darstellbaren Vcrzierung-en begnügt haben, und
dies Avaren die geometrischen, Avie sie erst der ritzende Griffel und dann
A'^ollends leicht der malende Pinsel auf die ThonA^asen brachte. Erst
die nächste grosse Stufe der kunsthistorischen EntAAdcklung brachte
den Menschen dazu, den geometrischen Stil zu Aderlässen oder doch auf
die geAvöhnlichste Dutzendwaare zu beschränken. Diese nächste Stufe
ist bekanntlich u. a. besonders charakterisirt durch das Aufkommen
pflanzlicher OrnamentmotiA^e. Da ist es nun unter Hinblick auf das
A-orhin Gesagte überaus lehrreich zu sehen, dass man sofort, nachdem
einmal die Pflanze unter die Zierformen aufgenommen Avar, sich l>eeilt
hat, dieselbe (Lotus!) zu geometrisiren, offenbar um der Vortlieile Avillen,
die eine planimetrischc Gestaltung l)ei der technischen Durchführung
und künstlerischen VcrAverthung mit sich brachte. Anscheinend noch
früher als das Ptlanzenbild hat das Thier- (und Menschen-) Bild sicli
eine gelegentliche Umsetzung in den geometrischen Stil gefallen lassen
müssen. Dass diese Umsetzung keinesAvegs immer nur ein Produkt
der Noth, ein Ausfluss der Ohnmacht, Besseres zu schaffen, gcAvesen ist,
lehren zur Genüge die vorhin betrachteten Leistungen der Troglodyten,
bei denen das Thier- Avie das Menschenbild unter unverkennbarem Be-
streben, der realen Erscheinung in der Silhouette möglichst nahezu-
kommen, entworfen ist. Die geometrischen Stilisirungen von .Mensch
und Thier sind also Avohl ursprünglich bewusste Umsetzungen dieser
Figuren in das lineare Schema gcAvesen, ebenso Avie die geometrischen
Ornamente bcAvusste Combinationen der Linie nach den Gesetzen von
Symmetrie und l>'liytlnnus. Darum ist es auch verfehlt, Avenn man —
wie es häutig zu geschehen pflegt — geometrisirte figürliche Dar-
und die grossen universale» Fragen vorlilulig ruhen zu lassen, schehit mir
auf ctlinograi»hischeni Gebiete, avo bisher nur wenig und ziemlich systemlos
in Dingen, die die Kunst betreffen, gearbeitet wurde, der einzig richtige.
Seine in dem citirten Aufsatze niedergelegten Forschungsergebnisse erscheinen
mir daher auch sehr beachtensAverth.
Der g-eometrische Stil. 31
Stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen
Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre
Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen)
Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr
nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss
eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste
Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses.
Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor-
ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri-
sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete.
Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Xatiirreligiouen darf mit
Gewissheit angenommen werden , dass mit jenen Symbolen (z. B. mit
dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen
realen Xaturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisii'ung der in
der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor-
aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus
ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während
aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Xaturformen
sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale
Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym-
bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische
Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der
schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol
auseinander zu halten; nach dieser — bisher wenig und fast aus-
schliesslich vom Dilettantismus verfolgten — Richtung steht dem mensch-
lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von
dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das-
selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen'^).
Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen
der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der
Troglodyten) und zwischen der raämüten Verwendung dieser Formen
in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem
Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner
Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so
können wii' den zweiten, der die Motive dieses Stüs wenigstens zum
überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und
'^) Beachtenswerthe Anläufe hiezu erscheinen u. a. gemacht in der Schrift
von A. R. Hein über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir-
belornamente in Amerika (Wien 1891).
32 Der geometrische Stil.
Webeiis auf rein zwecklicli-maturielleiu "Wege entstanden sein lässt,
nnn nicht mein" gelten lassen. Ist aiier damit in der That so viel ver-
loren V Für dasjenige, was im ^Menschen gemäss jenem Lehrsatze den
Gefallen an den rhythmischen Fadenkrenzungen erweckt haben soll, so
dass er dieselben demnächst in anderem Stoffe, ohne durch die Anfor-
derungen des Zweckes dazu genöthigt zu sein, wiederholt liat, dafür
giebt uns jene nunmehr hoffentlich überwundene Theorie doch keine
Erklärung. Die ganze Theorie erscheint hienach bloss als Glied der
materialistischen "Weltanschauung, bestimmt die Ableitung einer der
geistigen Lebensäusserungen des Menschen aus stofflich -materiellen
Prämissen, um einen Schritt Aveitcr liinauf zu rücken. AYir Avollen diesen
Schritt gar nicht thnn, um schliesslich eingestehen zu müssen, dass wir
des Pudels Kern doch nicht zu erkennen vermögen. Wir sagen lieber
gleich, dass jenes Etwas im Menschen, das uns am Formschönen Ge-
fallen finden lässt, und das die Anhänger der technisch -materiellen
Descendenztheorie der Künste ebensoAvenig wie wir zu detiniren im
Stande sind, — dass jenes EtAvas die geometrischen Linienconilnuationen
frei und selbständig erschaflfen hat, ohne erst ein materielles Zwischen-
glied einzuschieben, das die Sache im letzten Grunde nicht heller
machen kann und höchstens nur zu ciiuMn armseligen Scheinerfolg der
materialistischen "Weltanschauung füliren würde.
Xoch drängt es mich, um jedwedes Missverständniss zu vermeiden,
ausdrücklich zu Aviederholen, Avas ich schon mehrfach angedeutet hal)e:
dass ich Gottfried Semper keinesAvegs dafür verantAvortlich machen
möchte, dass man seine "\^"()rte in der erörterten LMchtung interpretirt
und Aveiter entAAÜckelt hat. Semper handelte es sich keinesAAU'gs
darum, eine möglichst materielle Erklärung für die frühesten Kunst-
äusserungen des Menschen zu finden; es Avar seine Lieblingstheorie
vom BekleidungSAvesen als Ursprung aller l^aukunst, di«' ilni dazu ge-
führt hat, der Textilkunst unter allen übrigen Künsten i'ine b'olle zu-
zuweisen. Avie sie ilu" besonnenermaassen nicht mehr Aviivl eingeräumt
Averden dürfeu. Auf dem angedeuteten Wege gelangte Semper dazu,
geAvisse textile Begriffe und ästhetische Unterscheidungen wie Band
und Decke, die erst einer vorgeschritteueren , ratt'inirteren Zeit des
Kunstschaffens angehören können, an!' piiniitiAc Knnstzustände anzu-
wenden. \'(<]\ <ler Cberseliiitznng dei- Textilkunst in Seniper"s Stil
Averden Avir daher gründlich zurückkommen müssen; nichtsdestuAveniger
bleibt jede Seite, auf der er sicJi über dieses Thema äussert, auch für-
derliin noch lesenswerth, wo nicht klassisch.
II.
Der Wappenstil.
Die übliche Identificirung der Textilornamentilc mit Flächeiiorna-
mentik im Allgemeinen hat eine weitere Reihe von Irrthümern zur
Folge gehabt. Einer der anspruchvollsten darunter, der noch heute in
unbeschränktem Ansehen steht, betrifft jenes System der Ornamentik,
dem eine paarweise Gruppirung unter symmetrischer Gegenüberstellung
(Affrontirung bezw. Adossirung) zu Grunde liegt.
Auf Ernst Curtius') geht die Unterscheidung zwischen einem
Teppichstil und einem Wappenstil zurück. Den Teppichstil erblickt Cur-
tius in jener Art von Flächenverzierung, wo z. B. Thiere in regel-
mässiger Reihenfolge, und zwar mehrere solcher Thierreihen in Zonen
übereinander angeordnet sind. Den Wappenstil bezeichnen ihm dagegen
die paarweise gruppirten Thiere, zu beiden Seiten eines trennenden
Mittels symmetrisch einander gegenübergestellt.
Was Cm-tius Teppichstil nennt, das hat weder mit der Textilkunst
im Allgemeinen, noch mit den Teppichen im Besonderen etwas Wesent-
liches zu thun. Hatte man nämlich eine Fläche überhaupt (nicht l)loss
eine textile) zu verzieren, so lag es am nächsten, den Raum in der
Weise zu brechen, dass man denselben in einzelne horizontale Streifen
zerlegte und innerhalb dieser Streifen die Einzelornamente unter-
brachte. Eine solche Streifendekoration begegnet uns auf historischem
Boden bereits bei den Altegyptern (Reihen figuraler Scenen überein-
ander an den Grabwänden), bei den Assyrern^), aber auch später in
den reifsten Stilen immer wieder 3). Um diese Art der Dekoration mit
1) Abh. der Berl. Akad. 1874.
-) Z. B. bei Layard Ninive I. 23 unten am Gewände der äussevsten
Figur rechts, mit rein geometrischen Einzelmotiven.
=*) Nach Schreiber (Wiener BrunnenreUefs S. 84) ist die „Streilendeko-
ration" auch in der hellenistischen Dekorationskunst sehr maassgebend ge-
wesen .
Riegl, StiltVageD. "
34 Der Wappenstil.
Berechtigung' als Teppicbstil zu bezeichnen, müsste man erst nach-
weisen, dass sie zuerst auf Teppichen angcAvendet worden ist. Lässt
man aber g-emäss unseren Ausführungen im 1. Capitel den gänzlicli
unbewiesenen aprioristischen Lehrsatz fallen, wonach die ältesten
Flächenverzierungen auf textilem Gebiete zu Stande gekommen sein
müssten, so kann man heute eine Geschichte der Flächenornamentik
schreil)en. in welcher den einzelnen Zweigen der Textilkunst kein be-
deutsamerer Platz eingeräumt ist, als etwa der Wandmalerei, der Gra-
virung und Emaillirung u. s. w. Wir könnten daher die Sireifendeko-
ration mit ebenso gutem, wahrscheinlich aber mit besserem Rechte
als Sehnitzereistil oder Gravirstil bezeichnen, weil der Mensch mittels
dieser Techniken gewiss mindestens ebenso früh Ijereits Flächen ver-
ziert hat, als er dies mittels der Teppichweberei gethan haben kann.
Was dagegen die symmetrische Gruppirung von je zwei Thieren
u. dgl. um ein gemeinsames ^Mittel anbelangt, so lässt sieh ('urtius^)
hierüber vernehmen, er sei durch sassanidische Gewebe dazu gelangt,
auch diesen Wappenatil nicht minder wie den Teppichstil auf die Webe-
kunst zm'ückzuf Uhren. Den Beweis dafür erblickt er darin, dass auch
der Buntwirker (worunter offenbar der Kunstweber gemeint ist) aus
technischen Gründen eine öftere Wiederholung des Musters braucht
und anderseits die Fläche möglichst auszufüllen trachtet, um an der
Rückseite keine langen Fäden flott liegen zu lassen, und auch die kost-
baren Einschlagfäden möglichst nach vorne zu bringen. In ganz ähn-
licher Weise finde man aber an orientalisirenden Thonwaaren und
Metallarbeiten frühgriechischer Herkunft einerseits die wappenartige
*) In den Abb. der Berl. Akad. 1879 S. 23. — Der verehrte Nestor der
an g-länzenden Vertretern und Erfolg-en so reiclien Berliner archäologischen
Schule möge verzeihen, wenn ich mich hier auf Abhandlungen beziehe, deren
Verfassung- nun schon eine beträchtliche Reihe von Jahren zurückliegt, und
die heute vielleicht nicht einmal mehr seinen eigenen Anschauungen völlig
entsprechen. Aber dieselben haben, wie die seitherige Literatur lehrt, in der
klassischen Archäologie allenthalben Schule gemacht, und so bleibt mir nichts
anderes übrig , als mich auf denjenigen Autor zu beziehen , der die Sache
zuerst vor die Öffentlichkeit gebracht hat. Übrigens wird Jeder aus dem
Context meiner Ausführungen in diesem und dem vorigen Capitel entnehmen,
Avie ich von der Einsicht durchdnnigen lün, dass u. a. auch die von Curtius
aufgestellte Lehre vom Teppichstil und Wapi)enstil im allgemeinen Zuge der
Zeit begründet war, und dass es dem so vielbewährteu Forscher unter diesem
Hinblick nur zum Verdienst angerechnet werden kann , dass er einmal die
vollen Consequeiizen gezogen hat , da man nur auf diesem Wege zu einer
weiteren Klärung der Anschauungen gelangen konnte.
Der Wappenstil.
35
Anordnung' der Hauptmotive, anderseits den Grund naeli Mög-liclikeit
ausgiebig' mit Mustern gefüllt.
Da nun diese wappenartigc Ornamentik sich besonders häutig an
Werken der assyrischen Kunst (Fig. 4)-'') vorfindet, und die früh-
griechische Kunst nachweisbar vielfach unter orientalischen Einflüssen
gestanden ist, so ergeben sich daraus unschwer die Schlüsse, welche die
klassische Archäologie aus der Curtius'schen Hypothese nothwendiger-
maassen gezogen hat. Einer ihrer namhafteren und auch mit den alt-
orientalischen Verhältnissen bestvertrauten Vertreter hat noch vor
Kurzem die diesbezüglich herrschende Lehrmeinung- in folgende Worte
zusammengefasst : „Die Bildertyi>ik des Orients hängt zum grössten
Theile von den Gewebemustern der grossen Wandtapeten ab, und
Fig. 4.
Skulpirter assyrischer Fries mit geflügelten Stieren im Wappenstil.
manche stilistische Eigenheiten ihrer Plastik, z. B. die übermässige Kon-
turirung der Muskeln, findet darin am natürlichsten ihre Erklärung^)."
Auch diesem Lehrsatze gegenüber werden wir die Frage aufwerfen
müssen, ob sich derselbe historisch rechtfertigen lässt, und ob für die
ihm zu Grunde liegenden Erscheinungen nicht eine andere Erklärung
gegeben werden kann.
Woher wissen Avir, dass die Assyrer bereits eine Kunstweberei
gekannt hätten, die im Stande gewesen wäre Stoffe mit Thierpaaren im
Wappenstil zu mustern V Und zwar handelt es sich hier um eine „Kunst-
■^veberei" im vollen Sinne des Wortes, — um eine Weberei, die mittels
Schiff"chens im Stande ist, auf Grundlage einer vollkommenen Beherr-
^) Nach Layard, The monu.inents of Ninive Taf. 45.
^) Schreiber, Wiener Brunnenreliefs 37.
3*
36 ^^1" ^Vappenstil.
schung der freien Bindung-en, beliebig konturirte Fig-iiren wiederzugeben:
denn nur eine solche bis zu einem geAvisscn Grade mechanische Art
der Weberei bedarf der symmetrischen Wiederliolung- der einzelnen
Figui-en, Avie sie Curtius') ganz richtig an den sassanidischen Seiden-
stoffen beobachtet hat.
Curtius" Vermuthung hiusiohtlicli der Assyrer stützt sich auf die
"Wahrnehmung, dass auf den in Steinrelief dargestellten Gewändern
einiger Könige, insbesondere des Assurnasirpal zu Ximrud. sich Bor-
düren finden, in denen die wappenartigen Gruppen von paarweisen
Thieren (Fig. 4), Menschen, Fabelwesen sich fortAvährend Aviederholen,
nach einem Schema wie es in der That auch an sassanidischen Seiden-
stoffen zu sehen ist. Curtius glaubte daraus sofort auf Seiden -Kunst-
webereien, als unmittelbare autochthone "Vorbilder schliessen zu dürfen.
Semper, der diese wandverkleidenden Eeliefs der assyrischen Künigs-
paläste gleichfalls mit steinernen Tapeten identificirt hat, drückte sicli
aber in Bezug auf die technische Erklärung der im "Wappenstil gehal-
tenen Thiere weit vorsichtiger aus. Als Teclniiker mochte er wahr-
scheinlich das Gewagte einer Behauptung Avie derjenigen Curtius' ein-
gesehen haben; er erblickte darin nicht Kunstwebereien, sondern
Stickereien^), Avas an und für sich viel mehr "Wahrscheinlichkeit bean-
spruchen darf, da die technische Ausführung in diesem Falle Aveit ge-
ringere SchAAaerigkeiten bereitet hätte.
Die Hypothese von der Entstehung des "Wappenstils aus einer alt-
assyrischen Kunstweberei wird aber noch unhaltbarer, sobald Avir das-
jenige in Betracht ziehen, Avas Avir in den letzten Jahren über das
"Wesen der Textilkunst im Altertlium in Ertahrung gebracht haben.
Als die Aveilaus maassgebendste Technik hat sich die Wirkerei (Gobelin-
technik) herausgestellt''). Gewirkte Einsätze mit Figuren in genau der-
selben Avappenartigen Symmetrie, aber von klassischer Formgebung,
sind unter den egyptischen Gräberfunden aus spätantiker und früh-
mittelaUerliclier Zeit (Fig. 5) zalilreicli an den Tag gekommen. Da-
gegen befand sich die Seidenknnsl Weberei denselben Funden zufolge
in spätantiker Zeit noch auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Ent-
Avicklung. EssenAvein berichtet über einen der in's Germanische Museum
gelangten spätantiken Seidenstoffe folgendermaassen : „Man sieht deut-
^) Wi(! icli erfaliro, unter A. Pahst's (Cölni kuiKliy-ei' Anlcitinit;".
") Stil I. '61h.
^) In dieser Tcclniik sind aucli aller Walirsclieiiiliclikcit nach die wappeu-
artigen Thiere auf den assyrischen KönigsgcAvälndern ausgeführt gcAvcscn.
Der Wappenstil. 37
lieh, dass der Weber jeden Faden einzeln zwischen die Kettfäden ge-
schlungen und möchte fast meinen, es sei dies eher mit der Nadel als
mit dem Schiffchen geschehen. Wenn man so etwa mehr Handarbeit
als Fabrikation in der Herstellung der Gewebe erkennt, ward man auch
über die vielen Unregelmässigkeiten nicht erstaunt sein." Es war eben
noch nicht so lange her, dass die Seide ausserhalb der ostasiatischen
Kulturwelt verarbeitet wurde; keinesfalls reichen unsere Nachrichten
darüber in die Zeiten der altorientalischen Monarchien zurück. Ein
ununterbrochener technischer Zusammenhang zwischen einer vermeint-
lichen altassyrischen und der nachweisbaren sassanidischen Seidenkunst-
weberei lässt sich somit nicht herstellen; nach stilhistorischer Seite liegt
aber dazwischen die Ausbreitung der hellenistischen und römischen
Antike, die — allerdings unter unmittelbarer Berührung mit den alt-
orientalischen Künsten entstanden und herangebildet — ihrerseits wieder
insbesondere die Luxuskünste im Oriente durchaus in ihre Einfluss-
sphäre zu ziehen gewusst hat.
Das Princip des Wappen sti Is , die absolute Symmetrie hat in der
späten Antike überhaupt eine sehr maassgebende Rolle gespielt, Avas
vielleicht mit der sinkenden Schaffenskraft im Kunstleben dieser Zeit
zusammenhängt, da die hellenistische Kunst noch die relative Symmetrie
in der Dekoration beobachtete, und die Langweiligkeit der absoluten
Symmetrie nach Möglichkeit vermied. Es ist daher nicht recht zu ver-
stehen, warum uns das wappenartige Ornamentationssystem der sassa-
nidischen Seidenstoffe so fremdartig asiatisch, so ganz und gar nicht-
abendländisch erscheinen soll. Wenn die Beherrschung der Anfangs
so schwierigen Technik der Kunstweberei bereits am Ausgange der
Antike rasche Fortschritte gemacht zu haben scheint, so ist dies wohl
aus der zwingenden Nothwendigkeit zu erklären, die man empfunden
haben musste, für das eben zur vorherrschenden Geltung gelangte neue
Rohmaterial, die Seide, auch die passendste Technik auszubilden, wofür
sich aus anderwärts '°) von mir erörterten Gründen die antike Wirkerei
durchaus nicht empfahl. Für die Seidenkunstweberei hatte nun das
zur damaligen Zeit wieder allgemein verbreitete Ornamentationssystem
des Wappenstih allerdings jene grossen Vorzüge, auf die auch Curtius
hingewiesen hat, und wohl aus diesem Grunde, nicht einer vermeint-
lichen assyrischen Textilüberlieferung halber, finden wir das genannte
Dekorationsschema an den Seidenstoffen von spätantiker Zeit (Fig. 5) an
'") Bei Bucher, Geschichte der technischen Künste III. 361 f.
38 Der Wai)penstil.
bis in das gothiscbo Mittelalter iu überwiegendstem Maasse zur Anwen-
dung" gebracht. Nicht die Technik hat das Scliema geschaffen, son-
dern sie hat das bereits vorhandene als das ihr zusagendste über-
nommen und im Besonderen für ihre Zwecke weitergebildet.
Mit Rücksicht auf die schon früher hervorgehobene Bedeutung-,
welche die egyptisch-spätantiken Textilfunde für die Erklärung der
m
i^\
^#
l'ig 5.
Hewirktcr (icwandcinsatz ans einem Orabc bei Snkkarah (.Kgypten), spütaiitik.
^Val)p(•IlstiI-Frage liaben, crschcini hi<'ii<l)cii in l-ig. .'> <iii l)laftf(»rmig('r
ri«-wand»-iii.satz aus der in das k. k. .istnrricliisrlic Miixinu für Kunst
lind Iii'histrio gelangten Saininhing"i jtiKr l'undr \\ ii-dergegeben.
") K.-italof,' dieser Sainnilmi;;- No. HC. Das Stück i.st aucii (hnch seinen
Inhalt bemerkenswerth, da es eines drr überaus seltenen Bcisitiflc vom Nach-
beben altegyptisch-nationaler Kunstfornicn im spHtcren Alterllnnn liictet.
Der Wappenstil. 39
Das Muster ist fast in allem Wesentlichen symmetrisch angeordnet: die
Figuren in der oberen Hälfte zu beiden Seiten einer trennenden drei-
blättrigen Blume, darunter die zwei Xaclien mit je zwei Fischern, so-
wie die Fische und Blattpflanzen im W'asser. Und doch war durch
die Technik, in welcher dieser Einsatz gearbeitet ist, keine Veranlas-
sung gegeben zu solcli symmetrischer Gestaltung. Wie schon die an
der Abbildung deutlich wahrnehmbare Ripsbindung verräth, handelte
es sich hiebei nicht um eine Seidenkunstweberei, die ein Interesse
daran gehabt hätte, die gleichen Tritte und Schäfte bald wiederkehren
zu sehen, sondern um eine höchst einfache Handwirkerei, die auf keine
technischen Abkürzungen ausgeht, weil sie dieselben gar nicht brauchen
kann. Die symmetrische Kunstform als solche wav also gegeben und
in der Textiltechnik angewendet, nicht umgekehrt. Symmetrisch ver-
zierte Einsätze in Wirkerei sind auch sonst nicht selten unter den ge-
nannten Funden'^).
Was zwingt uns denn überhaupt, das Verhältniss umzukehren
und mit Curtius und Anderen den Wappenstil aus der Technik der
Kunst Weberei abzuleiten? Das dem Schema zu Grunde liegende Ge-
setz der Symmetrie war doch den Menschen längst bekannt und von
ihnen im Kunstschaffen beobachtet, bevor die Assyrer ihre grosse
orientalische Monarchie aufgerichtet haben. W^ie Avir im vorigen Capitel
gesehen haben, übten es bereits die Troglodyten; der ganze geometrische
Stil ist nichts anderes als abstrakter Rhythmus und abstrakte Symme-
trie. Sobald die Pflanze in die Ornamentik eingeführt wird, geht das
ganze Bestreben daliin ihre Erscheinung symmetrisch zu gestalten. Als
Resultat dieses Bestrebens werden wir im folgenden Capitel die sym-
metrische Seitenansicht im Lotus, die synmietrische Vollansicht in der
Rosette, eine dritte Art der Projektion, die man etwa als halbe Voll-
ansicht bezeichnen könnte, in der nicht minder symmetrischen Pal-
mette kennen lernen. Wie steht es nun mit der symmetrischen Dar-
stellung der animalischen Wesen? Die Vorderansicht ist zAvar bei
Menschen und Thieren symmetrisch gestaltet, aber diese Vorderansicht
ist für's Erste, wenigstens was die Thiere betrifft, die minder charak-
teristische, dann bot ihre Wiedergabe in der Fläche dem primitiven
Künstler wegen der obwaltenden Verkürzungen allzu viele Schwierig-
keiten. Man wählte daher die charakteristischere und annähernd in einer
Fläche verlaufende Seitenansicht, die aber der Symmetrie entbehrte. Um
^'^) Bucher, Gesch. der techn. Künste II, Fig. 356, 3.57.
4y Der Wappenstil.
nun die Thierfiguren in Seiteuansicht dennoch dekorativ '^j zu verwertheu,
gab es zwei Wege. Entweder man liess die Symmetrie ganz fallen
und reihte die Thiere bloss rhythmisch hinter einander — dies geschah
in dem von Curtius sogenannten Teppiehstil — , oder mau nahm die
Thiere paarweise und stellte sie in absoluter Symmetrie einander
gegenüber, und zwar womöglich zu beiden Seiten eines symmetrisch
aufgebauten Mittels , wozu sich ein vegetabilisches Element am besten
eignete. Auf diese Weise etwa, keineswegs aber aus einer gar nicht
zu beweisenden Technik, werden wir uns die paanveisen assyrischen
Bestien zu beiden Seiten des sogen, „heiligen Baumes" (Fig. 4) zu er-
klären haben.
Die Symmetrie erweist sich eben als ein dem Menschen einge-
borenes, immanentes Postulat alles dekorativen Kunstschaffens von An-
beginn. Der Chinese kennt sie ebensogut wie der Altegypter, und
nicht bloss im geometrischen Ornament, wiewohl man versucht hat,
ihnen diese Kenntniss abzusprechen. So finden wir z. B. zwei Böcke
um einen Baum symmetrisch gruppirt bereits im Alton Reiche unter
der G. Dynastie'^}, also mehr als tausend Jahre vor der Entstehung der
assyrischen Königspaläste. Dass Altegypter wie Chinesen über eine be-
scheidene Beobachtung der Spnmetrie in der figürlichen Composition
nicht hinausgekommen sind, mag vielleicht in dem anscheinend frühen
Reifen und Sichabschliessen, und dem hierauf erfolgten relativen Still-
stehen ihrer uralten Kulturen begründet sein. Ein Volk, das auf den
Errungenschaften eines anderen unter frischen Impulsen weiter zu
bauen in der Lage war, hat die künstlerische Bedeutsamkeit der Sjtu-
metrie sofort schärfer erfasst: so sehen wir sie eben l)ei den Assyrern
l)eobachtet, die aucli den Unterschied zwischen Decke und Band, Fül-
lung und Bordüre, Inhalt und Rahmen, wie es scheint zuerst nicht
bloss deutlich begriffen, sondern auch zu unbedingter praktischer Gel-
tung gebraclit haben; h-ider vermögen wir mit den heutigen Mitteln
niclit zu beurtheilen, welcher Antheil hiervon auf ilire älteren Stam-
me'Sgenosscn, die Chaldäer, entfallt. Bedarf es da erst der Kunst-
weberf'j, um zu erkhiren, wie dieses Volk zur Übung des symmetrischen
Wappfnstils gelangt ist?
•'V Nicht mit lUrscriptiv - f;;cgcnstiin(ilichcr l'cdi'iitiui^- , wie etwa die
Heeiden auf altcg'yptisclieii Orabreliefs.
",; Lepsiiis r)<'iil<in:ller IV. Taf. lOS, 111.
III.
Die Anfänge des Pflanzenornaments und die
Entwicklung der ornamentalen Ranke.
Es ist heute schwer zu entscheiden, Avelches von den beiden orga-
nischen Bereichen der Xatur, das animalische oder das vegetabilische,
dem Menschen bei seinen ersten Versuchen, bestimmte körperliche Er-
scheinungen aus seiner Umgebung zeichnend auf einer Fläche zu repro-
duciren, grössere SchAvierigkeiten bereitet hat. Die Pflanze hat diesbe-
züglich vor den Thieren den Vortheil voraus, dass ihre Theile, wenigstens
für den naiven Beschauer, scheinbar in absoluter Euhe verharren, wo-
durch es dem Menschen leichter geworden sein könnte, ein typisches Bild
von den Pflanzen zu gewinnen, als von den ihre Haltung und Lage
beständig verändernden Thieren. Aber ebensowenig wie bei den Thieren,
insbesondere bei den der Aufmerksamkeit des Menschen zunächst ge-
rückten Vierfüsslern, liegen bei den Pflanzen alle ihre Theile in einer
und derselben Fläche. Es musste also auch bei der Eeproduktion
der Pflanzen eine Stilisirung Platz greifen, sobald der Mensch dieselben
auf eine gegebene Fläche (Stein, Bein, Thon) zeichnen oder gravh'en
wollte. Dies äussert sich an den frühesten, uns bisher bekannt gewor-
denen Pflanzendarstellungen namentlich in der symmetrischen Abzwei-
gung der Seitensprösslinge rechts und links vom gerade emporstrebenden
Schaft, während in der Natur die Zweige strahlenförmig um den Stamm
herum angeordnet sind, ferner in der Darstellung der Blätter als wären
sie von oben gesehen, Avährend dieselben dem seitwärts gedachten Be-
schauer mehr oder minder das Profil zukehren. Diese Flach-Stilisirung
blieb so lange in Kraft, bis allmälig die perspektivische Darstellung,
aufkam, vermittels welcher man sich in Stand gesetzt sah, körperliche
Erscheinungen mit sämmtlichen Merkmalen ihrer räumlichen Abstufung
und Ausdehnung auf eine ebene Fläche zu bringen.
42
Die Antaiio-e des Priauzeiiornameiits etc.
Soviel aber die l^i^lle^ geiiuicliteii i'iinde aus präliistoriselier Zeit
erkennen lassen, hat sich der Mensch — entgegen dem ErAvarten, das
Avir an das oben Gesagte zu knüpfen bt'rechtigt Avären — früher in der
Nachbildnng von Thieren als in derjenigen von Pflanzen versucht. So
hat man atif den in den Höhlen der Dordogne gefundenen skulpirten
Rennthierknochen. neben der so stattlielien An/.ahl aniiualisclier Bild-
werke, bloss ein einziges Mal (Fig. 6) ^lotive gefunden, die man um
ihrer rosettenartigeu Form willen für die Copie einer Blume halten
könnte'). Almliche Beobachtungen hat man auf dem Ge-
biete der Ethnologie der heutigen Naturvölker gemacht.
Überall geht das geometrische Ornament und das Thier-
l)ild der Darstellung von Pflanzen voraus. Ganze, ver-
liältnissmässig hoch ausgel)ildete Ornamentiken, wie z. B.
die inkaperuanische, sclieinen des Pflanzenbildes voll-
ständig zit entbehren. Die Erklärung diest'r Erscheinung
werden wir wühl in dem Umstände zu suchen haben,
dass die bewegliche, scheinbar mit freiem AVillen ausge-
stattete Thierwelt in weit höherem Grade als die Pflan-
zenwelt die Aufmerksamkeit des Menschen erregt haben
niociit"'. Thiere und iiielit rilauzen spielen im Fetiscliis-
mus die Hauptrolle, Avi(' nocii die altegyi>ische (Jötter-
inythologie in ihren den Thierkult l)etrei1'eiiden rudimen-
tären Theilen deutlicli lieweist. Und ähnlich ist ja das
Verhältniss des Menschen zti Tliier und l'flanze in der
Kunst allezeit auch späterhin gebliel>en. Die perspekti-
vische Durchbildung Avurde früher an .Menschen und
Thieren, als an den Pflanzen erprobt, die Blume blieV)
am längsten ,.Flachornament" und die „LaiulschalV ist
weit später nicht bloss als die religiöse und Historien-
malerei, sondern auch als Porträt und Genre. Es ist also Avohl ein-
mal «las gerimii'i'e lnter<'sse, «las dei" Mensch an der scheinbar be-
W
Fig. 6.
Rennthierknochen
mit gravirten
Blumen (?j.
I..1 >fa<tclcinc.
'j Wäre niciit die angesichts der Zeit- und Kultuj iniistämtc \ ('rl)liilVciule
Leistungsfähigkeit der Troglodytenkunst, so dürfte mau nucli auf die Schwie-
rigkeit hinweisen , die das Nacldnlden der i'eicli gf;^liederten Pflanzen in
Skulptur gcfccnüber den weit minder gc^^liedcrtcn Thievkörpern mit sich brachte.
Die älteste Kmisttechnik war aber gemäss unseren Ausführungen im ersten
(.'apitel S. 20 die Skuljdur. I'.ildete diese nun Tliierliguren, so konnte di«'s
imm(;rliin auf die nachfolgenden, in dei- Plüclie bildenden Künste bereits von
traditioneller, also das PlL-inzcnipild zuniidist ausscliliessender AVirktni^- sein.
Die Antangc des PHanzeiioniameiits etc. 43
wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein-
führung' der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären
haben werden.
Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitols
aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi-
lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um
einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen)
Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme
würde zur Voraussetzung liaben, dass wir für den Menschen, der zuerst
Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an-
nehmen müssten, — eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen-
tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich
hinausgekommen Avar. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall
dort, A\'o wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen
Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re-
ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge-
standen sind, werden Avir von einem gewissen, freilich nielit mehr näher
zu bestimmenden Zeitpunkte au, den Anstoss zu Aveiteren Versuchen in
einer Avahrhaft „bildenden", d. h. körperliche Naturerscheinungen nach-
empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen
immanenten Schmückungs- und plastisch -imitativen Gestaltungstrieb,
(wie bei den a(iuitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz Avesentlich
auf religiöse d. h. gegenständliche BcAveggründe zurückführen dürfen.
Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die Avir heute kennen,
finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten.
Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, Avelcher aller altegyptischen
Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten
Reiche entgegentritt, eigen gcAvesen ist, Averden Avir auch die bezüglichen
Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse
Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst Avillen dürften Avir die-
selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück-
sichtigt lassen. Wenn Avir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen
Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung
machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent-
Avickluug willen, die sich nachAveislich an diese Motive geknüpft hat.
Jedes religiöse Symliol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe
der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu
Averden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die
fortgesetzte überaus häufige AuAvendung, die infolge ihrer Heiligung
44 Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
stereotyp geAvordene äussere Form, die -Vustuliruiiii' in verschiedenen
^laterialien, alles dies trägt dazu bei, das betreffende Symbol dem
Mensehen vertraut und dessen Anblick bis zu einem gewissen Grade
unentbehrlich zu machen. Der naive Glaul)t' der Alton kam diesem
Process ganz besonders zu Hilfe. Mau trug das Symbol auf den
Kleidern, den Geräthen, überliaui>t auf Dingen, die Einem möglichst
oft zu Gesichte kamen. Es gal) fast keinen Gegenstand im Haushalte
der alten Egypter, an dem sie nicht den Lotus angebracht hätten. Die-
jenigen Völker, die die Symbole von den Egyptern übernahmen, Avaren
in ihrer Anschauung von denselben — nach dem freien Gebrauche, den
sie in der Regel davon gemacht haben, zu seiiliessen — nicht mehr
von den gleichen hieratisclien Vorstellungen befangen. Die symbolische
Bedeutung des Lotus lockert sich zusehends bei Assyrern, Phönikern,
Griechen; die Summe der ganzen Entwicklung erscheint gezogen in der
hellenistisch-römischen Kunst, deren dekorativer Apparat zum aller-
grössten Theile im letzten Grunde von dem altorientalischen Symbo-
lismus bestritten ist. Nur haben die Griechen aus diesem letzteren mit
ihrem vollendeten Sinn für das Kunstschöne bloss jene Motive ausge-
wählt, die in der That einer küiistlerisehen Fortbildung und Ausge-
staltung fähig waren-).
Dafür, dass die bezüglichen Pflanzenmotive wenigstens zum über-
wiegenden Theile schon von Haus aus die Befähigung zu einer künst-
lerischen Ausgestaltung an sich trugen, war von der altegyptischen
Kunst selbst genügend vorgesorgt. Schon von Seiten dieser ersten
pflanzenbildenden Kunst erhielten die pflanzlichen Vorbilder bei der
Übertragung auf die Fläche (mittels des Relief en creux Avie mittels
der Malerei) die nothwendig(,' Stilisirung. Das maassgebende Postulat
bei dieser letzteren Avar Aviederum die Symmetrie. Das Motiv hatte zwar
um seiner gegenständlichen Bedeutung AA'iJlen Darstellung gefunden,
aber diese Darstellung sell)St erfolgte unter strenger Berücksichtigung
derjenigen primitiven künstlerisclien Postulate, die schon dem rein deko-
rati\''en, dfin bloss'^ii ['.idürfiiiss des Selimüekeiis dicin ndcn Kunstschaffen
zu Grunde g< l<'g<ii Avan-n. Die Altegyi)t<'i" s<dl)si mussicn das künst-
lerisch durchgebildete Symbol zugleich als Sclnuuck empi'unden liaben.
Umsomehr die auf niedrig«ii r Kulturstufe a «iliaiTi udcu Völker, die im
Lauf«- der Zeit mit difscu Sxiiiholiii lickniini wnrdru. Besassen die-
■-; So die Palinett(;ii, Spldiigi-n, Kentauren, nicht aber die tliieiliiiuptiyen
Götter, die Skarabiien u. df;l.
Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. 45
selben — wie wir annehmen dürfen — bis zu dem Zeitpunkte ilirer
Berührung' mit der egyptischen Kultur kein eigenes vegetabilisches
Schmuckmotiv, so lernten sie nunmehr eines kennen, das sie sich fürder
entweder im Handel erwerben oder selbst kopirend nachbilden konnten.
Aus der eigenen Flora ein Motiv sich mit Mühe heraus zu stilisiren,
daran hat Avohl Niemand gedacht, sobald er ein fertiges Motiv von an-
derer Seite her empfingt). Aus dem gleichen Grunde gebrauchen wir
doch heute noch in unserer dekorativen Kunst überwiegend die über-
lieferten antiken Motive, obzwar wir Ornamentzeichner und Entwerfer
besitzen, Avie sie das Alterthum gar nicht gekannt hat*).
Die Altegypter haben, so viel wir sehen, zuerst eine monumentale
Kunst ausgebildet, und für die übrigen Völker des Alterthums deren
Geschichte parallel mit derjenigen des pharaonischen Egypten läuft,
beginnt die Kunstgeschichte mit dem Momente, in dem sie in eine nähere
Beziehung zur egyptischen Kunst getreten sind. Dieser Moment lässt
sich zwar nicht in einem Falle genau zeitlich bestimmen; aber die
Thatsache selbst lässt sich kaum mehr bestreiten, angesichts der fun-
damentalen Verbreitung, welche gerade die typischen dekorativen
Formen der egyptischen Kunst bei den übrigen ältesten Kulturvölkern
des Alterthums gefunden haben. Damit ist auch die grundlegende Be-
deutung, die Avir den altegyptischen Pflanzenmotiven für alle nach-
folgende Pflanzenornamentik eim'äumen müssen, genügend charakterisirt.
Aus dem Gesagten folgt aber noch nicht, dass Avir alle durch die
altegyptischen Denkmäler überlieferten Darstellungen vegetabilischen
Inhalts in unsere Betrachtung Averden einbeziehen müssen. In der
gegenständlichen egyptischen Kunst finden wir vielfach Nachbildungen
von Pflanzen, namentlich A^on Bäumen (Tell-el-Amarna) , denen augen-
scheinlich keine symbolische Bedeutung beigelegt wurde und an die
sich daher auch keine ornamentale Fortbildung geknüpft hat. üeber-
haupt ist es nicht so sehr die Pflanze als Ganzes, als Baum oder als
^) Man braucht also gar nicht, ^\ie Goodyear thut, einen religiösen Sym-
bolismus, sei es den Sonnenkult oder einen anderen zu Hilfe zu rufen, um
die Verbreitimg altegyptischer Kunstmotive in der ganzen frühantiken Welt
zu erklären. Hierzu genügt allein schon der im Menschen allmächtige Trieb
des Nachahmens, Nachbildens, Nachformens.
■*) Das bCAvusste Heranziehen der heimischen Flora zu dekorativen
Zwecken ist ein echt moderner Zug, und charakterisirt in ganz besonderem
Maasse die Art unseres heutigen Kunstschaffens ; nichtsdestoweniger be-
herrschen noch heute der Akanthus und die klassischen Blüthenprofile alle
vegetabilische Ornamentik.
4(3 Die Anfänge des Pflanzenornanients etc.
Strauch, oder selbst als niedriges Zierblumengewächs, sondern vielmehr
deren einzelne Theile, Blüthe oder Blatt, die man zu Symbolen ver-
wendet hat. Wir werden sehen, dass solche Theile schon in den
ältesten Denkmälern der egyptischen Kunst mehrfach bis zur Unkennt-
lichkeit stilisirt gewesen sind: trotz ihrer Verwendung in gegenständ-
lichem Sinne trugen sie somit bereits damals in sich den siclieren Keim
späterer ornamentaler Bedeutung und Fortbildung.
Der künstlerisch wichtigste, Aveil vollendetste Theil eines Pflanzcn-
gebildes ist die Blüthe mit ihrer farbenprächtigen Krone, die sich in
der Regel aus dem Kelche strahlenftirmig entwickelt. Die Vorstufe zur
Blüthe bildet die in der Regel sjutz zulaufende und darum zur Bekrö-
nung geeignete Knospe; der dritte wichtige Theil ist das Blatt. Die
Frucht tritt dagegen im ältesten Symbolismus und daher auch in der
ältesten Ornamentik merklich zurück; die nächstliegende Erklärung für
diese bemerkenswerthe Thatsache mag zum Theil vielleicht darin zu
suchen sein, dass die Frucht wegen ihrer wenig gegliederten, oft
asymmetrischen Form sich der künstlerischen Nachbildung nicht sonder-
lich empfahl.
Ein selir wichtiges Element in der Pflanzendnrstellung, insbesondere
mit Rücksicht auf die spätere ornamentale EntAvicklung, ist endlich der
Stiel. Durch den Stiel Avird es nämlich erst möglich die einzelnen
Blüthen, Knospen und Blätter untereinander in Verl)indung zu setzen:
diese Verbindung ist aber hinwiederum die Vorbedingung für eine
zusammenhängende Ausfüllung sei es bandartiger Streifen, sei es decken-
artiger Flächenfelder mit vegetabilischen Motiven. Der Stiel tritt uns
nun in der altegyptischen Kunst überwiegend nicht als ein der Wirklich-
keit nachgezeichnetes Gebilde, sondern als ein lineares, geometrisches
Element entgegen. Dadurch Avar er von Aornherein befähigt, alle die
geschwungenen und gerollten Formen anzunehmen, die den rein geo-
metrischen, aus Curven gebildeten Configurationen zu Grunde liegen.
Hiernach erscheint der Stiel als ein ganz besonders Avichtiger Faktor
für die zunelmiend ornamentale Ausgestaltung dei- ursi)rünglich gegen-
ständlich-symbolischen Plianzenmotive. So AA-erden wir frühzeitig in
der altegyptischen Kunst Verbindungen von Blütlien und lUätteru
mittels der Stiele beobachten können , Avie sie in der Natur an den
betreff'enden Pflanzen keinesAvegs vorkommen, un<i nur als eine Ver-
fjuickung geom<-trischer Kunstformen mit AM-getaliilisch-gegenständlichen
aufgefasst werden können.
Unsere Aufgabe Avird es also sein iinn-rliall) i'inrs Jcilrn Stiles den
Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. 47
wir in unsere Betrachtung- einbeziehen werden, zuerst die darin vor-
kommenden Blüthen- (Knospen- und Blatt-) Formen für sich vorzu-
nehmen, und sodann die Art ihrer Verbindung" untereinander zum
Behufe der Flächenfüllung zu untersuchen. Nach beiden Eichtungen
wird sich ein zusammenhängender historischer Faden von der ältesten
egyptischen bis auf die hellenistische Zeit verfolgen lassen, d. h. bis
zu dem Punkte, da die Griechen die EntAvicklung zur Reife gebracht
haben: indem sie einerseits den einzelnen Theilmotiven den Charakter
vollkommener formaler Schönheit zu verleihen gewusst, anderseits —
und das ist ihr besonderes Verdienst — die gefälligste Art der Verbin-
dung zwischen den einzelnen ^lotiven geschaffen haben, nämlich die
line of beauty, die rhythmisch Ijewegte Bänke. Chronologisch genommen
zerfällt hiernach unsere Untersuchung in zwei Theile: 1. die Nach-
weisung des Ursprungs der in der hellenisch-römischen Universalkunst
(der Mittelmeerkunst) verbreiteten Pflanzenmotive in den altorientalischen
Künsten und die Geschichte ihrer allmäligen Ausbildung in diesen
Künsten, 2. die Verfolgung der Fortbildung dieser Motive durch die
Griechen bis auf die hellenistische Zeit, insbesondere die Entfaltung
des specifisch griechischen Motives der ornamentalen Eanke. In diesem
zweiten Theile wollen wir unsere eigentliche Hauptaufgabe erblicken,
zu der sich der erste Theil bloss als eine möglichst knapp gefasste
Einleitung verhalten soll.
Wir werden da eine fortlaufende Entwicklung kennen lernen, die
auf ihren eigenen Spuren einhergeht. Um einer symbolischen, gegen-
ständlichen Bedeutung Avillen mögen die ersten Pflanzenformen in die
Kunst gekommen sein. An diese Typen, und im Wesentlichen bloss
an diese wenigen Typen, knüpft die Aveitere Fortbildung an; an eine
neuerliche Heranziehung bestimmter Pflanzen in ihrer natürlichen Er-
scheinung dachte zunächst, und noch Jahrtausende darüber hinaus,
Niemand. Sogar als die deutliche Tendenz hervortrat, die solchermaassen
nahezu geometrisirten pflanzlichen Ornamentformen wieder dem natür-
lichen Pflanzenhabitus näher zu bringen, erfolgte dies zunächst nicht in
dem Wege einer realistischen Nachbildung leibhaftiger Pflanzen, sondern
im Wege allmäliger leiser Naturalisirung , Belebung der überlieferten
Pflanzenornamente. Die Schlüsse, die sich aus dieser Beobachtung für
die Geschichte der Ornamentik im Allgemeinen ergeben, liegen auf der
Hand. Darin beruht nicht zum Geringsten die Bedeutung, die wir den
in diesem Capitel zu behandelnden Fragen beizumessen uns für berech-
tigt halten.
48
A. Altorientalisches.
A. Altorientalisiiehes.
1. Egyptisches.
Die Schaffung- des Pflanzenoriiameuts.
ZavcI Pflanzen sind es, die man bisher als untrennbar von aller
egyptisehen Kultur gx'halten hat und die man auch in der bilden-
den Kunst der Altegypter als die gebräuchlichsten Symbole überall
an den Denkmälern wiederzufinden glaubte: der Lotus und der Pa-
pyrus. Hinsichtlich der kulturellen Bedeutung dieser beiden Pflanzen
für die alten Egj^pter hatte man eine kostbare Stütze an dem Be-
richte, den uns Herodot über die Stellung derselben im Haushalte
der Egypter hinterlassen hat. Und auch auf Kunstdenkmälern lagen
Fig. 7.
I.otusblüthe in Profilansicht.
Fig. 8.
Lotusblüthe in Profilansiclit (sogen. Papyrus).
zwei in die frühesten Zeiten zurückreichende, stilisirte Blumenprofile
vor, von denen das eine mit deutlich ausgeprägten dreieckigen Blättern
(Fig. 7) mit dem Lotus, das andere, glockenföi-migc, ohne Andeutung
von Blättern, mit dem Papyrus (Fig. 8) identificirt wurde. In der
That zeigt die Blüthenkrone derjenigen Pflanzenspecies, die man bisher
für den Lotus der Altegypter angesehen hat, einen Kranz von drei-
eckigen Blättern. Die Papyruspflanze dagegen ist bekrönt von einem
Wedel, dessen einzelne, haarförmige Halme nach allen Seiten strahlen-
artig auseinanderfalleii; da aber die realistische Wiedergabe eines
solchen zerflatternden Gebildes einer noch unperspektivisclien, mit
Umrisszeichnungen in der Fläclie opcrinnden Kunst geradezu unmög-
lich gewesen sein mochte, nahm man an, dass der egyptischo Künstler
sich die Halme des Wedels in einen glockenförmigen Schopf zusammen-
gefasst dachte, dessen kompakte Masse sich dann unschwer von einem
1. Egyptisches. 49
festen Kontui' umschreiben liess. Eine entscheidende Eolle hei dieser
Zuweisung der Profile an Lotus und Papyrus spielte ein angeblicher
Symbolismus des Papyrus für das sümpfe- und schilfreiche Delta, des
Lotus für das trockene Oberegypten.
Innerhalb der Kunst des Alten Reichs Hessen sich die beiden Profile
leidlich streng auseinanderhalten. In der Kunst des Neuen Reichs
aber, dessen Zeitstellung gleichwohl im Verhältniss zu den übrigen uns
bekannt gewordenen Künsten der antiken Kulturvölker noch als eine
weit zurückliegende gelten darf, kam man mit einer absoluten Schei-
dung der beiden Grundtypen von einander nicht mehr aus. Dies ist
auch den Forschern nicht entgangen, die sich bisher der Mühe unter-
zogen haben den altegyptischen Denkmälern vom kunsthistorischen
Standpunkte aus näherzutreten; doch wagte Niemand an der Stich-
haltigkeit der Scheidung selbst zu rütteln. Bezeichnend hiefür ist die
Haltung von G. Perrot, dem wir doch bisher die einzige wahrhaft
wissenschaftliche Gesammtbearbeitung der altegyptischen Kunstgeschichte
verdanken. Auch dieser Forscher wusste sich keinen Rath, w^enn er
z. B. Papyrusprofile von Glockenform, aber mit dreiblättrigem Lotus-
kelch versehen, vorfand; er behalf sich in solchem Falle mit der aus-
weichenden Bezeichnung: Wasserpflanzen^), womit sowohl Lotus als
Papyrus gemeint sein konnte. Ich w-ar geneigt mir den Sachverhalt
so zu erklären, dass in der Kunst des Neuen Reichs eine auch an
vielen anderen Motiven nicht zu verkennende Tendenz zur ornamen-
talen Behandlung der überkommenen Sjnnbole allmälig zu einer Ver-
mengung des Lotus- mit dem Papyrustypus geführt haben mochte. Dies
hätte freilich auch eine Vermengung der beiden Symbole in der religiösen
Anschauung der Egypter des Neuen Reichs zur Voraussetzung haben
müssen, und darin lag für mich das Unbefriedigende meiner eigenen
Erklärung, weil aus den bisherigen Arbeiten der Egyptologen kein
Zeuguiss für eine solche Wandlung der religiös-symbolischen Begriffe
zu ersehen Avar.
W. G. Goodyear 6) w^ar es nun, der die Frage jüngst in der Weise
zur Entscheidung gebracht hat, dass er die Identificirung des Glocken-
typus mit dem Papyrus als auf einem Irrthume beruhend nachweist,
und denselben ebenso für den Lotus in Anspruch nimmt wie den Typus
'") Histoire de l'art dans l'antiquite I. S. 845 Fig. 586.
^) The grammar of the lotus, a new history of. classic ornament as a
development of sun worship. London, Sampson Low, Marston & Co. 1891.
Riegl, Stilfragen. 4
5( ) A. Altovientalisches.
mit den dreieckigen Blättern'). Das Hauptarg'ument in seiner Beweis-
führung bildet der Hinweis auf den Umstand, dass die Hieroglyphe
mit der Gloekenbekrönung keineswegs zwingend als Papyrus inter-
prctirt werden mnss, und dass die auf das Papyrusland Unteregypten
bezogene Bekronung nicht bloss auf dem angeblichen Papyrus, sondern
auch auf ausgesprochenem Lotus mit dreispaltigem Profil, also auf dem
vermeintlichen Repräsentanten von Oberegypten vorkommt. Damit
Avaren die in der Eg^^ptologie wurzelnden Hmdernisse, über Avelche die
Nichtegyptologen nicht hinweg konnten, hinweggeräumt und der kunst-
historischen Forschung der Weg geebnet, um das Verhältniss der beiden,
dieselbe Blumenspecies symbolisirenden Typen zu einander zu klären.
Aber noch eine weitere fundamentale Aufklärung verdanken wir
dem genannten amerikanischen Forscher. Wie sich aus seinen Aus-
führungen'a) überzeugend ergiebt, hat man bisher das Lotnsmotiv der
altegyptischen Kunst beharrlich mit einer Pflanzenspecies als angeb-
lichem Vorbild identificirt, die in Jenen bildlichen Darstellungen gar
nicht gemeint ist. Es ist dies die Species Nymphaea Nelumbo
(oder Xelumbium speciosum), die streng genommen gar nicht zur
botanischen Gruppe des Lotus gehört. Den Irrthum hat in letzter Linie
Herodot's Bericht verschuldet, der von einer in Egypten sehr populären
Lotusgattung berichtete, dass deren Samen essbar wären. Dies stimmt
nun allerdings nur für die erwähnte Species, die aber in Egypten nicht
heimisch, heute daselbst gar nicht zu finden ist, dagegen in Indien
hauptsächlich gedeiht und von dort in das altegyptische Reich für eine
gewisse Zeit verpflanzt worden sein mochte, bis dieselbe Mangels fort-
gesetzter Kultur wieder vom Boden des Nilthals verschwand. Der
wirkliche heilige Lotus dagegen, der noch heute in Egypten gedeiht,
ist die Nymphaea Lotus (weisser Lotus), von dem auch eine blaue
Abart (Nymphaea caerulea) existirt. Auch diesbezüglich Avürde es zu
weit führen die ganze Beweisführung Goodyear's hierher zu setzen,
und ich beschränke mich daher nur auf die Hervorhebung des über-
zeugendsten Punktes, nämlich der Uebereinstimmung des Lotusblattes
CFig. 9), wie es an den Kunstdenkmälern typisch wiederkehrt, mit der
gespaltenen Blattform von Nymphaea Lotus, wogegen die Trichterform
des Blattes von Neluinliinm speciosum sicli ;nil' keine Weise — man mag
selbst eine noch so wimdei-liche Projektion d<'s Blattes in der künst-
7) a. a. O. 43 ff.
7») a. a. 0. S. 2r) ff.
1. Egyptisclies.
51
lerischen Anschauung- der cältesten Egyi)ter für die Erklärung zu Hilfe
nehmen — mit dem Blatttypus der Denkmäler vereinigen lässt^).
Von den einzelnen Theilen der Lotuspflanze, die in der bildenden
Kunst des alten Egyptens zur Darstellung gelangt sind, nimmt weitaus
das grösste Interesse die Blüthe in Anspruch. Wir wollen daher die
minder wichtigen Theile, Knospe und Blatt, gleich Eingangs abthun,
um später nicht mehr darauf zurückkommen zu müssen. Das Charak-
teristische des Lotus-Blattes (Fig. 9) ist, wie oben erwähnt wurde, der
Spalt, der oft nahezu bis zur Mitte des Blattes reicht. Die Grundform
lässt sich am besten einer Schaufel vergleichen; die dem Spalt entgegen-
gesetzte Seite ist zumeist im Halbkreis abgerundet, doch läuft sie nicht
selten auch in eine Spitze aus, die gelegentlich sogar etwas geschweift
erscheint. In dieser letzteren Form, die mit dem Epheublatt grosse
Fig. 10.
Lotusknospe.
Aehnlichkeit zeigt, wäre das ■ Blatt in die griechische Kunst über-
gegangen, sofern nämlich Goodyear Recht hat, indem er das mykenische
Epheublatt als Nachbildung des zugespitzten egyptischen Lotusblattes
erklärt. Was mich zögern lässt, dieser Meinung Goodyears schlankweg
beizustimmen, ist der Umstand, dass das Epheublatt in der mykenischen
Kunst in solchen Verbindungen auftritt, wie sie der egyptischen Kunst
fremd, für die spätere hellenische aber charakteristisch gewesen sind.
Hiervon wird übrigens im Capitel über die mykenische Pflanzenorna-
mentik noch im Besonderen zu handeln sein.
^) Die hellenistisch-römische Kunst in ihrer naturalisirenden Tendenz hat
dagegen auch das Nelumbium speciosum, die essbare, von Herodot erwähnte
Species dargestellt, wie die pompejanischen Nil-Mosaiken in Neapel zeigen:
geschuppte Knospen, Fruchtknoten in Form eines Spritzkannen-Siebes, und
die Trichterblätter in nahezu perspektivischer Projektion.
4*
52 -A-. Altorientalisches.
Die Lotus-Knospe in der egyptisclien Kunst zeigt die typische
Form eines Tropfens {Fig. 10) , und ist häutig- ohne alle Gliederung-
l^elassen. In der Natur ist der innere Kern der Knospe von Nyniphaea
lotus umschlossen von vier gieiehlangen Blättern, die denselben voll-
ständig einhüllen.. Die Lotusknospe ist am häufigsten alternirend mit
der Lotusblüthe (Fig. 11) dargestellt. Die beiden Motive — Blüthe
und Knospe — sind neben einander gereiht ; die Blüthen sind das grössere
Motiv und ihre weit ausladenden Kelchblätter schlagen oft von beiden
Seiten über der dazwischen stehenden Knosj>e zusammen. Dass in den
Lotusblüthen-Knospen-Eeihen der Ausgangspunkt für das griechische
Kyma un<l den Eierstab zu suchen ist, wurde schon öfter bemerkt,
und auch neuerlich von Goodyear-') ausführlich begründet. Die Lotus-
knospe kommt aber auch ohne Begleitung der Blüthe vor, und zwar ent-
weder vereinzelt, oder in stetiger Wiederholung gereiht; sie dient dann
Fitr. 11.
Keihung von alteniirenden LotiisbUithen uud Knospen.
in der Regel zur Bekrönung eines Schaftes (Säule) oder eines horizon-
talen Gebälkes. Eine nähere Erklärung für diese Funktion wird sich
bei Betrachtung des Lotuskapitäls ergeljen.
Die Lotus-Blüthe tritt uns in der altegyptischen Kunst in allen
drei Projektionen entgegen, in denen überhaupt Blüthenformen dar-
gestellt worden sind, so lange die Kunst in der Wiedergabe von Pflanzen
auf dem Standpunkte der Flachstilisirung stehen geblieben war. Es
sind dies 1. die Vollansicht (en face), 2. die Seitenansicht (en profil),
3. die halbe Vollansicht (en demiface).
Die Lotusl)lüthe in der Vollansicht ist die Boseüc. (Fig. 12.)
Goodyear'*') hält sie zwar fiir eine Nachbildung des Fruchtknotens von
Nymp)haea lotus, der in der That eine ähnliche Zeichnung zur Schau
trägt. .\ber späterhin verstand man unter der Ro-sette immer zweifel-
'■') a. a. 0. S. ir)5 ff. Goodyear liat hiebe! hauptsächlich das dorische
Kyma im A-Ufre. Vom Icshischcn läs.st es sicli aber i>-leichfalls naclnveiscn:
man betrachte bloss Prisse d'Avcnncs, L'art eg-vptieii, Frises (leuronnecs,
Fig. 5 und 6.
'°) a. a. 0. 103.
1. Egyptisches. 53
los die vollentfaltete Blumenkrone und es ist nicht einzusehen, warum
das künstlerisch Bestechende dieser Projektion, die centrale Contigura-
tion der strahlenförmig zusammengesetzten Blättchen, sich nicht auch
schon den alten Egyptern in höherem Maasse aufgedrungen haben
sollte, als der Fruchtknoten der abgewelkten Blume. Goodyear stützt
seine Meinung hauptsächlich darauf, dass sich neben spitz auslaufenden
Blättchen, wie sie der Lotusblüthenkrone entsprechen, auch umgekehrt
solche in Tropfenform, mit dem stumpfen Ende nach Aussen (Fig. 12)
finden"), in welcher Form sie den Blättchen auf dem vorerwähnten
Fruchtknoten sehr ähnlich sehen. Dass auch im letzteren Falle ein Pro-
dukt der Lotuspflanze gemeint ist, bcAveisen die Denkmäler, an denen das
Motiv als gleichwerrhig mit unzweifelhaften Lotusmotiven vorkommt.
Fig. 12.
Stnmpfblättrige Lotusblüthe in A'ollansicht (Rosette).
Wir werden aber die Bildung mit abgestumpften Blättern eher als eine
blosse Variante der spitzblättrigen Blüthe zu erklären haben, Avie sie
sich im Gefolge der typischen Ausgestaltung des centralen Rosetten-
motivs von selbst eingestellt haben mochte, indem das Hauptgewicht
auf den radianten Blattkranz, und nicht auf die Zeichnung der einzelnen
Blätter gelegt wurde. Goodyear hat übrigens selbst die Möglichkeit
eingeräumt, die Rosette als Lotusblüthe in Vollansicht zu erklären ; dass
er sich schliesslich für den Fruclitknöten als das Vorbildliche entschied,
hängt mit der ausgesprochenen Tendenz dieses Autors zusammen, mög-
lichst viel aus sinnenfälligen und möglichst wenig aus künstlerischen
Prämissen abzuleiten.
Die Rosette findet sich, sow^eit unsere Denkmälerkunde heute reicht,
erst in der Kunst des Neuen Reiches häufiger angewendet. Gleichwohl
^') Zusammengestellt bei Goodyear Taf. XX.
54 A. Altorientalisches .
besitzen "wir Avenigstens ein Beispiel dafür ans dem Alten E eiche, näm-
lich die Statue der Xofret'-), deren Diadem mit Rosetten, und zwar vom
Typus mit stumpf auslaufenden Blättern, verziert ist. Besonders charak-
teristisch ist die Rosette späterhin für die Ornamentik der assyrischen
Kunst geworden.
Ich kann Ludwig v. Sybel'^) nicht beipflichten, der darum die
Rosette den Egyptern von den Semiten aus Asien zugebracht sein lässt.
Das Xeue thebanische Reich beginnt zu einer Zeit, aus der uns die
Existenz einer Pflanzenornamentik weder von der chaldäischen noch von
irgend einer anderen asiatischen Kunst durch sichergestellte Denkmäler
bezeugt ist. Die Möglichkeit, dass die Chaldäer bereits im IG. und
17. Jahrh. v. Chr. die Rosette ornamental verwendet haben, soll ja
nicht in Abrede gestellt werden. Aber der Umstand allein, dass die
Rosette im Alten Reiche noch nicht öfter nachzuweisen ist und ander-
seits in der späteren mesopotamischen Kunst eine Hauptrolle spielt,
reicht noch nicht aus, um ihren asiatischen Ursprung auch für die
egyptische Kunst zu beweisen. Einer solchen Annahme widerspricht
sclion der Charakter der Altegypter, ihr stolz ablehnendes Verhalten
gegen alles Fremde, in ihren Augen Barbarische. Mit der siegreichen
Xcuaufrichtung der nationalen Sell)Ständigkeit nach der Vertreibung
der Hyksos scheint eben ein intensiver Kulturaufschwung Hand in Hand
gegangen zu sein, der auch zu gesteigertem Schaffen auf dem Gebiete
der dekorativen Formen angeregt haben mochte. Das ganze Kunstleben
der Egypter in der Zeit der Thutmessiden und Ramessiden zeugt von
einer tief greifenden Neubelebung. Die Erklärung, die Sybel hierfür
hat: eine vorgebliche Befruchtung eg5q)tischer Trockenheit durch asia-
tische Ueberfülle wird insolangc unstichhaltig bleiben, als diese vor-
gebliche Ueberfülle in der asiatischen Kunst jener Zeit nicht monu-
mental erwiesen ist.
'-; Maspero, Egyptisclie Kunstgeschiclite S. 21.3 V\g. 1!U.
") Kritik des egyptischen Ornaments S. 17. Die nicht zu unterschätzende
Bedeutung dieses im J. 1883 erschienenen Schriftchens beruht darin, dass es
ein ganz vereinzelter Erstlingsversuch gewesen ist, der Wiclitinkeit des Stu-
diiuns der Ornamentik für die Kuiistgescliichte des Altertluxnis gorecht zu
werden. Mit der Tendenz der Sclirift, die neuen Erscheinungen in der Kunst
des zw(!iten thebanischen Reiches auf asiatische Einflüsse zurückzuführen,
kann icli mich in keinem Punkte einverstanden erklären. — Neuerlich hat
licli auch Goodyc^ir (S. 09 ff.) dagegen ausgesprochen, unter sehr glücklicher
Ausführung seiner, von mir vollstiindi;;- getlieilten Meiiuing üln-r das Veiliiilt-
niss zwisclien altegyptischer und mesopolanüscher Kunst.
1. Egyptisches. 55
Weitaus die wichtigste Projelvtion, in der uns die Lotusblüthe in
der altegyptischen Kunst entgegentritt, ist diejenige in Seitenansicht.
Und zwar haben wir hier mehrere Typen zu unterscheiden.
Der, wo nicht älteste, so doch ursprünglich verbreitetste Typus
ist derjenige, den wir bereits früher in Gegenüberstellung zum augeb-
lichen Papyrus kennen gelernt haben (Fig. 7). Typisch hierfür sind
drei spitze Kelchblätter, eines in der Mitte, zwei an den Seiten, ent-
weder geradlinig oder — was das Gewöhnlichere ist — in leise ge-
schwungenem Karniesprofil (Fig. 7) ausladend. In die spitzen Winkel,
oder dreieckigen Zwickel, die durch je zwei benachbarte Kelchblätter
gebildet werden, sind wiederum ähnliche spitze Blätter eingezeichnet,
und in die hierdurch entstandenen vermehrten Zwickel abermals Blätter
von derselben Form, aber entsprechend kleiner. Alle diese zwickel-
füllenden Blätter bilden zusammen die Blüthenkrone, die drei grössten,
zuerst erwähnten Blätter den Kelch. Goodyear hat nun gezeigt (S. 25flf.),
dass von der Blüthe der Nymphaea Lotus in der That bei der Betrach-
tung von einer Seite nur drei von den vier grossen Kelchblättern zu
sehen sind, und die Blätter der Krone in ganz ähnlicher, wechselseitig
zwickelfülleuder Weise wie in Fig. 7 innerhalb des Kelches empor-
ragen. Goodyear hat zugleich auch nachgewiesen, dass das bisher irr-
thümlich für das Vorbild der egyptischen Lotusdarstellungen gehaltene
Nelumbium speciosum einen mehr als vierblättrigen Kelch hat, und die
Blätter desselben sich keineswegs so scharf von denjenigen der Krone
unterscheiden lassen, dass es gerechtfertigt erscheinen könnte, darauf
eine Stilisirung zu basiren, wie sie in dem durch Fig. 7 repräsentirten
Typus enthalten zu sein scheint.
Dieser Typus der Lotusblüthe in Seitenansicht hat im Laufe der
Zeit einige Abbreviationen, und in Folge dessen auch leichte Verände-
rungen erfahren. Es würde zu weit führen, dieselben so weitgehend
zu erörtern, wie dies Goodyear'*) gethan hat. Nur eine Abkürzung
des Typus muss hier Erwähnung finden, da dieselbe auf die Ausgestal-
tung des angeblichen Papyrus-Typus nicht ohne Einfluss gewesen zu
sein scheint. Die Abkürzung bestand darin, dass man bloss die drei
Blätter des Kelches zur Ausführung brachte, diejenigen der Blätterkrone
aber unterliess und sich damit begnügte, diese letztere durch eine die
Scheitel der drei Kelchblätter verbindende krumme Linie zu bezeichnen.
(Fig. 13.)
M) Vgl. insbesondere seine Taf. III.
oü
A. Altoi"ientalisches.
Ein zweiter Typus von Lotusblüthe in der Seitenansiclit ist der
glockenförmige (Fig. 8), den man bisher ausnamslos auf den Papyrus-
wedel als vermeintliches Vorbild zurückgeführt hat. Der Unterschied
gegenüber dem ersten Typus berulit in dem glockenförmigi-n Profil
und in dem ursprünglichen Mangel jeglicher Andeutung von Blättern.
Aber selbst wenn wir die beiden Typen ohne Zuhilfenahme eines
äusseren vermittelnden Dritten nebeneinander halten, so werden wir
gewisse Züge entdecken, die beiden gemeinsam sind und eine Brücke
zwischen denselben bilden. Der karniesförmige Schwatng, der den seit-
wärtigen Kelchblättern des ersten Typus so überaus häufig gegeben
erscheint (Fig. 7), bereitet bereits vor auf den potenzirten Schwung,
als dessen Resultat die Glockenforni erscheint. Und was den Mangel
Fig. 13.
Lotusblüthe in I'rolilausicht
mit schematisch gezeichneter Krone.
Fig. 14.
Glockenförmiges
Lotusblüthen-K.apitäl.
an Blattzeichnung am sogen. Papyrus-Profil lietrifft, so braucht nur auf
di(; erwähnte Al)breviatur des ersten Typus (Fig. 13) hingewiesen zu
werden, um zu zeigen, dass in der altegyptischen Kunst eine Tendenz
vorhanden Avar, gelegentlich die Details zu unterdrücken, soliald nur
die begrenzenden Grundlinien gezogen waren. Doch werden wir an-
gesichts der Häufigkeit des Papyrus-Profils'^) darauf bedacht sein
müssen, über die vorgebrachten allgemeinen Erwägungen liinaus nach
einem bestimmteren äusseren Beweggrund zu suchen, der zur Adoi)tion
des Glockeni)rofils für die Darstellung der Lotusblüthe in Seitensicht
geführt haben nioclite.
Goodyear, dem wir die Aiilkhiruiig ülx-r die Vorbildlichkeit des
Liitiis jiiistatt des Paiixrns für die glockenfürmig(^ Blütlie verdanken,
",) -Nach Goody<;ir macht dasselbe seit dem Alten Reiche die Hälfte aller
Lotusdarstellunffen in S<:iteiiansicht aus.
1. Egyptisclies.
57
hat auch für das Zustandekommen dieser letzteren Form eine selir an-
sprechende Hypothese geliefert. Er hat nämlich'^) darauf hingewiesen,
dass die bildnerische Darstellung der Lotusblüthe als Kundwerk in
hartem Material (Stein) nothgedrungenermaassen zu einer glockenähn-
lichen Form ohne Angabe von Blättern mittels Skulptur führen musste.
Zum Beweis hierfür citirt er das glockenförmige Kapital (Fig. 14), das
in der That nichts anderes ist, als eine in EundAverk übersetzte Lotus-
blüthe, an welcher die Blätter nicht plastisch herausgearbeitet, sondern
aufgemalt sind. ]\[an hat ferner in Gräbern kleine Säulchen mit dem
Glockenkapitäl gefunden, die offenbar als Amu-
lete zu erklären sind und beweisen, dass die
bildnerische Herstellung von Lotusblüthen in
Eundwerk eine sehr umfassende und verbreitete
gewesen sein muss. Goodyear nimmt hiernach
an, dass die Lotusblüthe mit Glockenprofil zwar
nicht die Lotusblüthe als solche, sondern ein
Lotus-Amulet darstelle, und als solches wiederum
in die flächen verzierende Kunst, in die Malerei
oder das Eelief en creux, Aufnahme gefunden
habe. Was sich nun die alten Egypter unter
der glockenförmigen Lotusblüthe zum Unter-
schiede von dem ersterwähnten Typus Beson-
deres gedacht haben, wird heute schwer zu ent-
scheiden sein. Aber die Erklärung des Zustande-
kommens des Motivs in Folge des Durchpassirens
durch die Skulptur in liartem Material wird sich
kaum durch eine bessere ersetzen lassen.
Diese Stelle halte ich für die passendste, um
einige Bemerkungen über die Bedeutung des
Lotusmotivs in der Architektur der alten Egypter einzuschalten. Wir
haben eben eine Art des Lotuskapitäls, diejenige des glockenförmigen,
kennen gelernt. Eine andere nicht minder häufige Art von Kapital
ist diejenige, die das Motiv der Lotus -Knospe verwendet (Fig. 15).
Zur Funktion des Vermitteins zwischen tragender Säule und lasten-
dem Architrav war ein zartes Blumen- oder Knospen -Motiv doch
wohl nicht geeignet, zumal angesichts der wuchtigen Formen, in denen
sich die altegyptische Architektur ergieng. Aber auch die andere
Fig. 15.
Säule mit Lotus-Knospeu-
Kapitäl.
'6) a. a. 0. S. 51 ff.
58 -^- Altorieiitalisches.
Hypothese, die darin den Xachklang einer nrsprünglieh üblichen Ver-
kleidung des Säulenkerns mit festliehen Lotusgewinden zu erblicken
meint, ist zu weit hergeholt und aus dem Gesammtcharakter dieser
Kunst kaum zu rechtfertigen. Das Wahrscheinlichste ist vielmehr, dass
di-r Verwendung ' des Lotusmotivs als Kapital eine sehr primitive
künstlerische Empfindung — etwa Avie das Postulat der Symmetrie,
Avenn auch ein minder gebieterisches — zu Grunde lag, die den Alt-
egyptern, Avie allenthalben die Denkmäler lehren, ausserordentlich mass-
gebend erschienen sein muss: nämlich jene Empfindung, die eine
künstlerische Behandlung der freien Endigung verlangt. Ueberall dort,
wo ein wichtigerer Gegenstand, namentlich von überAviegender Längen-
ausdehnung (z. B. eine Stange) in eine Spitze ausläuft, A^erlangte der
altegA'ptische Kunstsinn eine ornamentale Betonung dieses Auslaufens,
Endigens. Besonders ZAA'ingend Avar das Postulat dort, avo es sich um
ein Auslaufen nach oben, um eine Bekrönung handelte; in diesem Falle
musste selbst die AA-agrechte, in überwiegender Breitenrichtung A^er-
laufende MauerAvand sich einen deutlichen Krönungssclimuck, die
bekannte egA'ptische Ilohlkelüe gefallen lassen.'^)
Lm nun die Endigung, Bekrönung zum künstlerischen Ausdrucke
zu bringen, gab es verschiedene Mittel. Wie der menschliche Körper
A'om Kopfe bekrönt ist, so Avird in der egyptischen und mesopotamischen
Kunst der Thierkopf nicht selten zur Bekrönung von Möbelpfosten ver-
Avendet. '^) Das Aveitaus gebräuchlichste MotiA' zur Bezeichnung der freien
Endigung Avar aber allezeit, soweit Avir die altegyptische Kunst zurück
zu A'erfolgen im Stande sind, die Lotusblütlie. In IjOtusl)lüilicn laufen
dif Maschen der geknoteten Diadembinden '^) aus, in sogen. Papyrus
'') Auf so platt-rationalistischcin Wege, Avie Sybel (a. a. 0. S. 5) sich die
Entstehung- der egyptischen Hohlkehle denkt — durch Umbieg'ung dea-
krönenden Eohrstababschnitte in Folge ihrer Belastung- durch einen auf-
liegenden Balken in der ureg-yptischen Holzarchitektur — pflegen Ornamente
doch wohl nicht zu entstehen. Der egyptischen Hohlkehle liegt vielmehr
derselbe Gedanke der Bekrönung- zu Grunde, wie z. B. dem völlig- analogen
Ko|itschmuck einer (löttin (Prisse, ;i. a. 0. La deesse Anouke et Panises 11).
Als vorbildlich für letzteren möchte ich wiederum den kranzförmigen Federn-
kopfschmuck ans(!hen, den z. B. die Aethiopier tragen bei Prisse, Arriv6e a
The.bes «lune princesse d'Ethiopie.
'*; Parallelen dazu zeigen schon in den ältesten Gräbern von Memphis die
Stuhlfüsse, die in Hufe, oder in Löwentatzen auslaufen, wodurch olTcnhar die
besondere Funktion dieser nicht frei sondern stuni|)r auf dem rxxlcn endi-
genden Glieder betont Averden sollte.
'») Z. B. Lcpsius Denkmäler H. 73.
1. Egyptisches.
59
das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in
der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen
der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in
Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Mlboote. Aus der-
selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle
der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her-
geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen-
Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine
belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange !), so
wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das
Kapital ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung:
die Funktion des Vermitteins zwischen tragender Säule und lastendem
Fig. IG.
Lotusblüthe in halber Vollansicht.
(egyptische Palmette.)
Fig. 17.
Lotusblüthe in Profil
mit Volutenkelch.
xA.rchitrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und
ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der
freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe
oder Knospe als Kapital: daher auch der Steinwürfel, der sich als
Kämpfer zwischen Kapital und Architrav einschiebt, sobald die Säule
zum Tragen bestimmt ist.
Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt-
egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Voll an sieht
(Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden:
einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil
(Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei
divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein
kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, — einen mittleren in Form
60 J^- Altorientalisches.
eines bogeuförmigen Zäpfchens (d) das den von dm beiden Voluten
im Zusammenstossen gebildeten "Winkel oder Zwickel ausfüllt, — und
einen krönenden Blattfächer (e). Wir pflegen dieses Motiv in der Form,
in der es uns in der griechischen Kunst entgegentritt, als Pahnette zu
bezeichnen.
Der wichtigste, weil für die Gesammtform bezeichnendste Theil
sind hier die Voluten. Sie sind als der in Seitenansicht projicirte
Kelch der Blüthe aufzufassen, Avie das Zwischenglied, Fig. 17, (von
einem sogen. Porzellan-Aniulet im Louvre) beweist, wo der Kelch nicht
mit Zwickelzapfen und Blattfächer, sondern mit den dreieckigen Blättern
des ersten Profiltypus (Fig. 7) gefüllt erscheint.
Das erste Auftreten des Volutenkelchs ist von ausserordentr
lieber Wichtigkeit für die gesammtc Geschichte der Orna-
mentik. Dass mindestens ZAvischen den Volutenkelchformen der antiken
Stile ein kausaler Zusammenhang obwalten müsse, hat man bereits
seit Längerem gemuthmasst; insbesondere die Voluten des jonischen
Kapitals gaben in ihren augenscheinlichen Beziehungen zu den alt-
orientalischen Volutenkapitälen den Forschern viel zu denken. Es hat
sich allmälig eine ganze Literatur über diesen Gegenstand angesammelt,
die sich bei Puchstein 2'^) und zum Theil auch bei Goodyear^') zusanmien-
gestellt findet. Die Mehrzahl der Forscher rieth auf asiatischen Ur-
sprung, und der Umstand, dass man — oifenbar unter dem flinflusse der
beliebten Theorie, wonach so ziemlich alle älteren Künste eine wesentlich
autochthone Entwicklung genommen hätten — den historischen Zu-
sammenhang der mesopotamischen mit der altegyptischeu Kunst ge-
flissentlich unterschätzte, war auch die Ursache, dass man die alt-
egj'ptischen Volutenformen nicht in ihrer vollen Bedeutung als Ausgangs-
punkt der ganzen Entwicklung erkannte, trotzdem schon vor mehreren
Jahren ein französischer Ingenieur, .^1. Dieulafoy--), die Vorl)ildliehkeit
gewisser altegyptischer Bläfterformen für das jonische Kapital aus-
drücklich behauptet hat. Mit aller Entschiedenheit ist für den egyptischen
Volutenkelcli als Ausgangspunkt für alle übrigen Palmettenformen der
antiken Stile Goodyear (S. 71 ff".) eingetreten, wobei er zugleich eine
f>klärung für die Entstehung des Volutenmotivs versucht hat.
Goodyear's Erklärung für das Aufkommen des Volutenkelchs knüpft
'^'>) Das jonische Kapital, im Aulianye.
") S. 71 ff. in den Anmerkung-en verstreut.
'*) Dieulafoy, L'art antique de la Ferse TU. :'. I tr.
1. Egyptisches.
61
wiederum an die natürliche Erscheinung von Nymphaea Lotus an. Sie
beruht auf der Wahrnehmung, dass die vier Kelchblätter dieser Blüthe
häufig sich nach unten einrollen, so dass eine solche Blüthe in der
Seitenansicht in der That einen von zwei seitlichen Voluten gebildeten
Kelch zeigt, aus dem sich der Blätterbüsehel der Krone erhebt (Fig. 18).
Die Erklärung besticht durch ihre Einfachheit und scheinbare Exaktheit.
Wenn man aber erwägt, dass das Motiv des Volutenkelches in der
stilisirten Blumenornamentik aller späteren Völker und Stile, nicht bloss
des Alterthums, sondern auch des Mittelalters, insbesondere des sarace-
nischen, und noch in der neueren Zeit bis auf unsere Tage eine so
überaus wichtige Rolle gespielt hat, so hält es schwer, seinen Ursprung
auf eine mehr zufällige Erscheinung zu-
rückzuführen, wofür wir das Einrollen
der Kelchblätter von Xymphaea Lotus
wohl aufzufassen haben. Es muss dem
Motiv etwas Dauerhaftes, Gemeingiltiges,
Klassisches zu Grunde gelegen haben,
dass dasselbe überall so gleichmässig
Aufnahme finden und durchdringen liess.
Wodurch nun die Lotusblüthe mit
Volutenkelch sich von dem Typus mit
geraden Kelchblättern (Fig. 7) im künst-
lerischen Effekt unterscheidet, ist die
schärfere Trennung zwischen Kelch und
Krone. Und in der That lässt sich ein
künstlerisches Postulat namhaft machen,
das, wie zahlreiche Denkmäler lehren,
bei den Altegyptern mindestens in der
Zeit des Neuen Reiches ausserordentliche
Berücksichtigung gefunden hat, und das eine Accentuirung der Kelch-
form geradezu forderte. Bevor ich aber dieses Postulat des Näheren
kennzeichne, erscheint es mir geboten, die übrigen zwei Bestandtheile
der egyptischen Palmette zu diskutiren, wobei auch die tropfenförmigen
Füllungen, die in die Zwickel der besprochenen Voluten eingesetzt er-
scheinen, ihre Erklärung finden Averden.
Haben wir im Volutenkelch eine Seitenansicht gegeben, so ist der
bekrönende Blattfächer von Fig. 16 (e) offenbar mit der Projektion der
Rosette (Fig. 12) zusammenhängend. Dieser Fächer giebt sich in der
That als ein Ausschnitt aus der Rosette. Goodvear hat auch bei seiner
Fig. 18.
Lotusblüthe (in Natur) mit überfallenden
Kelchblättern. Kach Goodyear.
62 A. Altorientalisches.
Erörterung" der egyptischen Palmette-^) für den Fäclier dieselbe Er-
klärung geg-eben wie für die Rosette; demzufolge wäre die Palmette
eine Kombination des Lotuskelehs mit dem Lotus-Fruchtknoten. Auf
S. 53 habe ich die Gründe auseinander gesetzt, welche mich bestimmen,
das Vorbild der 'Kosette nicht mit Goodj'ear im Fruchtknoten, sondern
in der Vollansicht der aufgeblühten Lotusblume zu erblicken. Dies
angewendet auf die Palmette, lässt die letztere als eine Vereinigung
des Kelches in der bequemen und natürlichen Seitenansicht mit der
Krone in Vollansicht erscheinen.-^) Man wollte den Vollstern zur An-
schauung bringen, und das Profil dennoch nicht aufgeben. Ich habe
daher vorgeschlagen, diese Projektion als „halbe Vollansielit" zu l)e-
zeichnen.
Es bleibt uns noch ein drittes Element zu besprechen, das in der
Zeichnung der egyptischen Palmette (Fig. 16) als typisch entgegen-
tritt : nämlich das kleine Zäpfchen (d), das den zwischen beiden Voluten
gähnenden Zwickel ausfüllt. Zur Rosette oder dem Ausschnitte der-
selben gehört das Zäpfchen nicht. Demselben liegt vielmehr wiederum
ein primitives künstlerisches Postulat zu Grunde, das in der altegypti-
schen Kunst allmächtig geAvesen ist und in dem wir einen der grund-
legenden Stilbegi'iffe dieser Kunst zu erblicken haben. Es ist dies das
Postulat der Zivickelfüllung. Wo immer zwei divergirende Linien einen
einspringenden Winkel zurücklassen, erfordert es das egyptische Stil-
gefühl, den leeren Winkel mit einem füllenden Motiv auszustatten; im
letzten Grunde geht dieses Postulat Avohl auf den Horror vacui und
dieser wiederum auf das Schmückungsbedürfniss als maassgebendstes
Agens aller primitiven Künste zurück. Dass die Beweise hierfür aus
der Kunst des Alten Reiches verhältnissmässig spärlich vorliegen, hängt
wiederum damit zusammen, dass uns aus dieser Frühzeit überwiegend
bloss Darstellungen rein gegenständlicher Natur in den Gräbern erhalten
geblieben sind. Die üppigste Fundstätte für zwickelfüllende ]\rotive
bilden die Deckendekorationen des Xouen Reiches, an denou die Einzel-
motive zwar nicht minder noch imiiK'r die alte synil>oliscli<' l'cdcutuiig
beibelialten zu haben sclKiincn, aber zum ausgesprochenen IJehnfe der
Flächenfüllunff ilire Zusammenstellunsr ofFenbnr unter dekorativ-küiistle-
") a. a. 0. S. lon ff.
■''*) Es ist flies otVciih.-ir die ghüclie künstlerische Absiclit, die sich aiudi
in der saracenischeii Kunst (namentlich an Fliesen und Teppichen) in der
Vereinigung tulpen- oder knospenf'önniger Blunienprofilc mit Vollrosetten an
einem und demselben I'liunenniotiv ihissert.
1. Eg-yptisches. 63
rischen Gesichtspunkten gefunden haben. Gleichwohl ist es die gleiche
Tendenz, die schon an der Bildung des uralten geradblättrigen Typus
des Lotusblüthenprofils (Fig. 7) unverkennbar mitthätig gewesen ist:
die Blätter, welche die Krone bilden, füllen die Zwickel der Kelch-
blätter, und über die hiedurch neuerdings gebildete Reihe von Zwickeln
steigt eine weitere Lage von kleineren füllenden Blättern empor.
Der Erfüllung des gleichen Postulats der ZwickelfüUung^s) dienen
auch die beiden Tropfen (c), welche in die äusseren Zwickel der Voluten
an unserer Palmette (Fig. 16), sowie an dem Amulet (Fig. 17) hinein-
componirt sind. Goodyear, der alle diese Dinge bloss im Lichte ihrer sym-
bolischen Bedeutung auflfasst (ihm ist die gesammte altegyptische Orna-
mentik bloss eine Symbolik des Sonnencultus), und die künstlerisch
dekorativen Empfindungen, von denen sich die Altegypter ebenso wie
jedes andere alte Kunstvolk leiten Hessen, fast grundsätzlich ausser
Rechnung lässt, Goodyear, sage ich, erklärt dagegen die erwähnten
Tropfen in Fig. KI und 17 als Lotusknospen, d. h. als eine rein äusser-
liche Zusammenstellung zweier Symbole, der Blüthe und der Knospe,
geradeso, wie er den Begriff der Palmette aus Blüthenkelch und Frucht-
knoten konstruirt hat.
Das vorbesprochene Zäpfchen (d) in Fig. 16 sucht Goodyear in
ähnlicher Weise zu erklären. In den Fällen, wo dasselbe — wie wir
gleich sehen werden (Fig. 20) — ohne bekrönenden Blattfächer, als
blosse Füllung des Volutenkelchzwickels vorkommt, erscheint es ihm
als umgekehrte Lotusknospe, genau wie an den seitlichen Zwickeln.
Ein andermal könnte es das mittlere Kelchblatt sein, das der egyptische
Künstler nicht wie die seitlichen Kelchblätter überfallend dargestellt, son-
dern am oberen Ende perspektivisch verdickt hätte. Hievon wird man
die zweite Erklärung völlig abweisen müssen und von der ersten nur so-
viel zugeben dürfen, das auf die tropfenförmige Stilisirung der Zwickel-
füllungen das Motiv der Lotusknospe in der That von Einfiuss gewesen
sein mag. Der Grund für die Einfügung dieser knospenartigen Füllung
in die Zwickel liegt aber jedenfalls ausserhalb der symbolischen Be-
deutung der Lotusknospe und ist, wie eben gezeigt wurde, wohl haupt-
sächlich ästhetisch-dekorativer Natur.
2') Wir werden noch des öfteren Veranlassung- haben, die Bedeutsamkeit
dieses Postulates innerhalb der antiken Ornamentik zu erproben. Der Nach-
weis, dass demselben eine weit verbreitete, primitive ästhetische Em-
pfindung- zu Grunde liegt, wird g-leichfalls an geeigneterer Stelle Einschaltung-
finden.
64 -^- Altoriontalisclies.
Wie -svichtig- gerade der Yolutenkelch bei der Zusammensetzung'
der egyptischen Palmette gewesen ist, erhellt am besten daraus, dass zahl-
reiche Beispiele vorkommen, an denen der bekrönende Fächer in Weg-
fall gekommen ist. An Fig. 19 allerdings ist dieser Wegfall nur ein
scheinbarer, die einzelnen Blätter der Fächer sind zwar nicht in
Zeichnung ausgeführt, aber der Gesammt-Aussencontour desselben ist
deutlich umschrieben. Diese Stilisirung der Krone läuft vielmehr ganz
parallel jener in Fig. 13 beobachteten, wo die Blätter der Krone völlig
in der gleichen Weise nicht einzeln ausgeführt, sondern nur durch den
Gesammtcontour angedeutet sind.-'') Eine zweifellose Eeduction des
Palmettenmotivs bietet dagegen Fig. 20, nach einem Kapital aus der
Zeit Thutmes' TIT. Hier haben wir, wenn wir von der untersten Blätt-
rig, ly. Fig. 20.
Egyptische Palmette Volutenlielcli mit blossem Zäpfchen
mit scbematiscb gezeichnetem Ulattfächer. als Zwickclfüllunp:. Aus Karnak.
hülse des Kapitals absehen, bloss einen Volnienkeleh mit zwiekel-
füllenden Zäpfchen. Da gilt es aber vor Allem, den Nachweis zu
liefern, dass wir es in der That mit einer Verkürzung des schon
fertigen Palmettenmotivs zu tliun liaben, und nicht umgekehrt mit einer
früheren einfacheren Vorstufe, aus welclier sich unter Hinzufügung
des Fächers die Palmette erst naclilräglich entwickelt hätte. So viel
nun bis jetzt bekannt, ist die T.ilincttc frühfr-") an r)rnl<ni;il(rn iiacli-
-••) Diese Parallele scheint übrigens g'eeignct, uns vollends zu bestärken in
der Ueberzeugunff, dass der krönende Fächer der Pabnette eben als Blüten-
krone und nicht als Fruchtknoten, wie Goodyear will, aufzufassen ist.
'■'') Nach Goodyear (S 112j unter Berufung aul'Flinders Petrie an Aniuieten
aus der XII. Dyn., «lie Palmette mit blosser Contourumschreibung des Fächers
sogar schon an Denkmälern aus der Zeit der TV. Dyn.
1. Egyptisches. ß5
geAviesen als der blosse Volntenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir
für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über
dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben AYüssten,
wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut
motiviren lässt.
Es wurde schon bei Besprechung des Yolutenkelches (S. 61) darauf
hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren-
gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst-
lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich
in der Kunst des iSTeuen Reiches überaus maassgebend geworden ist.
Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses
Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte,
dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen-
ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge-
wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand
aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die Avohl
auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansätze
hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren
Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund-
motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich
die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu-
tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitals in Fig. 20
aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich
um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man
dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen
hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund-
legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent-
sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es
klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen.
Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches
als bevorzugt der Volutenkelch auf-^). Ich halte nun dafür, dass diese
Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers
zur Folge gehabt hat: man Hess den Fächer zunächst an solchen Bei-
spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente,
und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt
hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an
■^*) Beispiele für solche Verwendung beider Formen an Geräthen, Fächern,
Geissein u. dgl. bei Lepsius ITT. 1 und 2.
Riegl, Stilfrageii. "
(3ß A. Altorientalisches.
dem Kapital aus Karnak (Fig. 20). In letzterem Falle war aber. Avenn
schon der Fächer in Wegfall kam, der krönende Zapfen ein unimi-
gäugliches Postulat des altegyiitischen Kunstsinns, und in der That ist
mir kein Beisjüel eines frei endigenden egyptischen ^'olul^'nkelehs ohne
zwickelfüllendem Zäpfchen bisher bekannt geworden --'i.
Der Hinwegfall des krönenden Fächers hat natürlich zur Folge
gehabt, dass an dem abbreviirten Palmettenmotiv auch die Projektion
in der halben Vollansicht vollständig unterdrückt worden ist. Es blieb
bloss die Projektion des Kelchs in der Profilansicht, und in der That
erscheint der frei endigende Volutenkelch in der Kunst des Neuen
Eeiches vollständig gleichwerthig mit den fnilur betrachteten reinen
Lotusblüthen-Typen in Seitenansicht (Fig. 7, 8). Die aus dreieckigen
Blättern gebildete Hülse aber, die wir an Fig. IG und 10 neben den
Voluten des Kelches wahrnehmen, braucht uns selbst dann nicht zu
verwundern, wenn wir sie thatsächlicli als Pleonasmus gelten lassen
Avollen, da die Ineinanderschachtelung von Kelchen, wie zahlreiche
Beispiele, namentlich von gemalten Kapitalen, bcAveisen, gleichfalls
einer bestimmten Tendenz der altegyptischen Kunst entgegenkommt.
Die gegebene Erklärung für die Ausbildung des Volutenmotivs in
der altegyptischen Kunst gewinnt eine Aveitere Stütze durch den Um-
stand, dass selbst das glockenförmige (das sogen. Papyrus-) Profil ge-
legentlich beiderseits eine volutenartige Krümmung erfahren hat, und
zwar überaus bezeichnendermaassen bloss an solchen Beis})ielen, wo
das betreffende 3Iotiv als Ansatz für irgend einen Gegenstand (ein Ab-
zeichen, Spiegel u. dergi.) dient 2").
Hiermit liaben wir die wichtigsten vegetabilischen Formen kennen
gelernt, Avelche die altegyptische Kunst gebraucht und, Avie es allen
Anschein hat, auch selbständig erfunden hat. Wir haben sie sämmt-
lich, nach Goodyear's Vorgang auch den Papyrus, von dem echten
egyptischen Lotus abgeleitet. Einige minder A\'ichtige Varianten dürfen
wir hier ausser Betracht lassen; sofern dieselben dennoch .iiir dir.
Fjitwicklung des l'fianzcnornaments ausserhalb Egyptens von irgend
welchem Einflüsse gewesen sein könnten, Averden sie an JinA^eilig ge-
(■i'_nictcr Strllc y.ur S])r;icl)e gebnicht Avcrden.
■•) l;if iiaiurgcinassc \ (■r^Tosscnuiy und Verlängerung', die das Zäi)rclicn
in solchem Falle erlitt, scheint (Joodycar in ganz besonderem Maasse zu seiner
Hypothese bestimmt zu lialx-n, darin nidits als eine umgekehrte Lotusknospe
zu erblicken.
■•") Beispiele hei Goodyear YII. 2, ?,.
1. Eg-yptisches.
67
Es obliegt uns nunmehr die Art und Weise festzustellen, in welcher
die erörterten pflanzlichen Einzelmotive unter einander in Ver-
bindung gebracht worden sind, sobald die Aufgabe herantrat, mit
denselben, sei es bandartige Streifen, sei es grössere Flächen zu verzieren.
Ueberaus häufig begegnet da die Verbindungslosigkeit, die einfache
Xebeneinanderreihung wobei das künstlerische Motiv in der Alternirung
von Blütheii und Knospen (Fig. 11), grossen ausladenden Fächern und
kleinen spitz zulaufenden Zwischengliedern gelegen war. Solchermaassen
gereihte Lotusblüthen und Knospen (oder Palmetten) eigneten sich wohl
zur Verzierung eines fortlaufenden Bandes, etwa eines Gesimses, eines
Frieses, einer Bordüre, minder dagegen zur Musterung einer grösseren
Fläche, Avas schon durch die einseitige Richtung der Einzelmotive er-
schwert wurde. Dagegen liess sich die Auskunft finden, dass man ZAvei
Fig. 21.
Bordüre mit gegenübergestellten Reiben von Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
solche Reihungen einander gegenüberstellte, so dass die eine Reihe
in die Zwischenräume der anderen gegenüberstehenden zahnartig ein-
griff. Die einseitige Richtung wurde dadurch paralysirt, und man
konnte durch beliebige Wiederholung des Streifens eine beliebig grosse
Fläche verzieren, ohne nach t:4ner Richtung hin zu Verstössen (Fig. 21).
Im Grunde genommen kam man aber auch damit über eine blosse
Streifenmusterung nicht hinaus.
Bei der einfachen verbindungslosen Reihung ist nun die Kunst des
ISTeuen Reiches von Egypten nicht stehen geblieben: sie hat aucli die
einzelnen Pflanzenmotive unter einander durch BoqenJinien verbunden.
Betrachten wir den Bordürestreifen Fig. 22^°^). Wir sehen da Lotus-
blüthen abwechselnd einmal mit Lotusknospen, das anderemal mit pal-
mettenfächerartigen Varianten des Lotusprofils, wie sie die frei und
^'^^) Nach Prisse a- a. 0. Courounements et frises fleuronnees No. 6.
5*
68
A. Altorientalisches.
imbeliindert schaltende Technik der "Wandmalerei ans der typischen
Form heraus spielend erzeugt haben mochte: alle drei Motive aber
untereinander verbunden durch rundbogenförmig" geschwungene Stengel.
Es ist dies, die gefälligste Art von Verbindung zwischen
Blüthenmotiven, Avelche die vorgriechischen Stile geschaffen
haben, und nicht l)loss für die altorientalischen (^altegyptisch, assyrisch,
phönikisch. persisch), sondern selbst noch für gewisse orientalisirende
griechische Stile (rhodische, kyrenische Vasen) typisch. Die Alternirung
dreier Motive, wobei in Folge der steten Wiederholung des einen (der
Blüthe) bereits eine Art rhythmischer Gruppirung (von Knospe zu Knospe
oder von kleinerer Blüthe zu kleinerer Blüthe) hergestellt erscheint,
ist gleichfalls besonders zu vernun-ken. Dagegen sind die füllenden
Rosetten und kleinen tropfentVinnigen Knospen fin der Reproduction
Hogenfries mit LotusblUthcu mid Kiiosiieii.
Fig. 22 weggelassen) ohne weitere Bedeutung für nnscren (Tcgenstand:
ein malerischer Ueberscliwulst, durch den wir uns in der Fixirnng des
Grundschemas nicht beirren lassen dürfen.
Ein solcher Bogenfries mit Pflanzenmotiven wies ebenso wie die
blosse Reihung nur nach einer Seite, eignete sich somit in dieser Form
wohl für Bordürstreifen, aber nicht für grössere Flächenfelder. Um
ihn für letzteren Zweck verwendbar zu machen, Hess sich aber wieder
dieselbe Auskunft treffen wie Ix'i der einfacluMi I»riliung durch Gegen-
überstellung einer zweiteii in die erstere eingreifenden Reihe Fig. 23^').
"j Dieses Auskunt'tsniittcl entsprach zugleich einer bcstinuiiten niik-htigen
TeiKlcnz des rein oniaincntalen Kunstschaft'ons, die sich namentlich in der
;,'-eonietrischcn Ornamentik in hohem Grade bemerkbar gemaclit liat: jedem
ornamentalen Ek-mcmte ein womöglich congnientes Gegenüber zu geben.
Auf solche Weise cntstan<l(5n die sogen, rcciproken Ornamente, unter denen
der laufende Hund und der einfache Mäander die s:rö.sste Berühmtheit erlan"-t
1. Egyptisches.
69
Noch eines vereinzelten Versuches, die ornamentalen Lotusmotive
unter einander in Verbindung zu bringen, niuss hier gedacht werden,
nicht zwar als ob es sich dabei um ein für die Fortentwicklung wich-
lunenmustei'ung aus gegenübergestellteu Bogenfriesen mit Palmetten und Profil-Lotusblüthen.
tiges Beispiel handeln würde, sondern nur vom Standpunkte des all-
gemeinen Interesses, da Avir auch hieraus wieder ersehen, dass die Alt-
haben. Abel" auch die Gamma- und Taufiguren in ihrer wechselseitigen Ver-
schränkuug in den Säumen gehen auf dasselbe Bestreben zurück, die Richtung
eines Ornaments durch seine Wiederholung im Gegensinne aufzuheben. Mit
geometrischen Ornamenten liess sich in der That die ganze Fläche einer
Bordüre in solche zwei congruente Streifen zerlegen, die fortlaufend von oben
und unten ineinandergriffen. Bei den vegetabilischen Ornamenten hatte dies
natürlich seine Schwierigkeiten, und so begnügten sich die Altegypter dies-
bezüglich mit der blossen Wiederholung der Motive im Gegensinne, wobei
das Problem, pflanzliche Motive in ein reciprokes Schema zu bringen, von
der sogen, mauresken Kunst gelöst, was dann von den raaurisirenden euro-
päischen Renaissancekünsten eine Zeitlang auf beschränktem Gebiete nach-
geahmt wurde. Vgl. Spanische Aufnäharbeiten, in der Zeitschr. des bayr.
KunstgCAverbevereins in München, Dec. 1892.
:o
A. Altoricntalisches.
egypter keineswegs starr bei ihren ursprünglichen Bildungen stehen
geblieben sind, sondern auf verschiedenen Wegen getrachtet haben, die
Verwendung der überkommenen Elemente mannigfaltiger und reicher
zu gestalten. ' So sehen wir nämlich in Fig. 24 eine Art Ranke in
Kreisform eingerollt und mit eben solchen fortlaufend durch Tangenten
verbunden, von denen je eine Lotusblüthe und Knospe abzweigen.
Die einzelnen Kreise sind mit Rosetten gefüllt. Das ganze Motiv er-
innert in Folge der Verbindung mittels Tangenten an ähnliche Bildungen
in der frühgriechischen Kunst, insbesondere im Dipylon, welch letztere
aber lediglich geometrischer Natur sind und keinerlei vegetabilische Ele-
mente tragen. Von der lebendig bewegten griechischen Ranke ist
dieses steife einseitige Schema noch dnreli eine ganze "Welt getrennt.
Fig. 21.
Jlankenartige Verbindung von Lotiisblütlun und Knospen.
Eine Vereinigung geschwungener Stengellinien mit Lotusblütlien
'in den verschiedenen Profilansiehten. die wir kennen gelernt haben)
treffen wir ferner an dem nicht seltenen Geschlinge, das die l)eiden
Reiche von Ober- und Unteregypten syml)olisiren soll, z. B. l)ei Lepsjus II.
120, III. 10. Der elegante Schwung der Linicm und die Gruppirung der
Blüthen untereinander bietet uns in der Tliat eine Vorahnung dessen,
was die Griechen später mit diesen — Avenn einmal frei bewegten —
Motiven anzufangen wissen Averden. Aber die Bedeutung des in Rede
stehenden Geschlinges Avar )iicht so sehr <ine ornamentale als eine
gegenständliche und es hat sich auch dai-an, so \iel wir srlicii, keine
weitere Entwicklung geknüpft.
Die \'erl»indung der gereiliten Lotus-Motive mitlels Hogeniinien hat
in der Xatnr kein Voi'])ild, sie ist zweifellos eine rein ornamentale
Erfindung. Wenn wir hinsichtlich der Stilisirung der Lotusblütlnui,
die ja in der Mehrzahl der Typen, (insbesondere beim glockenförmigen
und beim Volutenkelcli) der realen Ersclieinung der Lotusblüthe el)en-
/
1. Egyptisches.
71
falls nur in sehr geringem Maasse entsprechen, die Unzulängliehkeit
einer vielfach noch primitiven, ohne belehrende Einflüsse von Aussen
her aus sich selbst heraus schaffenden bildenden Kunst zur Mitver-
antAvortung heranziehen dürfen, so fällt ein solcher Entschuldigungs-
grund bei den verbindenden Bogenlinien hinweg: man hatte offenbar
gar nicht die Absicht hierin bloss die Xatur zu kopiren, sondern man
schuf sich aus besonderen Beweggründen — und diese konnten doch
wohl nur rein künstlerischer Xatur sein — eine gefällig»' Verbindung
zwischen den gereihten Blüthenmotiven : der altegyptisehe Bogenfries
kann daher nichts Anderes gewesen sein als blosses Ornament''-).
Wir begegnen aber in der altegyptischen Kunst, insbesondere au
Denkmälern aus der Zeit des Neuen Reiches, noch einem anderen
Schema von Flächenverzierung, in welchem die verbindenden Ele-
mente als das ]Maassgebende, Musterbildende erscheinen, die
Fig. 25.
Spirale mit zwickelfüllenden LotusbUithen.
vegetabilischen Motive dagegen als das Untergeordnete,
Acciden teile. Es sind dies jene Flächenverzierungen, denen das
Motiv der Spirale zu Grunde liegt.
Die Spirale in der flächenverzierenden Kunst ist ursprünglicli ein
rein lineares, also ein geometrisches Element. Wir werden weiter unten
*-) Das Gleiche könnte von einer anderen Art der Verbindung- von Lotus-
motiven gelten. Man findet häufig die von einer Lotusblüthe bekrönten
langen Schaftsteng-el mit kleinen tropfenförmigen Gebilden besetzt, denen
augenscheinlich dasselbe Vorbild zu Grunde liegt, wie den tropf enförmig-en
Zwickelfüllungen. Goodyear (S. 50) hat dieselben ohne Zögern für Lotus-
knospen erklärt, aber zugleich auf den Widerspruch einer solchen Anbringung
der Knospe längs des Schaftstengels mit der Wirklichkeit hingewiesen, da in
der Xatur jede Knospe von einem selbständigen, aiis dem Wasser empor-
ragenden Stengel getragen wird. Es bleibt sonach kaum Anderes übrig, als
auch diese Art der Verbindung zwischen Knospen und Blüthe aus bloss deko-
rativen Beweggründen heraus zu erklären. In diesem Falle nitn, sowie bei
der Verbindung mittels Bogenlinien bilden immer die Blüthen- (oder Knospen-)
Motive die Hauptsache, die verbindenden Linien die Nebensache, das Accidens
72 -^- Altorieiitalisches.
auscbeiuend primitive, von Aussen lier unbeeiiiflusste Künste zur Yer-
gleichung heranziehen, die das Pflanzenornament gar nicht kennen, aber
die Spirale in ausserordentlichem Maasse ausgebildet haben; es soll
dann auch auf die vielerörterte Frage nach der Entstehung der Spirale
mit einigen Worten eingegangen werden. "N'orerst wollen wir aber die
Ai"t der Verwendung der Spirale in der altegyptischeu Kunst in Be-
tracht ziehen. Das ursprüngliche Schema ist auch hier dasjenige
des Streifens, der Bordüi'e, des Frieses (Fig. 25). Die Spirale rollt sich
Fig. 2ü.
Innenmusterung mit Spiralen und zwickelfüllcndem Lotus.
ein und wieder aus; der Mittelpunkt wird im vorliegenden Falle deut-
lich durch eine Rosette gekennzeichnet; ist das Ornament in kleinerem
Maassstabe gehalten, namentlich an Metallgefässen, dann erscheint
anstatt d<r viell)];ittrigcn Rosette ein blosser Kreis, das sogen. Auge.
Die Zwickel , welch«- die ver1)ind<'nden Liitien mit der Peripherie
der kreisförmigen Einrollungen bilden, sind mit deutliclicn Lotus-
blüthen in l'votW ausgefüllt. Es leidet hiernach keinen Zweifel: das
maassgebendc Verzierungselement ist hier die Spirale, dif
lilüthenmoti ve sind dagegen lUosse Zuthaten, hervorgerufen
durch das Postulat der Zwickclfülluncr.
1. Egyptisches.
73
Mittels der Spirale lassen sich aber auch ganze Flächen in zu-
Sc-immenhängencler Weise verzieren. Ein einfacheres Beispiel zeigt
Fig. 26. Zu Grunde liegt das Spiralenschema von Fig. 25, fortwährend
neben einander wiederholt, aber so, dass die Einrollungen immer im
Gegensinne geschehen, d. h. bei der einen Spii'ale rechts, wenn die
benachbarte Spirale sich links einrollt. Das übrige besorgen die
vegetabilischen Zwickelfüllungen, die aber nicht Avie in Fig. 25 in die
Zwickel, Avelche die einzelnen Spiralen an sich tragen, eingefügt sind,
sondern in die Zwickel, welche die Einrollungen von immer je zwei
Fig. 27.
Innenmusterung mit Sxjiralen, zwickelfüUendem Lotus, und linkranien.
benachbarten Spiralen in Folge ihrer Annäherung an einander bilden.
In diesem Falle sind also die Lotusblüthen nicht mehr blosse Z^vickel-
füllungen, sondern sie dienen zugleich dazu, um die Verbindung
zwischen den einzelnen Spiralen und damit ein zusammenhängendes
Muster über die ganze Fläche hinweg herzustellen. Dass aber diese
erhöhte Bedeutung der vegetabilischen Motive innerhalb des Spiralen-
schemas nicht die ursprüngliche ist, und dass wir nach wie vor die
geometrische Spirale als das Hauptmotiv dieser Art von Flächenver-
zierung ansehen müssen, lehrt eben das einfachere Beispiel Fig. 25.
Ein noch reicheres Beispiel bietet Fig. 27. Die einzelnen Kreisein-
rollungen sind hier in mehrfacher Weise untereinander verbunden, so
74 -^- Altorientalisches.
dass an jedem \n^e statt zweier Linien deren fünf znj^aniiui'iilanfen.
Znr Zwick elfüllunii' sind neben Lotusblütlien ancli Knospen verwendet,
Avas mit Kücksielit auf die Dentnnii' der Tropfenfüllungvn an den
Volntenkelelien von Bedeutung- ist"^\
Wenn Avir an allen diesen Beispielen (Fig*. 25 — 27) das Element der
Spirale als das Maassgebende, das vegetabilische Motiv dagegen als
blosses zwickelfüllendes Accideus aufgefasst haben, so ist Goodyear in
dieser Beziehung der gegentheiligen ^Icinung. Entsprechend der (ii'und-
tendonz seines Buches, Avomöglicli alles antike Ornament aus der Ent-
wicklnng des Lotusmotivs abzuleiten, will er auch die Spirale nicht
als ein selbständiges Element, sondern nur .ils blosses Derivat vom
Lotusmotiv gelten lassen. Den Ausgangspunkt hiefür erblickt er in
den Voluten der Lotusblüthe mit A'olutenkeleh. Goodyear dünkt die
Spirale nichts anderes, als eine \'olnte. ^'on solchem Gesichtspunkte
betrachtet wären aber die Lotusblüthen in Fig. 25 — 27 niclii mehr
blosse accidentelle Zwickelfüllungen, sondern sie müssten dann aucli
in allen diesen Fällen für die Hauptmotive angesehen werden. Den
Beweis liierfiir führt Goodyear^^) hauptsächlich an der Hand vuii
Scarabäen: er konnnt hierbei zu dem Schlüsse, dass das Endresultat
des Ausbildungs- und Ablösungs-Processes der Voluten in den concen-
trischen Ringen vorliege. Dass Goodyear ausser Stande ist. den his-
torisclii'u \'erlnuf des liezüglichen Processes an der Hand eines d,-itirien
Materials durchzuführen, giel)t er sellist zu. Wir kennen l.)enkm;ilei- der
Spiralornamentik liauptsäcidich ans dem Neuen Reiche: gewiss wird sie
aber schon iin .Mten Reiche in umfassendem Gebrauclie goi.indeii sein,
wenn auch die Belege dafür sehr gering an Zahl sind. Gleichwohl
weiss Fliuders Petrie einen Scarabäus mit dem ausgebildeten Schema
von Fig. 25 in die frühe Zeit der XL Dynastie zu datiren^'*). einen
anderen ohne Zwick(?lfüllungen in die Zeil dei- A'. n\i):tstie. l'ine
scheinl)are Rechtfertigung der Goodyear'sclien HyixUiiese liefern nur
jene Beisfjiele, an den(Mi die Lotnsblfithen als Zwickelfüllnngen zwischen
zwei sell)st;indigeii fjuroilungeii M-Mg. ".Nii fiingii'cn. welch letztere d.imi
als Volntenkelch für die Blüthe aufgeiasst werden ktinntcii. (ierade an
den einfachsten Beispielen aber (Fig. 25) schliesst sicli ;in die lulh-nde
^•^) Die Knliköpfo, sind ein geg-ciistäiulliches Symbol (der Jsis-Ibitlior; und
werden von Goodyear u. A. als die frühesten \'orläurer der Hukranicn der
griechLsch-römischen Dekorationskmist hczciclmet.
'*) S. 81 fl'., Taf. VIII.
'•'■) Bei Goodyear i'al. VIII. NO. 17.
1. Eg-\ptisches. 75
Zwickelblume immer jeweilig nur eiue Einrolluug als supponirte Volute
an; das Fallenlassen der zweiten Volute erklärt sich Goodyear leichten
Herzens so, dass es eben nicht anders möglich war, wenn man ein fort-
laufendes Muster von zusammenhängenden Lotusblüthen herstellen AvoUte.
Dass aber die Altegypter mit ihren typischen und hieratischen Mustern
gar so willkürlich umgesprungen wären, um nur einen untergeordneten
dekorativen Zweck zu erreichen, dafür bleibt Goodyear den NacliAveis
schuldig und dies ist wohl auch der Punkt, an dem seine Beweisführung
scheitert.
Das Material aus den Stadien früherer Entwicklung, das Goodyear
für seine Beweisführung fehlt, lässt auch uns im Stiche, Avenn wir
unsere Erklärung an der Hand von Denkmälern belegen wollten. Aber
wir sind wenigstens im Stande analoge Erscheinungen von anerkannt
primitivem Kunstgebiete her beizubringen, aus deren Betrachtung sich
die für unsere bezügliche Erklärung grundlegenden zwei Thatsachen
ergeben werden: erstens, dass dem Element der Spirale in primitiven
Kunststilen ein rein geometrischer Charakter innewohnt, und zweitens,
dass das Postulat der ZAvickelfüllung in denselben pi-imitiven Kunst-
stilen als ein sehr Avichtiges und maassgebendes empfunden AA'urde.
Ein solches primitives Kunstgebiet ist dasjenige, das die Europäer
bei den Eingeborenen Neuseelands, bei den Maori, vorgefunden haben.
Heute ist diese Kunst unter europäischem Einflüsse allerdings schon so
gut Avie zu Grunde gegangen; aber man hat rechtzeitig Denkmäler der-
selben in genügender Anzahl in europäische Museen zu retten gcAA^usst.
Eine sehr bedeutende und lehrreiche Collektion, die der österreichische
Reisende Andreas Reischek zusammengebracht hat, ist in das Wiener
naturhistorische Hofmuseum gelangt. Das Studium dieser Sammlung
ergiebt in Bezug auf die Ornamentik ein festgeschlossenes und abgerun-
detes, aber doch von Allem Avas wir sonst an Künsten der Naturvölker
kennen, eigenthümlich abweichendes Bild, yvie es kaum anders zu er-
klären ist, als unter Annahme einer lang andauernden, selbständigen,
auf ihren eigenen Spuren einhergegangenen Entwicklung. Dazu kommt,
dass Neuseeland kein Metall besitzt, seine Eingeborenen daher auf den
Gebrauch \"on Steingeräthen angewiesen AA'aren, in deren Herstellung
sie eine überaus grosse Geschicklichkeit erwarben. Wären die Maori
in der That, wie Einzelne (darunter begreiflichermaassen auch Goodyear)
annehmen möchten, mit der malayischen Kulturwelt in Verbindung
gestanden, so Aväre es kaum denkbar, dass nicht ab und zu Metall-
geräthe auf die Inseln gekommen Avären. MöglicherAveise haben auch
:6
A. Altorientalisches.
die Maori vor Zeiten, bevor sie ciuf Xeuscclaiul isolirt wurden, den
Gebrauch der Metalle gekannt: denkbar wäre dies immerbin. Aber
dann müsste seither ein sehr beträchtlicher Zeitraum verflossen sein,
wie wir ihn für das Zustandekommen einer so festgesehlosscMien „Stein-
zeif'-Kultnr unbedingt voraussetzen müssen.
Angesichts der vielen durch sei es stabilen, sei es zufälligen Handels-
verkehr vermittelten Beeinflussungen, die es uns in der Eegcl so schwer
machen an den Kunstübungen lu-iniitiver Völker das wirklich Autoch-
thone, Urabgekonimene- von dt-m Hinzugetragenen, dureli ^lischung Er-
Fig. 28.
Tbeil eines ilurchbrocheueu Canocschiiabcls der Maori.
zeugteil ZU sclieiden, ist es schon ein nngeliciircr Gewinn ein Gebiet
zu überblicken, das verrauthlich seit Jahrtansenden eine von Aussen
unbeeinflusste, ganz selbständige Entwiekhuig genonmicn hat^'').
Da ist es nun vom grössten Interesse zu sehen, dass in der Orna-
m(;ntik der Maori die Spirale eine überaus maassgebende Rolle spielt.
Sie findet sich da in Holz mittels Kerbschnitt eingearbeitet, dann in
Holz durchbrochen, sodass man ein Metallgitler zu sehen wähnt (Kig. 28),
ferner in nussartige Fruclitsclialeii gravirt iTig. -JI»;, wo sich ilie Spirale
^*) Vergl. die Notiz über Neusceländi.sclic Oniaiiiciitik in den Mittheilung-cii
der anthropologi.schen Gesellschaft in Wien 1.S90, 8. Sl tV. TTieians unsere
Figg. 28, 2!J, :}0.
1. Egyptisclies.
77
bandförmig glatt von dem scliraffirten und durch den eingedrungenen
Schmutz geschwärzten Grunde abhebt, endlich in Stein eingegraben
und dann öfters von eingeschlagenen Punkten begleitet (Fig. 30). Diese
Spirale erweist sich als nächstverwandt mit der altegyptischen durch
den Umstand, dass sie sich, so wie diese, in kreisförmigem Schwünge
erst ein- und dann vom Mittelpunkte wieder herausrollt. In den grossen
Seitenfüllungen der Canoes (Fig. 28) beschreibt jede Spirale eine grössere
Anzahl von Windungen , bis im innersten Mittelpunkte die ein- und die
ausrollende Spirallinie aneinander absetzen: man sehe aber auf der-
selben Figur die äusserste Windung rechts, wo die eingeschnitzten
Fig. 29.
Gravirung auf einer Fruchtschale der Maori.
Flg. 30.
Gravirung an
einem Netzsenker der Maori
Spiraleinrollungen bloss durch Tangenten untereinander verbunden sind:
also im Wesentlichen das altegyptische Schema von Fig. 25. Diese selbe
Windung stellt ein schmales Bordürenband dar: die Zwickel, Avelche
die Einrollungen mit den Rändern des Bandes bilden, sind durch drei-
eckige Figuren oder durch gebrochene Stäbchen ausgefüllt. Hierin
äussert sich also vollends der enge Zusammenhang mit Fig. 25, nur
dienen an letzterem Beispiele vegetabilische Lotusblüthen zur Zwickel-
füllung, w^ährend an der neuseeländischen Schnitzerei zu diesem Zwecke
gemäss dem ausschliesslich geometrischen Charakter dieser Ornamentik
blosse Linienconfigurationen herangezogen erscheinen.
Es gilt nun zu untersuchen, ob die Ausbildung der Spiralorna-
mentik bei den Neuseeländern in einer mit der altegyptischen nahe
78 A. Altorientalisches.
verwandten Kiohtung- nicht etwa ans; änssereu Gründen erfolgt sein
könne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in
Folge bestimiuter, rein technischer NothAvendigkeiten , in Folge eines
daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen
Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so niüsste
untersticht Averden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den
Altegypteru zutrafen. Es ist aber i'ine ausserordentlich bemerkens-
Averthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die
gemeinüblichen Ableitungen dieses MotiA's aus rein technischen Ur-
spilingen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall-
ornanient (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und
daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. IG?) scheint
Aviederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des
textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen
Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso A^ermissen Avir auf
Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die
formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten A^ermitteln können. Wohl
giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel-
punkt«' entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen-
fällige Spiral Windung mit einigem guten AVillen herausgebracht werden
kann. Und auf diese Avollte man im Ernste die gesammte Spiraloriia-
mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und
Stein, ist es unbegreiflicherAveise, das sich die Maori ausgesucht haben,
um in dasselbe mit ihren ObsidianAverkzeugen unter Aufwendung un-
säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund
allerdings verwe-ndeten sie liiefür, der diesem Processe Aveniger Wider-
stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat
Aveder mit nn-tallischem noch mit textilem Charakter irgend etAvas zu
thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich
in den Täto wirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen,
die aus Lubbock's „Entstehung der Civilisation" entlehnt sind. Eine
solche Eilt Wicklung der Spiralornamentik müsstc uns selbst dann i-iUhscl-
liaft erscheinen, Aveini Avir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor-
mals die Kenntniss der Metalle und des Dralitzielicns besessen liaben.
Gerade dieses Beisjjiel sagt uns vielmehr (eindringlich, dass es keines-
Avegs technisclie Vorgänge gcAvesen sein müssen, die bei der Urzeugung
der Motive die maassgebende Kolle gespielt halx'ii^^).
''; Eine sehr Iclirrciche und ühcr.sicht liehe ZusanimenstoUiing- der mannig-
fachen Verwendung.sarten der Si»irale in der Kunst gab A. Andel im Pro-
1. Egyptisches.
79
Fassen "svir dagegen die Spirale als geometrisches Kunstgebilde,
hervorgebracht auf dem "Wege rein künstlerischen Schaffens, im Sinne
unserer Ausführungen im ersten Capitel S. 24. Wir fragen alsdann
nicht nach Naturerzeugnissen oder Produkten technischer Kunstfertigkeit,
welche zur Erfindung des Spiralenmotivs geführt haben mochten, son-
dern nach der Ucächst einfacheren geometrischen Form, aus welcher die
Spirale im Wege künstlerischer Fortl^ldung hervorgegangen sein konnte.
Unter den planimetrischen Grundmotiven steht ihr der Kreis am nächsten.
Der Kreis ist das vollkommenste aller planimetrischen Geljilde, er er-
füllt das Postulat der Symmetrie nach allen Seiten liin. Dies allein
Fig. 3J
würde schon genügen den Umstand zu erklären, dass der Kreis weit-
verbreitete AnAvendung in den geometrischen Stilen gefunden hat. Die
Gliederung des Kreises erfolgte am vollkommensten durch seinesgleichen,
in koncentrischer Eichtung, durch eingeschriebene kleinere Kreise oder
durch Betonung des Mittelpunkts. Setzte man Kreise unter einander
mittels der Linie in Verbindung, so war das Element der Tangente
geschaffen, Koncentrische Kreise, durch Tangenten verbunden, stehen
aber dem einfachen Spiralenband (Fig. 25) in der äusseren Erscheinung
bereits sehr nahe: wollte man dieselben mit einem fortlaufenden Zuge
hinzeichnen, so brauchte man bloss die Tangente in den äusseren Kreis,
g-ramm der k. k. Staats-Unterrealschule zu Graz 1892: Die Spirale in der
dekorativen Kirnst.
80 -^- Altorientalisches.
diesen in den näclistinneivn und so Aveiter übcrzuseldeifen. um dann
vom Mittelpunkte heraus wieder in die nächstfolgende Tangente über-
zugehen. Freilich ist diese Entwicklungsreihe a priori konstruirt und
bedarf erst des Beleges an der Hand von erhaltenen Denkmälern.
Aber die üebersicht von Tal". VIII bei Goodyear. AV(>lelie diese Eeilie
— freilich leider ohne eiue gesicherte chronologische Ordnung^ lückenlos
herstellt, wird manchem Beschauer den geschilderten Entwicklungsgang
weit natürlicher erscheinen lassen, als den umgekehrten, Avelchen Good-
year annimmt, wonach die Spirale als vegetabilisches Motiv (der Voluten-
kelch der Lotusblüthe) das Ursprüngliche gewesen Aväre, und im Wege
der schrittweisen Denaturirung und Geometrisirung allmälig zum blossen
linearen Kreise mit mittlerem Punkte zusammengeschrumpft wäre.
Um nun kein Missverständniss aufkommen zu lassen, Avill ich gleich
ausdrücklich erklären, dass ich die eben versuchte Ableitung der Spirale
aus dem Kreisornamente keineswegs für die einzig mögliche, und darum
für eine zwingende halte. Es war mir auch nicht so sehr darum zu
thun, die überzahlreichen im Schwange befindliehen Erklärungsversuche
für die Spirale und dergleichen allgemeine und uralte Ornamente um
einen neuen zu vermehren. Meine Absicht ging vielmehr dahin, dar-
zuthun, dass eine solche Erklärung — Avenn sie schon geliefert werden
soll — nicht bloss an eine primitive Technik, oder'^m bestimmte, wenig
bedeutsame Naturvorl)ilder anzuknüiifen braucht, sondern, dass dieselbe
auch auf ornament-entAvicklungsgeschichtlicliem Wege durchgeführt
werden kann, womit wir Avenigstens weit mehr auf dem ureigenen Boden
der Kunst bleiben, als mit der Citirung irgend einer todten Technik
oder einer leeren Abschreibung der Natur, und zwar von solchen
Erzeugnissen der Natur, die bei ihrer geringen Bedeutsamkeit dem
primitiven Menschen gar nicht aufgefallen sein können ^^\
Der Vollständigkeit halber muss hier auch der Stübcrselicn llv]'"-
these (üeber altperuanische Gewebemuster etc., in der l'\'stscln-ift des
Vereins f. Erdkunde in Dresden 1888) gedacht werden, die insofern der
vorhin versuchsweise gegebenen Ableitung des Spiralenmotivs nahe
kommt, als auch Stübel hiel)ei von den koncentrlschen Kreisen ausge-
gangen ist. Aber auf so zufällige Weise wie das Zusannnenbringcn von
bemalten Thonscherben oder das Zusammennähen gemusterter Stoffe,
pflegen Ornamente nicht zu entstehen, und am .illei-wenigsten solche, die
'") Die ihnen gefährliclieii edcr niitzliclieii Tiiierc IliIkmi die 'rroglodvten
wohl nachgebildet. al>er k(;in(! spirali^i-en l{e))rankoii, uml gewiss ;uicli uiclit
Geflechte, wenn si(! deren überlian])t besessen hätten.
1. Eg-yptisches. gl
über den ganzen Erdbcill ^'e^brc'ituno• gefunden haben. Uebrigens wird
Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments
interessirt, den Stübel'schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen.
Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst
erschienenen Schrift über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur-
motivische Wirbeloniamente in Amerika" (Wien, A. Holder, 1891) den
in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf liinwies, dass
einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B.
dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des
Rotirens, d. h. SichbcAvegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese
Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist
völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten älin-
liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An-
stoss zur ersten Entstehung des Spiral emnotivs nach dieser Seite zu
suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale
als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen
zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be-
zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen)
Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat^^).
Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen
Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus-
blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie
das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller-
dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster
u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen
Schmückungskunst ansehen , als welche dieselben Motive in den
zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären
Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu-
seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der
Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher
Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise
dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen.
Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungeu der Nase;
^^) Auch darin ist diesem Autor zuzustimmen, wenn er die „Erfindung
der Formen zunächst in der künstlerischen Anlag'e des Menschen und in dem
Drang-e nach einer Bethätigung- des Kunsttriebes begründet" ansieht, doch
geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten
wenn er das Citat: „geometric ornament is the offspring of technique" in
seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht.
Riegl, Stilfragen. 6
32 -^- Altorientalisches.
in die Zwickel der dieselbe schmückenden Spiralen sind beiderseits
füllende Schraffirungen eingezeichnet. Die Art und Weise die Spiralen-
zwickel mittels .Schraffen zu füllen, ist — wie ich gleich hier vor-
bemerken will — auch der mykenischen Kunst sehr geläufig; bei Be-
sprechung des Pflanzenornaments in dieser letzteren Kunst Avird auch
auf diesen Umstand zurückzukommen sein.
Hier am Schlüsse unserer Betrachtungen über die Errungenschaften
der Altegj'pter in der Heranziehung der Pflanze zu reinen Schmückungs-
zwecken erscheint es wohl angebracht, einige allgemeine Worte über
Stellung und Bedeutung der altegyptischen Kunst innerhalb der Ge-
schichte der dekorativen Künste überhaupt anzufügen. Soweit wir zu
sehen vermögen, ist die altegyptischc Kunst die erste gewesen, die
Elemente von unzweifelhaft pflanzlichem Charakter unter die reinen
Zierformen aufgenommen hat. Hat sie diesbezüglich eine Vorgängerin
gehabt, so müssen die Spuren des Daseins dieser letzteren vollständig
ausgelöscht worden sein; bis jetzt wenigstens sind solche nicht zu
Stande gebracht worden. Dagegen haben Avir im Capitel über den
geometrischen Stil (S. 16 flP.) primitive Künste aus verhältnissmässig frühen
Kulturperioden der Menschheit in der Hinterlassenschaft der aqui-
tanischen Höhlenbewohner kennen gelernt, die Avir somit bis zu einem
gewissen Grade als Maassstab für die Bourtheilung der EntAvicklung
der dekorativen Künste bei dem ältesten uns bekannt gewordenen
Kulturvolk, bei den Egyptem, benützen können. Welche Bedeutung
hat nun das Kunstschaff"en der Egypter für die Entwicklung der dekora-
tiven Künste im Allgemeinen gehabt?
Diesbezüglich führt die Betrachtung der altegyptischen Künste zu
einem sehr widerspruchsvollen Ergebniss. Die Egypter haben zwar
ornamentale Typen von, so zu sagen, ewiger Geltung geschaöen, aber es
drängt sich jeweilig sofort die Bemerkung auf, um wie viel besser es
späterhin Andere gemacht haben, und zwar nicht erst die gottbegnadeten
Hellenen, sondern selbst schon die Assyrer und die Phönikor. Besonders
augenfällig tritt ein anscheinender Mangel an natürlielier Begaluing
für dekoratives Kunstschaffen an den Bordüren zu 'l\ige, deren Ver-
liältniss zu den eingerahmten Innenflächen mit seltenen Ansnahmen
kein glücklich gewähltes ist. Noch Avenigcr erscheinen die Ecklüsungen
gelungen; das Auge wird von diesen häufig geradezu unangenehm
betroffen. Auch die an Zahl vorwiegenden geometrischen Muster in den
schmalen Bordüren dcnten auf eine Vernachlässigung dieser Seite des
Kunstschafl'ens. Gieichermaassen spielt in der altegyptischen Keramik
1. Egyptisches. §3
der einfache geometrische Dekor die überwiegende Rolle. Allerdings
kann man auch häufig die menschliche Figur zu blossen Schmückungs-
zwecken herangezogen sehen, doch wird uns dieser Umstand nicht mehr
so üben'aschen, seitdem wir gesehen haben, dass die plastische Wieder-
gabe von Naturwesen zu ornamentalen Zwecken dem Menschen bereits
auf der Kulturstufe der Troglodyten eigen war. Das Können dieser
letzteren blieb zwar hinter demjenigen der Egypter um ein Erkleck-
liches zurück, aber im Kunstw^ollen war der Abstand keineswegs ein
unüberbrückbarer. Die Verwendung der menschlichen Figur in Rund-
W'Crk zu einem Löffel-Handgrifl" ist nicht wesentlich höher zu stellen,
als diejenige eines Rennthiers zu ähnlichem Zwecke, namentlich wenn
dies in so kunstverständiger Weise geschehen ist, wie wir es in Fig. 1
kennen gelernt haben.
Man könnte aus dem Gesagten die Berechtigung ableiten, den Alt-
egyptern in Bezug auf die Entwicklung der dekorativen Künste nicht
ein so entschiedenes Hinausschreiten über die Kunststufe der Troglo-
dyten zuzubilligen, als man es nach anscheinend so fundamentalen
Leistungen wie die Schaffung von pflanzlichen Ornamenttypen, erwarten
dürfte. Ein solches Urtheil wäre aber ein einseitiges; um jener Er-
scheinung wirklich gerecht zu werden, muss man die Stellung der alt-
egyptischen Kunst in der Kunstgeschichte überhaupt in's Auge fassen.
Da neigt sich die Wage sofort zu Gunsten der Egypter. Die egyptische
Kunst hatte sich eben — die Erste soviel wir wissen — Aufgaben ge-
stellt, die weit über die Befriedigung eines blossen Schmückungstriebes
hinausgingen. Die Kunst der alten Egypter war im Wesent-
lichen von gegenständlicher Bedeutung. Das Kunstschaffen
hatte bei ihnen nicht mehr bloss den Zweck des Schmückens, seine
vornehmste Bestimmung lag vielmehr darin, Empfindungen, Stimmungen,
Vorstellungen Ausdruck zu geben, die mit der reinen Freude am Schönen
nichts Unmittelbares gemeinsam hatten: ich verweise hiefür bloss auf
die umfassende Verwendung der Kunst im egyptischen Sepulkralwesen.
Wenn wir in dem Aufkommen solcher Anforderungen an das Kunst-
schaffen zweifellos das Zeugniss einer höheren, vollkommeneren Kultur-
stufe zu erblicken haben, so sind die Egypter, so viel wir sehen, die
Ersten gewesen, denen es gelungen ist, sich zu dieser Kulturstufe empor-
zuschwingen.
Die künstlerischen Aufgaben, die den Egypteni aus den also ver-
änderten und gesteigerten Kulturverhältnissen erwuchsen, waren so
hochgespannte, die Schwierigkeiten ihrer Lösung mit Rücksicht auf das
«n;j. A. Altovientalisches,
Fellleu aller und jeg'licher Vorbilder so bedeutende, dass den bezüg-
lichen Versuchen und Bestrebungen gegenüber alles Andere in den
Hintergrand tretfen musste. Der naive Horror vacui, der alle Flächen
mit buntem Schmucke überzieht, und der abgeklärte Kunstsinn, der
das Höchste, das Göttliche, in sinnlichen Formen darzustellen sich be-
müht, sie sind beide ursprünglich durch eine ganze Welt getrennt.
Eeligiüse und politische Ideen waren es, von denen die Egypter bei
ihrem Kunstschaffen erfüllt waren: das rein Dekorative, bloss der
Schmuckfreudigkeit Genügende, konnte sie nur in Aveit minderem Grade
beschäftigen.
In weit minderem Grade ! Es wäre aber viel zu weit gegangen,
wenn man behaupten wollte, dass das Reinornamentale die Egypter
überhaupt niclit l)eschäftigt hat. Die Lotustypen sind geAviss ursprüng-
lich nicht als Ornamente, sondern um der gegenständlichen Bedeutung
willen, die dem Lotus in den Kulturvorstellungen der Egypter zukam,
von den cgyptischen Künstlern auf die Wände der Grabkammern ge-
meisselt und gemalt, oder als Eundwerk in Stein gehauen worden.
Aber ebenso gewiss haben dieselben Typen auch schon bei den Egyp-
tern des Alten Reiches um ihrer formalen Schönheit willen auf Schmuck-
sachen und Gebrauchsgeräth ihren Platz gefunden. Es hiesse den
ganzen Reichthum künstlerisch ausgestatteter Kleinsachen übersehen,
die uns die Gräber aus der Pharaonenzeit bewahrt haben, wenn nuin
den Egyptern allen Sinn für gefälligen Schmuck um seiner selbst willen
absprechen wollte. Dieses Volk hat zweifellos schon selbst versucht,
zwischen den beiden extremen Polen im Kunstschaffen einen Ausgleich
zu finden: einerseits dem auf Schaffang einer blossen Augenweide ab-
zielenden Schmückungstriobe, anderseits dem Bestreben, den bedeut-
samsten Ideen und Empfindungen der Menschen sinnlichen Ausdruck
zu leihen. Die Egypter waren ja die Ersten, so viel wir sehen, die
sich zwischen diese beiden Pole gesetzt fanden. Dass nicht sie es auch
waren, die eine endgiltig befriedigende Lösung gefunden haben, wird
man ihnen kaum verdenken können. Wie der Leistungsfähigkeit der
Individuen eine Grenze gesetzt ist, so scheint dasselbe bei den Völkern
der Fall zu sein. Und der grossen grundlegenden Leistungen in der
Kunstgeschichte haben die Egypter doch genug aufzuweisen, so dass
man die Erschöpfung begreift, die es ihnen schliesslich unmöglich ge-
macht hat, das Ziel zu erreichen, an das erst die Hellenen gekommen
sind: Formschönes und inhaltlich Bedeutsames in harmonischer Weise
mit einander zu verschmelzen, mit Bedeutung gefällig zu sein.
1. Eg-yptisches. g5
Dieser Punkt ist zu wiclitig, als dass es ungereclitfertigt erscheinen
könnte noch einen Augenblick dabei zu verweilen. Zum besseren Ver-
ständnisse desselben will ich noch eine Parallele dazu von einem
anderen, ganz bestimmten Kunstgebiete beibringen. Die Altegypter
waren unseres Wissens auch die Ersten, die eine wahrhaft monumentale
Baukunst gepflegt haben. Die Voraussetzung für eine solche ist die
Verwendung unvergänglichen Materials: des Steins oder seines Surro-
gats, des Ziegels. Die Egypter haben nun ihre Tempel bereits in Stein
ausgeführt — Tempel von solcher Dauerhaftigkeit, dass sie, wie bekannt,
vielfach noch bis auf den heutigen Tag aufrecht stehen geblieben sind.
Die Erfindung des Steinbaues war eine höchst respektable technische
Leistung, aber auch von künstlerischem Standpunkte muss uns der
egyptische Säulensaal mit steinerner Decke, als am x\nfange aller monu-
mentalen Architektur stehend, als eine für den ersten Anlauf höchst
bedeutsame Errungenschaft erscheinen. Seine künstlerischen Qualitäten
verräth der egyptische Tempel aber im Wesentlichen bloss im Innern:
die einfach geböschten massiven Aussenmauern entbehren — mit Aus-
nahme der mehr äusserlich angefügten Frontbeigaben — fast jeder
künstlerischen Behandlung. Den Ausgleich, für den auch die Meso-
potamier — auf anderen Wegen suchend — noch keine völlig befrie-
digende Formel gefunden haben, wurde erst von den Hellenen zu Stande
gebracht, indem sie dem Säulenbau auch im Aeusseren, nach der rein
formellen Seite, jene harmonische Durchbildung zu verleihen wussten,
dass der hellenische Tempel als unvergleichliche künstlerische Einheit,
und als solche als Unicum in der ganzen bisherigen Kunstgeschichte
dasteht. Das Gleiche lässt sich nun auch auf dem Gebiete der dekora-
tiven Künste wahrnehmen, auf dem die Formen hauptsächlich „gefällig"
sein sollen, und die „Bedeutung" wenigstens um ihrer selbst willen in
der Regel nicht gesucht wird. Auch die Ornamentik dankt den Hel-
lenen die reifste Durchbildung im Sinne des Formschönen, unter gleich-
zeitiger Heranziehung inhaltlich bedeutsamer Formen, die sich aber den
maassgebenden dekorativen Anforderungen stets gefällig unterzuordnen,
anzuschmiegen wissen. Den Egyptern konnte es nicht vergönnt sein,
es auch noch zu dieser Vollkommenheit zu bringen; sie hatten reich-
lich ihr Tagewerk gethan, und mussten jüngeren, ungenutzten Volks-
kräften die Fortführung des Begonnenen überlassen. Es wird nun eine
überaus lehrreiche Erscheinung sein zu beobachten, wie die altorien-
talischen Kulturvölker, die allem Anscheine nach von den Egyptern
den entscheidenden Anstoss zu ihrem ferneren Kunstschaffen erhalten
86 -^- Altorientalisches.
haben, auf den Schultern ihrer Lehrmeister emporsteigen, und die Orna-
mentik in der Eichtung, die sie schliesslich bei den Griechen genommen
hat, zwar langsam aber stetig fortentwickeln. Die grossen, übermäch-
tigen Aufgaben, die der egyptischen Kunst aus der Inanspruchnahme
durch Religion und Politik erwachsen Avaren, sie waren zwar auch für
die nachfolgenden orientalischen Völker vorhanden, aber doch in weit
minderem Grade. Wir werden sofort sehen, in welchem Maasse gleich
die nächsten Gründer einer orientalischen "Weltmonarchie nach den
Egyptern, die Mesopotamier, über die ornamentalen Leistungen ihrer
Vorgänger hinausgeschritten sind.
2. Mesopotamisclies.
Die Zweitälteste Kultur und Kun^l, die in der Geschichte des
Alten Orients nachweislich von Aveitreichender Bedeutung gcAvesen ist,
hat in Mesopotamien ihren Sitz gehabt. Leider stammen die Denk-
mäler, die uns von dieser Kunst erhalten sind, fast ausschliesslich erst
aus der verhältnissmässig späten Zeit der Assyrerherrschaft. Was vor
dem Jahre Eintausend v. Ch. liegt, darüber haben wir mir unzu-
reichende Kunde auf Grund sehr vereinzelter Denkmäler, deren älteste
kaum in die Zeit der Thutmessiden, also des in der egyptischen Ge-
schichte verhältnissmässig späten Neuen tlu'banischcn Reiches zurück-
gehen. Wir vermögen daher nicht einmal vollkonmien sicher zu ent-
scheiden, in wieweit die Chaldäer, also die Bewohner des unteren
Euphrat-Tigris-Landes, in der That, wie man allgemein vermuthet, die
ersten Begründer einer höheren Kultur und Kunst in dem ganzen
gi'ossen mesopotamischen Stromgebiete gewesen sind. Wenn daher im
Folgenden von assyrischer Ornamentik die Rede sein Avird, so bleibt
hiebei ausdrücklich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit vorbehalten,
dass die Ehre der Errungenschaften dieser Kunst den Ghaldäern,
vielleicht wenigstens zum Thcil auch den Elamiten, zugeschrieben wer-
den müsste.
I'.s kann liier njclit dei' Platz sein, die Bedeutung der assyrischen
Kun.st für den Entwicklungsgang der Ornamentik in voll entsprechen-
dem Maasse zu würdigen. Es Aväre hiefür vor Allem nothwendig, das
Verhältniss d«-r Menschen- und Tliiertigur zur Orii.iiiientik 1)ei den
.Vssyrern klarzustellen; einzelnes l)i(;rauf Bezügliches hat übi-igens im
Oapitel über den Wa])i)enstil Erörterung gefunden. Aber das muss im
-Mlgemeiueu naclidrücklich hervorgehoben wcrdiii, dass wir in der
2. Mesopotamisches. 37
assyrischen Kunst zuerst die für die spätere Entwicklung-
der Künste bei den Mittelmeervölkern*") so fundamentale
Scheidung zwischen Bordüre und Decke, Rahmen und Fül-
lung", statisch Funktionirendem und statisch Indifferentem
in mehr oder minder bewusster Weise durchg-eführt sehen.
Audi bei den Egyptern gewahren wir die figürlichen Darstellungen in
der Fläche von Säumen eingefasst, doch sind diese Säume, mit sehr
geringen Ausnahmen, von höchst einfacher Musterung, die sich im
Wesentlichen bloss auf gereihte Stäbchen oder auf Zickzacklinien*')
beschränkt. In ganz besonders bezeichnender Weise äussert sich diese
schwache Seite des ornamentalen Sinnes bei den Egyptern an den-
jenigen Stellen, wo zwei Säume unter einem rechten Winkel aufein-
anderstossen, wo es sich also um eine Ecklösung handelt. Häufig
sind beide auf einander stossende Säume ungleich gemustert und laufen
sich einer an dem anderen todt*^). Bei den Assyrern gewahren wir
dagegen zum ersten Male ein konsequent durchgeführtes System einer
gleichmässigen Umrahmung, unter Berücksichtigung einer künstlerisch
befriedigenden Ecklösung*^). Damit steht in engstem Zusammenhange
der Umstand, dass die Assyrer jene Anläufe, die die Egypter mit dem
vegetabilischen Element und mit den Versuchen einer gefälligen Ver-
bindung desselben gemacht hatten, ihrerseits mit Entschiedenheit auf-
genommen und in weit umfassenderer und bestimmterer Weise zur An-
wendung gebracht haben.
Die Elemente der assyrischen Pflanzeuornamentik Avurzeln in der
egyptischen. Ich sehe wenigstens nirgends eine Nöthigung vorhanden,
um mit Sybel annehmen zu müssen, dass das in der Kunst des Neuen
*") Zu den Mittelmeervölkern in kulturhistorischem Sinne müssen wir
auch die Bewohner Mesopotamiens und Irans zählen, da sie allezeit sowohl
in ihren politischen als in ihren religiösen Beziehungen nicht nach dem Osten
Asiens, sondern nach dem Mittelmeere gravitirten.
^') Am besten gelingt es noch an Werken der sogen. Kleinkunst, z. B.
an den bei Prisse d'Aveunes, Boites et ustensiles de toilette abgebildeten höl-
zernen Löffeln, die von einer Ziclvzacklinie eingefasst sind.
■*-') Anläufe zu Ecklösungen an Plafonddelvorationen zeigen: Prisse
d' Avenues, Guillochis et meandres, links oben in der Ecke, mit Zickzack;
ebeudas. postes et tteurs, links unten in der Ecke, mit dem Vorläufer des
Eierstabs (Fig. 23). Diese Beispiele beweisen, dass das zu Grunde liegende
künstlerische Postulat auch den Altegyptern bereits klar geworden war, aber
von ihnen noch nicht zur absoluten Geltung und konsequenten Durchführung
gebracht worden ist.
*^) Vgl. z. B. die Steinschwelle Fig. 34 nach Layard, Ninive IL 56.
88
A. Altorientalisches.
Reiches von Egypten auftretende Pllanzenornament") auf asiatischen
Ursprung' zni'ückzuführen wäre. Der Umstand, dass Palmctte und Ro-
sette im ersten Jahrtausend v. Ch. das beliebteste Ornament der assy-
rischen Kunst ausgemaclit haben, beweist noch gar niclits für einen
mesopotamischen Ursprung dieser Motive. Noch umfassendere Verwen-
dung hat die Palmette späterhin in der griechischen Kunst gefunden,
und doch Avird kaum Jemand behaupten, dass sie von den Griechen
selbständig erfunden worden ist. Audi niüsste es autfällig erscheinen,
Fig. 33.
Gemaltes assyrisches Bordliroiimuster.
dass die Egypter, Avenn sie schon Rosette und Palmctte entleJint hätten,
gerade das beliebteste Bordenmotiv der ^^lesopotamier — das sofort zu
betrachtende Flechtband — niclit anch in ilii'c Ornanieiitil< aufgenommen
lijibfu sollten.
betrachten wir einmal eine Wandborde (Fig. 33)'^), die sieh auf
emaillirten Ziegeln im Schutte des ältesten ninivitischen Palastes aus
derzeit des Assurnasirpal (10. Jaln-li. v. Cli.) gefunden hat. Wir gcwalircn
••*; Nur der Hltcren Form der Lotusblütiie (Fi^-. 1) und dem souen. Pa-
])yrus will Svl)el die egyptisclie Provenienz ciuräumen.
*'■') Aus Layard, Ninivc T. Hfi.
2. Mesopotamisches. 89
da einen Mittelstreifen, gebildet durch ein Flechtband, beiderseits be-
säumt von einer Eeihe von Pflanzenmotiven, die mittels abgeflachter,
bandartiger Bogenlinien unter einander verbunden sind.
Was zunächst das Flechtband betrifft, so kann dasselbe als beson-
ders charakteristisch für die mesopotamische Kunst bezeichnet werden,
da sich gleichartige Vorbilder in der egyptischen Kunst Insher nicht
gefunden haben^^). Ueber seinen Ursprung hat man sich bisher kaum
welchen Zweifeln hingegeben. Seit Semper die Parole vom „Urzopf"
ausgegeben hat, galt die Abkunft des Flechthandes vom Zopfgeflecht
für ausgemacht. Wer sich aber nicht bedingungslos zum herrschenden
Kunstmaterialismus bekennen will, wii'd doch fragen, was denn die
Menschen veranlasst haben konnte, gerade ein so untergeordnetes
Ding wie einen Zopf zu kopiren, um damit die für ewige Dauer be-
rechneten Monumente zu schmücken? Wer in den linearen geometri-
schen Ornamenten nicht mehr Abschreibungen von Zäunen und Bast-
geweben erkennen will, wird dies auch vom Zopf nicht mehr noth-
wendig finden. Sein eigenes Ebenbild, sowie gewisse, durch ihre Stärke
oder Nützlichkeit auffällige Thierspecies , hat der Mensch wohl zu
Schmückungsz wecken aus der Natur direkt kopirt, späterhin schön
gegliederte Vasen und schlanke Kandelaber u, s. w. Dass ihm aber
daneben der Zopf selbst als Träger des Formschönen aufgefallen wäre,
kann nur in der Vorstellung eines Kunstmaterialisten ernsthaft glaub-
lich erscheinen, und dass ein ganzes Zeitalter daran nichts Bedenk-
liches finden konnte, Avird manchem Späteren Veranlassung geben, auf
unsere eigenthümlich verbildeten Kunstanschauungen mit einer nicht
ganz unverdienten Geringschätzung zurückzublicken.
Innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Pflanzenornaments hat
das Flechtband nur einmal bei den Griechen, in verhältnissmässig vor-
geschrittener Zeit, eine untergeordnete Rolle gespielt (Fig. 84). Ich
erachte mich daher der Nothwendigkeit überhoben, die müssigen Ab-
leitungsversuche für primitive Ornamente abermals um einen vermehren
zu sollen. Dass ich geneigt sein werde, das Flechtband unter die
■"') Goodyear weiss allerdiug-s auch das Flechtbaud in Verbindung mit
seiner Lotus-Theorie zu bringen : the guilloche is an abbreviated spiral scroll.
Hienach wäre das Flechtband aus der Spiral- Welle entstanden. Für diesen
Uebergangsprocess, der übrigens meiner Ueberzeugung nach mit dem Lotus
gar nichts zu thun haben würde, Avüsste ich aber nur ein einziges stützendes
Beispiel aus verhältnissmässig später Zeit, nämlich aus mylvenischem Gebiete
(Schliemann, Mykenä 288, Fig. 359) anzuführen.
90 -^- Altorieiitalisches.
linearen Compositionen nach den allcinigiii forragebenden Gesetzen
von Symmetrie nnd Rliytbmus zu zählen, brauche ich nach all dem
Gesagten kaum ausdi'üoklich zu erwähnen. Weit wichtiger für die
besonderen Zwecke unserer Untersuchung sind die das Flechtband in
Fig. 33 besäumenden Pflanzenmotive. Wir erkennen darin dreierlei
verschiedene Motive: eine Knospe, eine Palmette und eine dreispaltige
Blüthe. Und zwar ist die rhythmische Reihenfolge, in welcher die
drei Motive wiederkehren, folgende: Palmette, Knospe, Palmette, Blüthe,
Palmette, Knospe u. s. f. Es ist dies dieselbe Art der gruppemveisen
Alternirung dreier Elemente, die wir bereits in der egyptischen Orna-
mentik (Fig. 22) angetrofi"en haben, nur mit dem Unterschiede, dass
dort die Lotusblüthe und hier die Palmette das doppelt wiederkehrende,
also das Hauptmotiv bildet, und das palmettcnfächerartige Blüthen-
motiv jener egyptischen Borde hier durch das unzAveifelhafte Palmetten-
motiv selbst ersetzt erscheint.
Diskutiren wir nun die Formen im Einzelnen, wobei wir die Art
ihrer Verbindung untereinander vorläutig ausser Acht lassen wollen.
Am wenigsten ist über die Form der Knospe zu sagen; auffällig gegen-
über den egyptischen Seitenstücken ist hier nur die schuppenförmige
Musterung^'). Die Palmette zeigt dagegen schon grössere Abweichungeu
vom egyptischen Schema des Lotus in halber Vollansicht (der egyp-
tischen Lotus -Palmette (Fig. 16)). Während an letzterer Keleli und
Fächer sich proportioneil ziemlich die AVage- halten, ja eher der Keleh
überwiegt, ist an dem assyrischen Beispiel der Fächer das weitaus
Uebei'wiegende geworden. Der Kelch zeigt nicht mehr die starken
Voluten des egyptischen Motivs, sondern ist aus zwei schwachen
nach abwärts umgebogenen Hörnchen gebildet. Ferner hat sich
zwischen Kelch und Fächer ein zweiter ausgeprägterer Kelch einge-
schoben, dessen stark betonte Voluten sicli nach aufwärts einrollen.
Trotz di(,'ser Verschiedenheiten erscheint mir der Zusannnenhang mit
der e^'-yr)tischen Palmette doch unabwcislich. Es ist eine ganz eigen-
tliümliclie Projektion, die dem einen a\ je dem ander*'!! I\lotiv zu
Grunde liegt nnd kaum beiderseits selbständig erfunden ^<-\\\ kann.
:Man Iiat auch Zwischenformen, die vom egyptischen Lotus zu der
assyrischen Palmette führen sollen, in gewissen Erscheinungen der
phönikiscbcn Kunst zu erkennen geglaubt, über welchen Erklärungs-
versuch weiter unten bei Betrachtung der i>hünikischen Pflanzenorna-
") Mö^^iiclierweisc li;il»cn die, Mesopotaniicr in der Tliat, wie man meint,
dern Knospcninotiv die Bedeutung des Piuienzapt'cns untergelegt.
2. Mesopotamisches. 91
inentik die Rede sein soll: hier Avill ich nur vorausschicken, dass
gerade dasjenige Motiv, das in der assyrischen Palmette völlig neu zu
sein scheint — der nach aufwärts eingerollte obere Volutenkelch —
bereits in der egyptischen Pflanzenornamentik seine Vorbilder gehabt
hat. Vollständig verfehlt wäre es aber, an die Palme als das natür-
liche Vorbild der assyrischen Palmette zu denken. Allerdings sind
die Fächer der Palmen auf assyrischen Reliefs in ähnlicher Weise dar-
gestellt wie die Fächer der Palmette, aber es fehlt dort überall gerade
der charakteristische Bestandtheil jeder Palmette: der Volutenkelch.
Man mag vielmehr die Zeichnung des Fächers für die Palme von der
fertigen ornamentalen Form der Palmette entlehnt haben, als eine sich
ungesucht darbietende Lösung, aber gewiss nicht umgekehrt ^^).
Was endlich das dritte Motiv unserer in Diskussion stehenden
Borde, die dreiblättrige Blüthe anbelangt, so lässt auch sie sich auf den
egyptischen Lotus beziehen, und zwar allerdings nicht auf die typische
Form der Lotusblüthe, sondern auf ein seit dem Mittleren Reiche
(11. bis 12. Dynastie) sehr gebräuchliches, aber auch schon im Alten
Reiche*^) nachweisbares, bekrönendes Motiv (Fig. 37), das SybeP^) als
Vasen erklären wollte, Aveil es oft spitz zulaufend vorkommt und in dieser
Form seine Analogien mit bildlich dargestellten Vasen besitzt. Häufig
läuft es aber nach oben nicht spitz, sondern im Schema der Lotus-
blüthe^') aus, und deshalb möchte ich dieses egyptische Motiv auf den
Begriff" der Lotusljlüthe und Knospe zurückführen, von deren so über-
Aviegender Anwendung in krönender Funktion schon oben (S. 58) die
Rede gewesen ist. Was mich an unserer assyrischen Borde in der
gegebenen Ableitung noch bestärkt, ist erstens die ausgeschAveifte Um-
risslinie der Blüthe, dann die flache Form der verbindenden Bögen.
Das egyptische Motiv ist nämlich häufig ebenfalls auf zAvei divergirende
Stengel aufgesetzt (Fig. 37), die allerdings nicht in Bogenform nach
rechts und links Aveit erlaufen, sondern Avie ZAvei selbständige stützende
Füsse auf der Grundlinie absetzen^-).
■*'^) Zwischen den Blättern der Palmettenfächer treten hie und da
(Layard I. 47, Perrot u. Ch. II, Fig. 137) au Stengeln Pinienzapfen vor, die
Avahrscheinlich um einer symbolischen Bedeutung AAällen beigefügt Avurden.
An den Palmen der assyrischen Reliefs historischen Inhalts hängen dagegen
die Früchte am unteren Ansätze des Fächers vom Stamme herab.
") Lepsius II. 101.
^'^) a. a. 0. 6.
^') Lepsius III. 21.
^-) Ebendaselbst.
92 -^ Altorientalisches.
Im Allgemeinen ist nun von den besprocheneu assyrischen Pflcin-
zenmotiveu gegenüber den egyptischen zu sagen, dass die ersteren
eine unverkennbare Fortbildung in rein ornamentalem Sinne
vorstellen. Es fällt hier noch viel schwerer, die zu Grunde liegenden
Xaturformen zu erkennen, als angesichts der egyptischen Stilisirung.
Unter denselben Gesichtspunkt fällt auch die farbige Musterung in
querlaufendem Zickzack, das Zusammenbringen von Motiven, die in
der egyptischen Kunst streng geschieden waren (aufwärts gerollter
Yolutenkelch und gewöhnlicher Palmettenfächer), endlich die eigen-
thümliche Art der Verbindung der einzelnen Motive untereinander, was
uns auf die Betrachtung der letzteren überführt.
Die Verbindung der gereihten Pflanzenmotive mittels fortlauf ender
Bogenlinien hatte, wie wir gesehen haben, bereits in der Kunst der
Eamessiden in Egypten statt. Waren es dort wirkliche schon ge-
schwungene Rundbogen, so bringen die Flachbogen an der assyrischen
Borde Fig. 33 einen minder günstigen Eindruck hervor. Es wurde
aber kurz vorhin auseinandergesetzt, imviefern dies dennoch mit egyp-
tischen Vorbildern zusammenhängen könnte. Dagegen bemerken wir
an Fig. 33 gewisse Elemente in die Verbindung eingefügt, die wir an
den egyptischen Vorbildern vermissen, und die sowohl eine Fortbildung
im omamentalen Sinne, als auch einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt
für die nachfolgende Entwicklung darbieten. Die verbindenden, im
Flachbogen geführten Bänder setzen nämlich nicht so wie]^die egyp-
tischen Rundbogen (Fig. 22) unmittelbar an dem unteren Ende der Pflan-
zenmotive ab, sondern sie erscheinen mit diesen durch ein zusammen-
lassendes Heftel, eine Junkiur, verbunden, oberhalb deren überdies bei
der Knospe sich die beiden verbindenden Bänder, sowohl das von links
als das von rechts kommende fortsetzen und volutenförmig übersclilagen,
und auf solche Weise für die Knospe denselben Kelch bilden, di-r an
df-r Palmette bereits von den egyptischen Vorbildern her vorhanden Avar.
Aber die Blüthe erscheint allein durch die Junktnr mit den Bogen-
bändem verbunden. Der Kelch am Ansätze der Knospe nud die
Junkturen bezeichnen somit Zusätze, die wir auf Rechnung einer bewusst
dekorativen Fortbildung seitens der Mesopotamier setzen dürfen^').
Was besonders dazu veranlasst hat das Abhängigkeitsverhältniss
") W<'iiii;;lcicli iiucli hiclür scliücliteriie Anläng'C bereits in der egyp-
tischen Kunst nachzuweisen sind: für die Junkturen z. B. bei Prisse d'A.,
couronneraents et frises fieuroiinees 8, frises flenroniiees !; für Lotusknospen
mit Vobitenkejchen Lepsius III. 02.
2. Mesopotamisches. 93
der mesopotamischen von der egyptischen Kunst umzukehren, war der
Umstand, dass uns an späteren assyrischen Denkmälern, aus der Zeit
der Sargoniden (8. und 7. Jahrh. v. Ch.), eine weit engere Anlehnung
an egyptisehe Vorbilder entgegentritt als an den früheren, aus dem
10. Jahrhundert stammenden, was offenbar auf Rechnung der unmittel-
baren Berührung zu setzen ist, in welche die Assyrer in der Sargoniden-
zeit mit den Egyptern gerathen waren^*). Da hatte man nun zweifellose
assyrische Nachahmungen egyptischer Motive und folgerte daraus, jene
abweichenden älteren Formen aus Assurnasirpals Zeit müssten Original-
schöpfungen der Mesopotamier gewesen sein, und wenn schon ein Ab-
hängigkeitsverhältniss zwischen beiden Kunstgebieten existirte, so
müssten eher die Egypter die Empfangenden gewesen sein, nachdem
sie durch die Invasion der Hyksos mit den asiatischen Semiten in
engste Berührung gerathen waren. Mit mindestens ebenso gutem
Grunde lässt sich aber eine andere Erklärung für die Stilwandlung in
der assyrischen Pflanzenornamentik geben, die sich mit der Thatsache
des nachweislich höheren Alters der egyptischen Kunst gegenüber der
mesopotamischen besser verträgt: die Erklärung nämlich, es möchten
jene älteren assyrischen Imitationen egyptischer Pflanzenmotive auf
indirektem Wege nach Mesopotamien gelangt sein, — vielleicht schon vor
der Zeit, da in Egypten das Neue Reich aufgerichtet ward. Als aber
die Assyrer aufs Neue die egyptisehe Kunst aus unmittelbarer An-
schauung kennen gelernt hatten, da begannen sie Lotusblüthe und
Knospe in der streng egyptischen Form zu imitiren, ohne vielleicht
auch nur zu ahnen, dass sie damit in ihre Ornamentik im Grunde
nichts Neues einführten. Macht doch die ganze Kunst der Chaldäer und
Assyrer den Endruck, dass diese Völker, auf den Schultern eines älteren
Kulturvolks emporsteigend, an das Kunstschaffen desselben eine zielbe-
wusste Fortsetzung geknüpft haben, so wie später die Griechen ihrerseits
auf den Errungenschaften der altorientalischen Ornamentik weiterbauten.
Betrachten wir nun ein solches egyptisirendes Bordürenmotiv aus
der Sargonidenzeit (Fig. 34). Wir haben da die Ecke eines Thür-
schwellenmusters, das seit Semper stets mit einem Teppichmuster ver-
glichen wurde, obzwar man den Assyrern kaum die nöthige technische
^*) Die Assyrer verhielten sich keineswegs so spröde gegen fremde Kunst-
formen wie die Egypter; darin liegt wohl gewiss ein wesentlicher Grund für
die Erscheinung, dass dieses Volk in der Ausbildung der dekorativen Kunst
so entschieden über die Leistungen der Egypter hinausgekommen ist, weil
eben nur Fremdes mit Fremdem ein Neues zu gebären vermag.
94
A. Altorientalischcs.
Fertigkeit zutrauen möchte, die vorausgesetzt werden müsste, um ein aus
so abgerundeten Motiven zusammengesetztes Muster an einem Teppich
sei es mittels linüpfung, sei es mittels Weberei wiederzugeben. Nur
im Allgemeinen Avill ich zur Illustration des von der assyrischen Orna-
FiK. 31.
Tlilirschwelle au.s Stuiii mit skulpirtin Vorzicrungcii. Assyrisoli.
mentik eingangs fS. 87) Gesagten hinweisen auf die hier streng durch-
geführte Trennung zwischen Mittelfeld, verknüpfendem Zwischensaum
und r.ordüre, sämmtlich in rein ornamentaler Behandlung, sowie auf
die geschickte Ecklüsung in der Bordüre: alles Dinge, die wir an
pgyptischen Flächenverzierungen in der Regel vergeblich suchen.
2. ^Mesopotamisches.
95
Im Besonderen interessirt uns an Fig. 34 nur die Bordüre mit ihrer
Alternirung von Lotusblüthen und Knospen. An diesen ist Alles, was
das Motiv selbst betrifft, ganz übereinstimmend mit den egyptischen
Vorbildern; selbst die dreifach ausgezackte Hülse, in der die einzelnen
Knospen und Blüthen stecken, findet sich da und dort ganz in der
gleichen iWeise. Auch für die Verbindung mittels Rundbogen haben
wir bereits die egyptischen Vorbilder kennen gelernt. Neu und spe-
cifisch assyrisch ist bloss der Kelch am Ansätze eines jeden dieser
a
' ■ ■ ■^'/^^'^'^'''-- ^^'■■"^''~
1 -/ ■^- "-''^-.
rll^^^i^S
Fig. 35.
Von palmettenbekrönten Stangen getragenes Tabernakel. Assyrisches Steinrelief.
Pflanzenmotive. Dieser Kelch ist ebenso wie an jenem früher be-
sprochenen Beispiele aus Nimrud (Fig. 33) gebildet durch die über-
fallende Fortsetzung der verbindenden Bänder oberhalb der Avagrechten
Heftel^^), Das in der Mitte zwischen den beiden Kelchblättern der
Lotusblüthen in Fig. 34 emporragende spitze Blättchen ist offenbar
") Was den Volutenkelch als solchen anbelangt, war das Vorbild freilich
in der egyptischen Kunst an der Lotus-Palmette vorhanden; das specifisch
Assyrische beruht hier in der Ausdehnung- dieses fruchtbaren ornamentalen
Motivs auf die Knospe und auf die Protilblüthe.
gg A. Altorieutalisches.
dasselbe, das wir zu Nimrud bloss an der Palmette beobachten konnten
und das wir daselbst gleichfalls mit der egyptischen Palmette in Ver-
bindung- gebra'cht haben. In der That ist das abbreviirtc egyptische
Palmettensystem — also diejenige Form, die wir als Lotusblüthe mit
Yolutenkelch bezeichnet haben — eines der allergebräuchlichsten
assyrischen Ornamentmotive gewesen (Fig. 35). Der Unterschied gegen-
über dem egyptischen Vorbild beruht in der schlankeren Gestaltung der
Voluten, die auch den Charakter des Eingerolltseins häufig ganz ein-
gebüsst haben, und in der spitzen Gestaltung des mittleren Blattes.
"Was aber doch wieder auf den Zusammenhang mit dem bezüglichen
egyptischen Motiv nachdrücklich hinweist, das ist die ganz gleichartige
Verwendung beider Motive. Denn auch in der assyrischen Kunst ist
das in Rede stehende Blüthenmotiv in der Regel einerseits dort an-
gewandt, wo es sich um die Krönung, das Auslaufen in eine freie En-
digung handelt ^^), anderseits zur Bezeichnung derjenigen Stelle, wo ein
nach einer bestimmten Richtung funktionirendes Glied
von überwiegender Längenausdehnung ansetzt, worauf
noch im Folgenden bei Besprechung des sogen, heiligen
Baumes zurückzukommen sein wird.
Die assyrische Ornamentik hat ausserdem noch
ein Pflanzenmotiv aufzuweisen, das in der späteren
Fig. 36
Granatapfel, assyrisch. Kuust ZU grosscr Verbreitung gelangt ist und wegen
seiner häufigen Anwendung in der assyrischen Kunst
auf original-mesopotamischen Ursprung zurückgeführt werden könnte:
den sogen. Granatapfel . Man pflegt mit diesem Worte ein ornamentales
Motiv von kreisrunder Form zu l)ezeichnen, worauf eine aus drei
Blättchen gebildete Krone aufsitzt (Fig. 36). Dieses Motiv findet sich
in der assyrischen Kunst nicht selten ^^), auch bordürenartig gereiht und
mittels Bogenlinien untereinander verbunden (Fig. 38), wobei die ein-
zelnen Granatäpl'e] mit den Rundbogenl)ändern mittels Heftel verknüpft
erscheinen. Es Aväi'c aber auch nicht undenkbar, dass der Granatapfel
mit jenem egyptischen, vom Lotus abzuleitenden Krönungsmotiv zu-
sammenhängt, dessen ßlattkrone sich gleichfalls über einer Sclieibc er-
'■"') Man vergl. z. B. die frei endig-enflen TabcrnakelHilulen Fig". 35 (nach
Pen-ot II. Fig. 68) und die von einem Architrav überdachte Säule bei Perrot II,
Fig. 71, was die Analogie mit der Bedeutung der egyptischen Lotuskapitäl-
Sflulcn unmittelbar nahelegt.
'^) Perrot II. Fig. 127, 128, S. 311.
2. Mesopotamisclies.
97
hebt, allerding-s unter Vermittlung- eines balusterartig-en Zwiscliengliedes
(Fig. 37)^«).
Die blosse Scheibe mit dreispaltiger Krone, also die reine meso-
potamische Form, ist bisher in der egyptisehen Kunst bloss einmal
nachgoAviesen, nämlich von Goodyear^'') an einer Nilgctt-Statue im
'British Museum. Das ]\rotiv findet sich daselbst alternirend gereiht mit
unzweifelhaften Lotusblüthen und Knospen, und Goodyear hat auch
keinen Augenblick gezögert, dieses Beispiel als genügenden Beweis für
den egyptischen Ursprung des Granatapfel-Motivs anzusehen, indem er
es einfach als Samenkapsel des echten Lotus erklärt. Mit Kücksicht
auf die bisherige Vereinzelung dieser Erscheinung in der egyptischen,
gegenüber dem häufigen Vorkommen in der assyrischen Kunst, möchte
ich mit der bedingungslosen Zustimmung zu Goodyear's Ansicht
Avenigstens so lange zögern, bis über das
Alter der betreffenden Statue genügende Auf-
klärung vorliegt. Dass ein ursächlicher Zu-
sammenhang des mesopotamischen Granat-
apfels mit gcAvissen Erscheinungen in der
egyptischen Kunst auch mir nicht l)loss nicht
ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich
dünkt, habe ich schon unter Hinweis auf
Fig. 37 ausgesprochen. j,j„ 3^
Der auf Rundbogen gestellte Granatapfel Egyptisches Bekrönungs-iiuster.
findet später Verwendung namentlich an den
sogen, kyrenischen Vasen, Avas ich an dieser Stelle nur deshall) vor-
zeitig berühre, Aveil die Rundbogen an jenen Vasen in der Regel in
zwei einander überschneidenden Reihen angeordnet sind. Auch das
Motiv der einander überschneidenden Bogenlinien scheint nämlich bereits in
der assyrischen Kunst geübt Avorden zu sein, aa^c ein Fragment bei
Layard I. 84, Nr. 13 bcAveist. Wir hätten darin ein neuerliches Zeug-
niss für das Bestreben der assyrischen Künstler zu erblicken, in ihr
Pflanzenornament vermehrten Schwung und Bewegung zu bringen.
Das gebräuchlichste ornamentale Motiv der Assyrer ist neben dem
Flechtband die Eosette gcAvesen. Ihr Aufkommen und ihre Bedeutung
in der altegyptischen Kunst AA^urde bereits auf S. 52 erörtert. Was die
assyrische Rosette häufig A^on der altegyptischen unterscheidet, ist die
^^) Lepsius IL 130, II. 12G, III. 21.
^9) A. a. 0. 181, Fig-. 125.
Riesrl, Stilfragen.
98
A. Altorientalisclies.
3Iustrruiiii' der Blätter der erstercn in (luerlautendein Zickzack (Fig. 38,
im iiiitereu Streifen), das, ^vie wir sclion an anderen Iküspielen (Fig. 36)
gesehen haben, für die assyrische Farbnuisterung überhaupt charak-
teristisch ist. Die Vermuthmigeu der technischen Erklärer, dass die
Rosette aus der getriebenen Metallarbeit hervorgegangen Aväre, sind
schlechterdings unbeweisbar™). Wenn sich die Rosette in der assy-
rischen Kunst nicht so deutlich als pflanzlichen Ursprungs giebt, wie
in der egyptischen Kunst, wo sii' häuüg mit einem langen Stiel aus-
gestattet erscheint, so lässt sich dies schon aus der Neigung zu Meiter-
i'ig. as.
Assyrisches J?ordiirenmuster.
gehender Stilisirung erklären, die sich in gleiclier Weise aueli an der
assyrischen Lotusblüthe im Profil und an der Palmettc äussert.
Am Schlüsse dieser Uebersicht über die altmesopotamische rflauzcu-
ornamentik muss noch eines Motivs gedacht werden, (hin lii>h< r meines
Erachtens eine weitaus ungebührende Bedeutung iiml XCi-lininnig lici
gemessen wordr-n ist: fies sogen, heiligen IJmnnes. lün sdldicr ..li.uiiii"
war das geeignetste .Miit«! im- dir 'i'i-iiiiiiin^- zwiicr im .A\'.ip|>i'nstil"
gegenübergi'stelll<-r 'i'hi<rc. Die holien symbolischen lieziige, ilii' man
in (I.is Motiv \iflf;M-li liineingedeutelt hat, mögen beim ersten, liir nns
'"; Jio.settcnarti;j;-<', Motive, linden sich übrigens sclioii unter flcii lliililcn-
funden der Doifio^rnc in Bein gravirt (Fig. (!).
2, Mesopotamisches.
99
uiikoiitrollirl)aren Aurkciniinen desselben, maassgebend gewesen sein:
späterhin war die Grundbedeutung geAviss eine dekorative, was aucli
die Herübernalime in die verscliiedensten anderen Stile, insbesondere
in die griechischen (Blumenvase !) beweist. An dieser Stelle interessirt
uns nur das Verhältniss des heiligen Baumes zur Entwicklung der
Pflanzenornamentik.
Der Baum in seiner natürlichen Erscheinung ist in der Regel nicht
durch eine verliältnissmässig so weitgehende symmetrische Gestaltung
seiner nackten Grundform ausgezeichnet
wie die kleine Pflanzenstaude. Er hat auch
deshalb in der Ornamentik eigentlich nie-
mals eine umfangreichere Verwendung ge-
funden. In der altegyptischen Kunst sind
die Bäume dort, wo sie nm ihrer gegen-
ständlichen Bedeutung willen, z. B. zur Be-
zeichnung eines Gartens (Teil el Amaniaj,
eingeführt werden mussten, in naturalistisch
gedachter, Avenn auch schematisch ausge-
führter Symmetrielosigkeit dargestellt. Die
Assyrer gebrauchten in solchen Fällen
wenigstens für die Darstellung von Pal-
menwedeln den symmetrischen Palmetten-
fächer. Was uns aber als vermeintlicher
heiliger Baum der Assyrer entgegentritt
(Fig. 39)^'), verdient gar nicht die Bezeich-
nung eines Baumes. Es ist dies vielmehr
ein möbelartig zusammengesetztes Gebilde,
bestehend aus zwei viereckigen Schäften,
die so wie an den assyrischen Möbeln mittels Fig. 39.
Hülsen^^) nnter einander verbunden sind. Sogen, heiliger Baum der Assyrer.
Stcinskulptur aus Nimrud.
Der untere Schaft wächst aus einer abge-
kürzten (fächerlosen) Palmette empor, der obere Schaft ist bekrönt mit
einer Palmette mit Fächer^^). Die Hülsen sind zusammengesetzt aus je
^*) Nach Layard, Ninive I. 7.
^2) Eine solche Hülse aus MetaU, die zweifellos als verbindende Heftel
gedient hatte, gefunden zu Nimrud, ist abgebildet bei Layard I. 96; ihre An-
wendung illustrirt z. B. das Tabouret auf dem Relief bei Layard I. 5.
'^^) Die assyrische Palmette dient ebenso wie der egyptische Lotus und
„Papyrus" zur Charakterisirung der freien Endigung. Besonders beweisend
7*
IQQ A. Altorieiitalisehes.
zwei tacherlosen Palmetten ^^), von denen die eine aufwärts, die andere
abwärts weist, g-anz genau in derselben Funktion zur Bezeichnting des
Ansatzes, wie wir sie an der abgekürzten egyptisclien Palmette beoli-
aeliten konnten.
Zeigt schon der Sebaft keinerlei Eigenschaften eines Baumstaninis,
so erhalten wir auch von dem denselben umgebenden Palmetten-
geschlinge keineswegs den Eindruck des Laubes. Es läuft nämlich um
den ganzen Baum herum eine Reihe von Palmetten die durch Flach-
bogen unter einander verbunden ersehenden. Jede Palmette ist (mit
Ausnahme der drei obersten) Avieder anderseits durch ein Band mit
dem Stamme verknüpft. In einzelnen Fällen sind die innlanfendcn
Palmetten durch Pinienzapfen ersetzt (Laynrd I. (j), die aber nur mit
dem Stamme und nicht unter einander verbunden erscheinen, was besser
geeignet Aväre dem Ganzen das Aussehen eines Baumes zu geben,
wenn der Stamm nicht auch in diesem Falle die möbelartige Verliül-
sung aufweisen Avürde'^').
Wir werden alsbald auf phönikischem Kunstgebict ein ähnliches
-Motiv kennen lernen, das man auch schon als Mittelglied ZAvischen der
egyptischen und assyrischen Form desselben aufgefasst hat, was sich
aber aus dem Grunde schwer wird beweisen lassen, weil die phünikische
Form, wenigstens so, wie wir sie aus Denkmälern kennen, jünger ist
als die mesopotamischen heiligen Bäume, die sich an der Relief-Figur des
Königs Merodach-idin-aklii'"''^) bis in das 12. Jalirhundcrt >-. Chr. liinauf
verfolgen lassen.
Was die Art der Verbindung zwischen den ornamentalen Blumen-
und Knospenformen der mesopotamischen Kunst betrifft, so wurde schon
bemerkt, dass dieselbe in der Regel durch fortlaufende Bogenlinien be-
für diese Funktion ist das llelief bei Pcrrot II. Fi«;-. 71, wo in drr Mitte olicn
die von zwei Halbtig-uren g-ehalteneu Stricke in Palmetten endigen, genau so
wie die Stricke, mit denen die Gefangenen auf egyptischen Ileliefs gefesselt
erscheinen, in Lotus auslaufen. Vgl. auch oben S. 95 Fig. 35.
") Der iintere Kelch der Hülsen zeigt manchmal eingekerbte Blätter,
möglicherweise chaldäischen Ursprung-s (vergl. auch liiel'ür das altchaldäische
Relief Perrot II. Fig. 71.)
^^) Goodyear (S. 175 f.) ist natürlidi dif Identität der am hviliiicn liainnr
vorkominenden Biüthenmotive mit den unterschiedlichen Lotusmotiven nicht
entgangen. Auch in Bezug- auf die Abweisung der so l)eliebten Hypothese
von einem Zusammenhange; des heiligen Baumes nnt dem arischen Sonia oder
Hom begegnet er sich vollständig mit meiner Ueberzeugung.
^■) Pcrrot II. Fig:. 233.
2. Mesopotamisches. 101
wei'kstelligt erscheint; die Spiraloruamentik felilt bei den Assyrern so gut
wie gänzlich. Zwar das Barthaar söwie das Wellengekräusel erscheint
an ihren Kunstwerken durch Spiralen wiedergegeben, aber als orna-
mentales ]\[otiv, insbesondere als Verbindungsmotiv zwischen pflanzlichen
Ornamenten suchen wir die Spirale in der ganzen mesopotaniischen
Kunst vergebens, Avas mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Spiral-
verbinduug für die Geschichte des Pflanzenornaments — bei den Egyptern
sowohl Avie wir gesehen haben, als auch bei den Griechen, wie wir noch
sehen werden — nachdrücklich betont werden muss. Als vereinzelte
Ausnahme Hesse sich allenfalls das obere Randornament an dem Gefässe,
das der Fischgott bei Layard II. Taf. G in der Hand hält, anführen; es
ist dies aber nicht so sehr eine laufende Spiralenreihe als ein ausge-
prägter laufender Hund, — ein allerdings mit der Spirale anscheinend
nächst verwandtes Ornamentniotiv, das aber in die Klasse der sogen,
reciproken Ornamente gehört und seine besondere Ausbildung bekannt-
lich in der griechischen Kunst gefunden hat^").
Wo keine Spiralornamentik, dort kann auch kein öfter wieder-
kehrendes Bedürfniss nach dekorativer Zwickelfüllung vorhanden ge-
wesen sein. Es ist daher gewiss nicht zufällig, dass die assyrische
Kunst das Postulat der Zwickelfüllung, das in der altegyptischen Kunst
des Neuen Reiches eine so elementare Bedeutung gehabt hat, nicht
kennt. Dieser Umstand spricht ganz besonders eindringlich gegen
Sybel's Theorie von der Entlehnung der charakteristischen Ornament-
formen des Neuen egyptischen Reiches aus Mesopotamien. Es muss
aber auch darum selion in diesem Zusammenhange nachdrücklich betont
Averden, dass das von den Mesopotamiern vernachlässigte Postulat der
Zwickelfüllung, ebenso Avie die von den Mesopotamiern nicht minder
unbeachtet gebliebene Spiralornamentik l:)ei den Phönikern und Griechen
zu grösster Bedeutung gelangt ist.
^'') Ebenso A^ereinzelt Avie dieses assyrische Beispiel des laufenden
Hundes aus verhältnissmässig- später Zeit, ist dasjenig-e, das ich aus der alt-
egyptischen Ornamentik beizubringen A\'eiss, nämlich die Bordüre an einer
von Adoranten getragenen Tafel bei Lepsius VII. 187, aus der Zeit des grossen
Rauises. Die für AvissenschaftUche Zwecke nach heutigen Anforderungen viel-
fach ungenüg-enden Abbildungen bei Layard imd Lepsius lassen namentlich
hei so vereinzelten Beispielen ZAveifel übrig. — Vgl. auch 0\A'en Jones VII. 16.
]Q9 A. Altorientalisclu'S.
3. riiüiiikisclies.
Die Bedeutuiiii" der Phrmiker für die Kntwickluiii;- (Irr alioricii-
talischen Künste sclii'int wcnig-er in vhwv sollistäiulig-en Fortltilduiii;' von
iiatioiicilem Gepräge zu liegen, als in zwei anderen Umstanden, die
gleichwohl für die weitere Eutwieklungsgescliielite insbesondere der
Ornamentik sehr bedeutungsvoll geAvorden sind. Fürs erste haben die
Phönlker als seefahrende Kaufleute den Kunstformen ägyptischen Stiles,
dann auch — obschon in nnnderera Grade — denjeingen mesopotamischen
Stiles, einerseits durch Vertriel) von Original-Erzeugnissen der genannten
beiden Völker, anderseits aber aueh — niul dies ist ganz besonders
hervorzuheben — durch Verhandelung phönikischer Imitationen, die
grösstmögliche Verbreitung geliehen. Damit hängt unmittelltnr aueli
der zweite Umstand zusammen, der das Dazwischenkommen der l'liö-
niker für die Verbreitung einer an allen Mittclmeerküsten gangbaren
Ornamentik so entscheidend gemacht hat: der Umstand nämlich, dass
der Rest an gegenständlicher Bedeutung, der den altegyptischen und
altchaldäischen Mischwesen (Sphinx, Greif u. s. w.) ebenso wie ihren
vegetabilischen .Motiven (Lotus) nocli in der originalen Kunst dieser
Völker anhaftete, im Gefolge der für den blossen Handel mit .Schmuck-
gegenständen und Hausrath berechneten Massenfabi-ikation vollständig
verloren gehen musste. Das ursprünglich gegenständliche Motiv wuivle
unter den Händen der Phöniker schlechtweg zum reinen Ornament.
Auch die Sclieidung zwischen l^ahmen und Füllung, sowie die
Anwendung und Anordnung der Ornamente nach gewissen Regeln, die
sich aus dem technischen AVerden und der Struktur der zu verzierenden
Gegenstände ergeben — dasjenige, was man als „tektoniscln^" Art der
Verzierung zu bezeichnen pflegt — hat unter den Plicnikeni Aveit-
gehende Berücksichtigung und P'örderung erfahren. Typiscii liiefiir
sind gerade diejenigen Werke phönikischer Kleinkunst, dnnli die wir
bisher noch am best(Mi in Stand gesetzt worden sind, «ieii lügcuitliiini-
liclikeiten der Kunst dieses Volkes nälier zu konnnen: nänilieli die
.Metallschüsseln mit ihren koncentrischen Zonen und ilu'er A'ertikalglie-
dernng innerjjalb der einzelnen Zonen, die zwischen ungeregelter Bunt-
heit und staiTer geometrische]- Alizirl<<'lung in der R'egel die rielitige
Mitte zu halten weiss.
Nach dem geschikkirten Stande der Dinge steht zu erw.nten, dass
die Phöniker wenn auch nicht zur Entwicklung der maassg(d)eiid(ii Ziele
aller antiken I)ek«irationskunst im Allgeiueiiien. sn dnch /m- i'i.ii Kildiing
Pliönikisches.
103
o
einzelner ornamentaler Motive ihr Sclierflein beigetragen haben mochten.
In der That haben sie sich nicht mit der blossen Bereicherung- der
mittelländischen Ornamentik durch gleichmässige Heranziehung der aus
zwei verschiedenen Fonds entlehnten Elemente
(z. B. des assyrischen Flechtbandes neben egyp-
tischem Zickzack) begnügt, sondern auch wenig-
stens ein Motiv, so viel wir sehen, und zwar eben
ein Pflanzenmotiv in einer bestimmten, rein orna-
mentalen Weise Aveitergebildct. Es ist dies ein
baumartig emporstrebendes , zusammengesetztes
Motiv, das wir den phönikischen Pahnetlenbaum^^)
nennen wollen.
Das dem phönikischen Palmettenbauni zu
Grunde liegende Motiv ist die vertikale In- und
Uebercinanderschachtelung von Blüthenkelchcn,
die zu Oberst von einem vegetabilischen Strahlen-
büschel bekrönt erscheinen. Sybel'^-') hat dieses
]iIotiv als Bouquet bezeichnet. Es findet sich nicht
selten angewendet in der Kunst des Neuen Reiches
von Egypten. Am häufigsten tritt es uns da ent-
gegen als Aufbau mehrerer in einander geschach-
telter Blumentöpfe ('?), aus deren jedem nach rechts
und links Blumen herauswachsen. Daneben finden
sich aber auch andere Systeme; uns interessirt
hier nur eines darunter, das die nebenstehende
aus Prisse'^o) entlehnte Figur 40 wiedergiebt. Wir
gewahren da eine vertikal über einander auf-
gebaute Reihe von zwei alternirenden Blüthen-
formen: die eine, mit abwärts gerichteten Voluten,
kennen wir als Lotusblüthe mit Volutenkelch, die
andere lässt sich gleichfalls als Volutenkelch mit
Füllungszapfen in der Mitte definiren , aber die Fig. 40.
Voluten sind in diesem Falle nach aufwärts ge- Egyptischer Paimettenbanm
^*) Dass diese Bezeichnung' nicht eben geschmackvoll klingt, wird zu-
geg'eben ; doch war es schwer eine andere Bezeichnung zu finden, die mit der
gleichen Verständlichkeit sowohl die Palmette als maassgebendes Element der
Form, als auch den anscheinend vorhandenen Bezug auf den „heiligen Baum"
zum Ausdrucke bi-ächte.
G3) A. a. 0. 24 f.
'"^) Ornementation des plafonds: legendes et symboles, XVIII. Dyn.
104 A. Altoricntalisches.
Zögen"'). Die oberste Bekrünuiig- bildet ein stralüenförmiger Büschel
von Schaftblättern und langen Stengeln, die von glockenförmigen Lotus-
blüthen bekrönt sind. Als bemerkenswerth sind endlich auch noch
die tropfenförmigen Füllungen der infolge der Kinrollnngcn entstan-
denen Zwickel hervorzuheben.
Ein Aveiteres Beispiel für die Verwendung dieses aus in einander
geschachtelten Volutenkelehen zusammengesetzten IMotivs lindet sieh
an einem Armband bei Prisse, Choix de bijoux No. 14, und an einer
Handhabe bei Goodyear (Taf. IX, nach Champollion). Auch in diesen
beiden Fällen ist der aufwärts gerichtete Volutenkelch bekrönt
von einem Bündel langstieliger Lotusblüthen. Ein Beispiel, an welchem
dieser Volutenkelch mit dem gewöhnlichen Palmettenfächer bekrönt
vorkäme, ist mir aus der egyptischen Kunst nicht bekannt geworden.
"Wir werden daher wenigstens in der egyptiselicn Kunst die typische
Lutuspalmette streng zu scheiden haben von der in Fig. 40 vur-
liegenden"-). Das gleiche Motiv treffen wir nun aut phünikischem Kunst-
boden. Betrachten wir daneben das kypriotische Kapital (Fig. 41)").
"Wir haben da zu unterst den stai'k ausgeprägten Kelch mit abwärts
gekehrten Voluten , darüber den umgekehrten Volutenkeleh in mehr-
facher "UHederholung, endlich den krr)ueuden vegetabiliisehen StrahU'u-
bündel. Derselbe Grundgedanke liegt den l*;ilinettenl)äunien auf den
[Metallschüsseln zu Grunde, so z. B. Jenen auf der Silberschüssel aus
Larnaka, die bei Longperier, i\lusee Napoleon III. Taf. 10 abgebildet
ist. In letzterem Falle dient der Palmettenbaum znr Trennung von
Figurengruppen, die in regelmässiger Alternirung sii-li Aviederholen.
In anderen Fidlen (Schale aus Amntluis in Xew-York. Perrot i'<: Chijuez
^') V^-1. oben S. 1»0.
'■j Fig. 40 ist in WanrlniMlcrei ans^-ct'iiln-t, also in einer Technik, die
ihrer leichten und freien Behandlung- halber erfahrungsniässig" am ehesten zu
Durchbrechung-cn der geg-ebenen Formentypen geführt hat. Die zwei anderen
angeführten Beispiele sind aber in hartem Material (Metall und Holz) ausge-
führt, woraus sich ergiebt, dass wir es da mit einem festbegründeten, nicht
bloss flüchtiger , s]>ielender Veranlassmig seine Entstehung verdankenden
Motiv zu thun haben. Daher geht es auch nicht an, den nach aufwärts ge-
richteten Volutenkelch einfach als a ])urely decnrative variant, als blosse
L'mkehrung des abwärts gerichteten Volutenkelches zu erklären, wie Goodyear
leichtherzig annimmt (S. 89). Es wäre dann nicht zu begreifen, warum ilie
Variante nicht auch mit dem einfachen Fächer (halbe Vellansicht ' vcibumlen
vorkommt.
'*) Nach I'errot und rhipie/ III. Fig. r>2.
3. riiöiiikisches.
105
111. Fig-. 547) erfüllt es g-enau dieselbe Funktion Avie der „heilige Baum"
auf den assyrischen Reliefs: zur Trennung zweier in absoluter Symme-
trie einander g-egenüber gestellter Figuren. Man ersieht hieraus, Avie die
Phöniker dieses ornamentale „Wappenschema" für ihre vorwieg-end
dekorativen Zwecke zu benutzen wussten. Immer treffen Avir aber den
auf\A^ärts gerichteten Volutenkelch vereint mit einem Fächer aus
liy)^^'^rp^jf-~-r--rT-T^r-TTT--n5
L/T i -^-^ ---^ . Ji^, m'=-i ^ *•■ -^— rr-r
Fig. 41.
Kyprisches Kapital mit Palmettenbanm.
Lotusblumen und Stengeln, niemals mit dem gewöhnlichen Palmetten-
fächer. Dagegen AAar die geAA'öhnliche egyptische Lotuspalmette auch
den Phönikern nicht fremd; eine Anzahl von Beispielen hat Goodyear
(Taf. XII. Xo. 4, 5, 8—11, 15) zusammengestellt: also auch auf phöni-
kischem Boden die gleiche scharfe Scheidung ZAvischen Palmette und
Palmettenbaum, Avie wir sie schon in der egyptischen Kunst beobachtet
haben.
In abgekürzter Form findet man nicht selten
den bekrönenden Binsenfächer (ohne Glocken blü-
then) zusammen mit dem oljeren aufwärts gerich-
teten Volutenkelch, der den Fächer A'on unten halb- ^-^ ^g.
kreisförmig umschliesst. Man pflegt dieses Gebilde, Phonikisciie Paimette.
das in der That eine abgekürzte , rein dekorative
Fortbildimg des Motivs auf phönikischem Boden zu sein scheint, die
phönikische Palmette im engeren Sinne zu nennen (Fig. 42).
Hier ist nun der Punkt, avo AAir auf die assyrische Palmette zu-
rückgreifen müssen, bei deren Beschreibung (S. 90) Avir ihre Ursprungs-
■^QQ A. Altorientalisehes.
geschichtliche Erörternn^i' ausdrücklich für diese Gch^g-ciilu'it vorbehalten
haben. Die assyrische Palniette zeigt nämlich eine A'ereinigung der
beiden in Eede stehenden ^Motive: der egyptisehen Lotnspalmette und
des sogen, phönikischen Bouquet (oder ralnicttenbaunis , in der AA'eise.
dass dem aufwärts gerollten oberen Volutenkelch ein einfacher Pal-
mettenfächer aufgesetzt erscheint. Eine solche Vereinigung ist uns
Aveder in der egyptisehen noch in der phönikischen Kunst vorgekommen.
Die assyrische Palnn-tte ist trotz des aufwärts gerichteten Volutenkelches
ein vegetabilisches Einzelmotiv wie dir egyptisehe Lotuspalmette, mit
der sie in allem Uebrigen übereinstimmt. Dagegen sind die egyptisehen
und phönikischen Gebilde mit aufwärts gerolltem Volutcnkrlch baum-
artig emporstrebende zusammengesetzte Motive, Uebereiuanderstellungen
mehrfacher Blüthenkelche mit abzweigenden Zwiekclblumen. Ein
inniger Ztisammenhang der assyrischen Palmettr mit den beiden egyp-
tisehen Palmettenmotiven scheint mir unzwcitelhaft: aber die vermit-
telnde Zwischenstellung der phönikischen Palmettc wird man nicht als
so ausgemacht ansehen dürfen, wie z. B. Furtwänghn"'^) anzunehmen
geneigt ist. ^Man müsste dann aucli den cinl'aelicn Fäclui" dfi" assy-
rischen Palmette als eine Schematisirung der bekröneudi'U Lotusbündel
des Palraettenbaums ansehen, Avährcnd alle Wahrscheinlichkeit für den
entgegengesetzten Process spricht: für eine dekorative vegetabilische
Ausgestaltung des einfachen Fächers zu (irup]icn von Lutusstmgeln
und Blüthen. Das Gleiche gilt doch auch von der K'osette, deren ein-
fachere Formen gewiss älter sind als diejenigen, an denen die einzelnen
Blätter etwa dni-eli L(itusl)]ütlien ausgedj-üeki sind (Goodyear Tat". XX.
No, 13). Die Erklärung, wie die Mesopotamier dazu gekommen sein
mögen, die von den Egyptern entlehnte gewöhnliche P.dmette durch
einen aufwärts gerollten Kelch, den sie übrigens gleielifalls aul" eg\ j)-
tischen Kunstgegenständen vergebildet salieii. /ii ei-w ciieni, l»leilit snniit
erst noch zu liefern.
Im äusseren Aufbau ej'iniieit ihr egyptisch-phönikisclie i'alnietten-
baimi, — was Avir schon durch die gewählte i'ie/.eielinung angedeutet
liaben — an den ,,heiligen Baum" dei- ass\ risehcu Kunst. Auch an
diesem begegneten wir'^) einem System vnn \'nluteid<i lelun . mittels
derer die den Stamm zusammensetzenden l',in/.elseliäfie untii- einander
verbunden wai'en. Die lieUrrinunir des (ianzi'ii liihh't alx r wii'(h'i'uni
''y Sauiiiil. S.'ibouroir, Kiiil. lu.
'^) S. W Fig. 30.
o. Phönikisches. 1()7
die assyrische Palmette, und so stosscii wir also auch bei der Parallele
mit dem „heiligen Baume" schliesslich auf die Palmettenfrag-e , deren
Lösung wir — weil für die Fortführung des EntAvicklungsfadens nicht
unbedingt nothwendig • — diesmal getrost aussetzen können. Die or-
ganische Verwandtschaft des phönikischen Palmettenbaumes mit gewissen
„Bouquet"-Bildungen aus egyptischen Gräbern ist auch Sybel selbstver-
ständlich nicht entgangen. Entsprechend seiner Theorie spricht er alier
diesen Bildungen den egyptischen Ursprung ab und erklärt dieselben''^)
für das „ältere phönikische Bouquet", aus welchem dann das „jüngere
phönikische Bouquet", d. i. jenes der Metallschalen, sich auf dem Wege
blosser StilentAvicklung im Laufe der Jahrhunderte ergeben hätte.
Der egyptischc Ursprung von »SybeUs „älterem phönikischen Bouquet"
wird aber immer klarer, je mehr Beispiele davon aus den Denkmälern
der altegyptischen Kunst bekannt werden. So hat es erst vor wenigen
Jahren Dümmler auf einer egyptischen Holzkiste im Museum'zu Bologna
gefunden und abgebildet in der Athen. Mitth. XIII. 302").
Für den Zweck, den ich mir mit dieser Untersuchung gesetzt habe,
genügt es, den innigen genetischen Zusammenhang nachgewiesen zu
haben, der zwischen den egyptischen stilisirten Blumenmotiven einer-
seits, den phönikischen und assyrischen andererseits obgewaltet haben
muss. "Wie das Verhältniss dieser beiden letzteren unter einander be-
schaffen gewesen ist, mag vorläufig eine offene Frage bleiben; das
Wahrscheinliche dünkt mir aber, dass die nn^sopotamischen Formen
ohne Dazwischenkunft derjenigen, die uns an phönikischen Denkmälern
erhalten geblieben sind, auf direktem Wege ihre Ableitung aus der
egyptischen Kunst gefunden haben. Die Beeinflussung Mesopotamiens
durch die uralte egyptischc Kultur seheint mir viel früher erfolgt zu
sein, als diejenige der Phöniker. Wir brauchen ja mit dieser Beein-
flussung Mesopotamiens gar nicht in extrem frühe Jahrtausende zurück-
zugehen; es genügen hiefür die Zeiten der Thutmessiden und Eames-
siden, aus denen uns sichergestellte phönikische Denkmäler nirgends
erhalten sind, während eine gleichzeitige verhältnissmässig hohe Kultur
in Mesopotamien so ziemlich ausser Zweifel stellt. So trägt bereits der
Chaldäerkönig des 12. Jahrhunderts , Merodach-idin-akhi (Perrot II.
^«) A. a. 0. 25.
") Dass die s^'inmetrisch anspring-endeu Böcke daselbst nicht assy-
rischen Ursprungs zu sein brauchen, wie noch Dümmler annimmt, ist wohl
klar, seitdem wir dieses Motiv in Egypten bereits an Werken der VI. DN'nastie
angetroffen haben (S. 40).
10Q A. Altorientalisclios.
Fig. '233) , auf seinem GeAvande den typisch ausgeliildeten heiligen
Baum und die Rosetten der späteren assyriselieu Ornamentik. Vollends,
■wenn Renan Recht hat mit der Datirung der Inschrift der bekannten,
in den Monum. X. Tat". o-2 piiblicirten palestrinischen Silberschale in
das 0. Jahrhundert v. Ch., so ergiebt sich bei der nahen stilistischen
VerAvandtschaft fast aller erhaltenen phönikischen und i)liönikisch-ky-
priotischen Kunstdenkmäler für die Blüthe des phönikischen Kunsthand-
Averks ein ziemlich spätes Datum, kaum Aiel über das .I.ilir Eintausend
V. Ch. hinauf. Für eine frühere Kunstblüthe bei den Phönikern mangelt
es A'ollständig an BeAA'eisen. Dem Umstände, dass die Kafa (Phöniker)
auf ägyptischen Wandgemälden den Thutmessiden ^'asen als Tribute
darbringen, hat nicht nur Sybel, sondern haben auch Anden- Aveit (Uht-
triebene Bedeutung beigelegt. Denn selbst in dem unkontrullirl»aren
Falle, dass die dargestellten Vasen in der Thal treue Al>l)ilder plnnii-
kischer Originalerzeugnisse Avären, bleibt es doch nocli inuner fraglich,
ob ihre Ornamentik nicht auf egyptische AVurzel zurückgeht. Wenig-
stens A-ermissen Avir an dem späteren uns aus Denkmälern Itekannten
phönikischen Kuii>thand\verk gerad<' die Si)ii;;ile und die Tliit'rki"ipf(,>
d. h. jene Elemente, die uns an den Geschenken der Kafa entgegen-
treten und die Avir nicht minder an egyptischen Kunstwerken, avcmiu
auch erst des Neuen Reiches, so häufig Aviederkelii'eu sehen. .Mi'igliclier-
Aveise sind es in ilrv Tliat die lletiter gewesen, die die egyptisclieu
Kunstformen Avenn aucii niclit den (iriechen, so doch den Mesopotamiern
Aermittelt haben; freilich konnten es dann gewiss nicht Jene rohen, eine
ausgebildete höhen; Kunst barl)arisir('ndeii Bildwerke gewesen sein, die
m.iii heute den Hetitern zuschreibt.
Was inslM'sondere den ph(')nikischen Typus des Palmetlenhaums
betrlMt. so dürfen Avir darin eine gefällige ornamentale AVeiterbildung
einer egy[»tisclieii (Ii'uudfonii erldickeu. die noch l>is in die Zeit der
künstlerischen Hegemonie der Ijelleiieii hei'.ili .iiif phöiiikisclieiii Hoden
zur Darstt'llung gel)racht Avorden i^t. Als Aid<uiiiifungsiiunkt für die
Aveiterc EntAvicklung im Altendlande hat sie; augenscheiidich wenigstens
daucnid nicht gedient^^); sie ist ;iliei- für diese Kntwicklung ger.ide im
7. und <■>. Jahrhundert x. Ch. sehr l»edeutungsvoll geworden dui'eh den
Umstand, dass der ]ihonikisch(; Palmettenbaum das schon in (\rv :\\\-
'■^ Sybel Ijisst die griecliisclie luiisi-hriclu-iir , d. li. ohcn \eu einer Kreis-
linie uin/.ogenc I'almcttc von der itlionikischeii im cii^crcii Sinne nhstaunnen,
Avas aber giln/Jicli unstatthaft ist, da jene sich aus dem KotnsltUithcndvnospen-
BamU' abgrelöst hat.
4. Persisches. 109
egyptischen Ornamentik des Xeuen Reiches zum Ausdruck gelangte
Postulat der ZAvickelfüllung an den zahlreichen sphärischen Winkeln
ziu' fanatischen AnAvendung gebracht hat.
Wenn wir also auf Grund des Vorgebrachten die Stellung der
phönikischen Kunst innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Pflanzen-
ornaments kennzeichnen wollen, so ist zu sagen, dass das phönikische
Pflanzenornament in der Hauptsache in egyptischem Kunstboden \\airzelt:
dies beweisen insbesondere die Palmettenbildungen mit ihren Zwickel-
füllungen. Aber der phönikische Kunsthandwerker und Exporteur
schaltete frei und skrupellos mit den Motiven, die dem Egypter in
ihrer gegenständlichen Bedeutung geheiligt gewesen waren. Diese
Motive werden unter den Händen der Phönikcr erst zu rechten Orna-
menten von rein oder doch überwiegend schmuckzwecklicher Daseins-
berechtigung. Aber auch von den Mesopotamien! entlehnten die Phö-
niker, was ihnen gut und brauchbar dünkte : von Einzelmotiven das zu
Einfassungszwecken so überaus geeignete Flechtband, und im Allge-
meinen — was das Allerwichtigste ist — eine schärfere Trennung
zwischen Füllung und Eahmen, wobei freilich schwer zu entscheiden
ist, in wiefern den Phönikern diesbezüglich nicht ein selbständiges
Eigenverdienst zuzuerkennen wäre.
4. Persisches.
Mehr der Vollständigkeit halber als um ihrer Bedeutung willen,
muss hier noch der altpersischen Kunst der Achämeniden gedacht
werden. Diese Kunst ist nämlich bis zum heutigen Tage vielfach
überschätzt werden. Schon der Umstand, dass die Altperser die tech-
nische Errungenschaft der Steindecke (mittels Wölbung) ihrer meso-
potamischen Vorfahren preisgegeben haben und an ihren Palastbauten
zur flachen Holzdecke zurückgekehrt sind, lässt erwarten, dass die Kunst
in diesem Reiche keinen aufsteigenden Gang genommen haf^^). In der
That ermangeln die in der altpersischen Ornamentik beliebten Motive
fast aller Originalität; sie zeigen aber auch nicht die Vorzüge einer
") Im ^loment, da sie die orientalische Weltherrschaft antraten, waren
die Perser sicher kein Kuustvolk. Dass sie es späterhin nicht geworden sind,
dafür mag auch der Umstand mitbestimmend gewesen sein , dass dem sieg-
reichen Fortschreiten des Hellenenthums gegenüber der Orient bereits im
6. Jahrh. sicli so ohnmächtig fühlen musste, dass er gar nicht mehr ernstlich
daran denken mochte, die Rivalität auf künstlerischem Gebiete aufzunehmen.
110
A. Altoru'iitalisches
Mischkimst. l)l)zw;ir die assyriselif Wurzel unverkcninlKir ist, trügt
doch die Ptianzoiioriiaincntilc bezeiclmendermaasseii ein entschieden
egyptisirende!? Gepräge; dies lässt sich sowohl an den J.otusblütheir^")
als auch an den Pahnetteu (Fig. 43)*') wahrneluneu. Avelch letztere nur
den Kelch mit abwärts gerichteten Voluten (allerdings in der mageren
assyrischen Fornij und nicht die darüber aufsteigenden aufwärts ge-
kehrten Voluten zeigen, und auch in den geringen Dimensionen des
Fächers näher der egyptischen als der assyrischen Palmetle stehen. Au
der Ornamentik von Fig. 43 beobachte man auch die nichtassyrische
(eher egyptische) Weise, wie die aus mehrfachen ^Motiven gehäufte Längs-
Fig. 43.
Persisches ISordüren-Kckstiick. Kmuilziegol-Dekoiatiou aus Susa.
Ijordüre (Palmettenreihe zwischen zwei Zickzackltäudern, ausserdem
noch ein Rosettenband) sich an dem abschliessenden Querstreifen un-
vermittelt tiidt läuft. Aiieli (las .,]-)(»ii(|Ucf odiT (\rv .. i '.i In ii't tri i ha nur" lial in
der altitersiselHMi ( )i-iiam<'Utik seinen l'l.itz. und zwar glejelifalls nicht
in der assyri-ehen l-'orm des „heiligen l'aunies''. sondern in jener eg\'p-
tischen Form, wo vertikal in einander gesciiaditelte Tö])le (hier in
Kelchformi von ejneni einfachen PalinettentäcliiT liekroiit erscheinen
^Fig. II ^'■' .
■"; l'enot \ !• lg. .'i;j2 aus Susa; der Schwung" der I\(inlnren veniUh
hier a))('r bereits griechischen EinHuss.
-• Kheiula, auf Taf. XI.
-, \a<li T\-rrot V Fi»-. 346.
4. Persisches.
111
Wir beg-eg-neii also in der altpersischeii Pflanzenuniauientik einer
bereits wohlbekannten Forniensprache, ohne neue fruchtbare Ansätze:
Aveder in Bezug- auf die Einzelmotive (Lotus, Palmette), noch in Be-
zug auf ihre Verbindung unter einander (Bogenlinien mit Hefteln und
Volutenkelch). Auch haben wir es in der persischen Kunst bereits viel-
fach mit griechiseliem Einfluss zu thun, Avas ganz natürlich erscheint,
wenn man bedenkt, dass die Aufrichtung der persischen Weltmacht
erst vom Jahre 538 v. Ch. datirt. Dass den Griechen die Perser als
Inbegriff alles Orientalischen gegolten haben, ist nur aus dem Umstände
zu erklären, dass die Perser die alleinigen Universalerben ihrer Kultur-
Fig. u.
Persischer Palmettenbaiim, Emailzieael-Dekoratiou aus Susa.
vorfahren auf asiatischem Boden gewesen sind, — freilich Erl)en die
das empfangene Talent niclit gemehrt, sondern eher gemindert halien.
An den Vorzügen und dauernden Errungenschaften der altorientali-
schen Künste haben unten allen Kulturvölkern des Alterthums die
Perser den geringsten Antheil gehallt. Sie waren eben so glücklich,
Zeitgenossen der griechischen Kunstblütlie zu sein, durch die sie ver-
ewigt und den späteren Geschlechtern traditionell als Typen alles orien-
talischen Wesens überliefert worden sind. Die Wirkung davon ist noch
in der römischen Kaiserzeit zu spüren, und mag auch ein Wesentliches
beigetragen haben zur landläufigen Ueberschätzung, deren sich die
sassanidische Kultur und Kunst zu erfreuen hat.
112 B. Das Prtaiizenovnanicnt in der g-riechischen Kunst.
B. Das Pflaiizeiioriiaiiieiit in der grieeliiselieii Kniist.
AVir haben die Entstehun"' nnd Entwicklung- der Pflanzenornnmcn-
tik bei den altorientalisclien Kulturvölkern verfolgt bis zu dem späten
Momente herab, da der bewegliche hellenische Geist seine zunächst
friedliche Eroberung des Ostens bereits begonnen hatte. Wie auf allen
übrigen Gebieten des Kunstschaftcns sehen wir auch auf demjenigen
der Ornamentik die griechische Kunst spätestens in hellenistischer Zeit
den Orient in Besitz nehmen. Zweifellos war die abendländische Deko-
rationsweise bereits lange vor den Perserkriegen sowohl in ihren Grund-
principien als in ihren Einzelmotiven gegenüber der orientalischen die
* vollkommenere, stärkere geworden. Das Ziel, das schon der altorientali-
schen Ornamentik im Allgemeinen vorgeschwebt hatte und dem sich die
im Laufe der Geschichte einander ablösenden Kulturvölker des Alten
Orients, zwar mit stufenweisem Fortschritt, aber schliesslich doch nur in
unvollkommener Weise genähert haben, — dieses Ziel A\urde zuerst und
allein von den Griechen erreicht: nämlich jene harmonische, dem inneren
Wesen eines jeden Kunstwerks und seinen äusseren Entstehungs- und
Zweckbedingungen entsprechende Ausstattung mit Verzierungsformen,
jene „tektonische" Scheidung zwischen stort'liclu'm (irundund schmücken-
dem Ornament, zwischen statisch Wirksamem und Indift'erentem, zAvi-
schen Eahmen und f^üllung, welche allmälig bcAvusst durchgeführte
Scheidung die gesamnite Knnstentwicklung der Mittelmeervölker (ein-
schliesslich Xordasiens bis jenseits des Iran, das ja gleichfalls allezeit
nach dem Mittelmeere und nicht nach dem Osten Asiens gravitirte) von
derjenigen in der grossen ostasiatischen Kulturwelt anscheinend grund-
sätzlich unterscheidet.
Die schönste und bedeutungsvollste Errungt-nscha ft der
hellenischen Ornamentik, nach der schon die altorientalische
Kunst gestrebt hatte, ist die rhythmisch bewegte Pflanzen-
ranke; in ihr gipfelt das Verdienst der Griechen um die Entwicklung
des Pflanzenornaments, Die vegetabilischen Einzelformen, Avie sie uns
etwa in der griechischen Kunst nach T3eendigung der Perserkriege aus-
gebildet entgegentreten, erseheinen dagegen durchwegs ül)er jeden
Zweifel hinaus von den früheren, den altorientalischen Stilen, über-
nommen und wurflen von den (kriechen lediglich unter Absicht auf
P^n'eicliung vollkommenster formaler Schönheit ausgestattet. Beides —
sowohl die echt hellenische Ranke als das stilisirte vegetabilische Einzel-
1. Mykenisches. 113
Ornament von orientalischem Ursprung-, aber in hellenischer Ausg-e-
staltung- und Vollendung — ist für alle folgenden Stile, bis auf den
heutigen Tag, das Um und Auf aller idealen Pflanzenornamentik ge-
blieben. "Wie dasselbe zu Stande gekommen ist, soll im Nachstehenden
wenigstens zu entwerfen versucht werden.
Die ersten Anfänge einer national-griechischen Kunst sind mit den
heutigen Mitteln noch ebenso wenig bestimmt zu fixiren , als die An-
fänge des griechisches Volkes, als einer ethnographischen Einheit. Die
allerältesten Kunstdenkmäler, die hierfür in Betracht kommen können,
lassen sich heutzutage nur in sofern als griechische bezeichnen, als der
Boden auf dem sie gefunden worden sind, in der hellen historischen
Zeit von Griechen bewohnt gewesen ist. Es sind dies die aus den
ältesten Schichten von Hissarlik und Cypern stammenden Funde:
meist keramische Objekte mit rein geometrischer Verzierung. Mit
Rücksicht auf das vollständige Fehlen einer Pflanzenornamentik an
diesen ältesten Funden'), erscheint ein näheres Eingehen darauf für
unseren Zweck überflüssig. Eine unzAveifelhafte Pflanzenornamentik
findet sich dagegen in der sogen, mykenisclien Kunst und diese werden
wir daher zum Ausgangspunkte unserer Betrachtung machen müssen.
1. 3Iykenisches.
Die Entstehung der Ranke.
Die älteste Kunst, an deren auf dem Boden des späteren Hellas
ausgegrabenen Denkmälern uns ein unzweifelhaftes Pflanzenornament
entgegentritt, ist die sogen, mykenische Kunst. Hinsichtlich der Frage,
welchem Volke die Pfleger und Träger dieser Kunst angehört haben
mochten, gehen die Meinungen heute noch weit auseinander. Die
Einen rathen auf einen echt hellenischen Stamm, die Anderen auf
die Karer, die Dritten auf Grund der weiten Verbreitung der Fund-
stätten der hierher gehörigen Denkmäler auf ein Mischvolk, das die
Inseln und die umliegenden Festlandküsten bewohnt hätte, wie es
übrigens auch der Zusammensetzung des späteren hellenischen Volks-
begriff's entspricht. Angesichts solchen Zwiespalts der Meinungen
') Goodyear allerdings (S. 381) will das Vorbild der ältesten kyprischen,
d. i. der g-ravirten Dreieck- imd Zickzackornamentik, gleichfalls in den egypti-
schen Lotusblüthen-Reihen erblicken : eine allzugewagte Behauptung, die sich
bloss unter Berücksichtigung von Goodyear's radikaler Theorie von einer ein-
zigen Quelle für alle späteren Kunstformen verstehen lässt.
Riegl, Stilfragen. 8
114 B- ^^^ Pflaiizeuornaniont in der gTieehischeu Kunst.
müssen "wir davon absehen, unserer Betrachtung der inykcnischen Kunst-
denkmäler, oder, genauer gesagt, des an denselben zu Tage tretenden
Ptlanzenornaments einen liestimmten ethnographischen Ausgangspunkt
zu Grunde zu legen. V^'iv wollen versuchen diese Kunst ausschliesslich
von denjenigen Gesichtspunkten aus zu charakterisiren, die uns im Zu-
sammenhange der gestellten Aufgabe interessiren; vielleicht wird sich
uns daraus umgekehrt die Möglichkeit ergeben, auf die ethnographische
Frage Eückschlüsse zu ziehen.
Eine Charakterisirung der mykenischen Kunst nach allen ihren
Seiten hin ist bisher nicht geliefert, ja nicht einmal versucht worden.
Die Ursache hiefüi" liegt zweifellos darin, dass bei der Betrachtung der
bezüglichen Denkmäler neben vielem Bekannten manches Fremdartige
aufstösst, dessen Einreihung in die hergebrachte Schablone des orien-
talischen Ursprungs nicht recht gelingen will, und das anderseits auch
mit späterer helleniscliii- Weise keinen augenfälligen Zusammenhang
aufweist. Aus verschiedenen Gründen glaubt man ein hohes Alter für
die Blüthezeit dieser Kunst, jedenfalls mehrere Jahrhunderte vor dem
Jahre Eintausend annehmen zu sollen: damit lassen sich wiederum
Funde von so vorgeschrittener technischer und künstlerischer Be-
schaffenheit, wie etwa der Becher von Vaphio, anscheinend schwer ver-
einbaren.
Goodyear allerdings trägi auc-li liinsiciitlieli der m>kenischen Kunst
keine Bedenken, sie durchaus egyptischem Ursprünge zuzuweisen'")-
Von den ornamentalen Motiven der mykenischen Kunst lässt er nur
dem Tintenfisch eine selbständige, von Egy^iten unal)liängige Bedeutung
zukommen, und selbst diese eine Ausnahme scheint ihm an Werth sehr
viel eingebüsst zu haben, seitdem zwei mykenische Vasen mit Tinten-
fischen auf egyptischem Boden gefunden worden sind. Nun ist doch
im Allgemeinen die vorliei-iscliende Tendenz der klassischen Archäologie
eine urientfreundliche; wenigstens haben Ausführungen, die, wie etAva
diejenigen MilclilnU'er's, ein eunipäisch-autochtliones nichtorientalisclies
Moment in dei- ni\kenisclien Kunst zu wesentlieliei- Geltung l>ringen
wollten, bisher wenig entgegenkomniendc Aufnahme gefunden. Es muss
also der Sachverhalt doch nicht so klar und ül)crzeugend daliegen wie
er Goodyear erscheint, wenn wir wahrnelinien, dass dieser Forscher mit
seiner radikalen Theorie vom ausschliesslich egyptischen-) Ursprünge
'») A. a. 0. S. ;U1 ff.
*) Die egyptisclie Kunst wird Ja aucli zur altorientalischen im weitesten
Sinne ^jezJihlt.
1. Mykenisches. 115
der mykeiiischen Kunst Avenig'stens vorläufig' noch isolirt dasteht. Es
existirt in der mykenischen Ornamentik eine ganze Reihe von Motiven
ausser dem Tintenfische, die man auf originelle Erfindung- des mykenischen
Kunstvolkes zurückzuführen versucht hat. Darunter befinden sich auch
solche von offenbar vegetabilischer Grundbedeutung*, womit wir auf
unser eigentliches Thema gebracht werden.
Die mykenische Kunst hat von Pflanzenornamenten einen
sehr reichlichen Gebrauch gemacht. Indem wir uns der Er-
örterung der Avichtigsten und am häufigsten vorkommenden unter diesen
Motiven zuAvendeu, wollen wir analog dem Vorgange, den Avir bei Be-
sprechung des altorientalischen Pflanzenornaments beobachtet haben,
Aviederum zuerst die Blüthen-,
Knospen- und BlattmotiA'e für
sich betrachten, und in zAveiter
Linie die Art ihrer Verbindung
unter einander, und ihrer dekora-
tiven VerAvendung zur Flächen-
musterung überhaupt in's Auge
fassen.
"Was zunächst die vornehmsten
Blüthenmotive betrifft, so ist ihre ^. ,.
' Flg. 4o.
Betrachtung in der That geeignet Oberthell einer mykenischen Kanne.
Goodyear's Anschauung zu bestäti-
gen. Unmittelbare Copien eg>'ptischer Vorbilder mit allen Avesentlichen
Einzelheiten treffen Avir darunter zwar fast nirgends, aber ein Avechsel-
seitiger Zusammenhang ist doch in den meisten Fällen unverkennbar.
Und zAvar ist es insbesondere der Volutenkelc h , der den Zusammenhang
so recht augenfällig macht (Fig. 45)^''). Diesbezüglich hat schon vor
Goodyear FurtAA^ängler den SachA^erhalt richtig erkannt^). Xur hat
letzterer als Vorbild diejenige Form des Volutenlotus im Auge gehabt,
die ausser dem Volutenkelch bloss eine zäpfchenförmige Füllung des
inneren ZAvickels enthält 'Fig. 20); der an Fig. 45 sichtbare Fächer,
der die Blüthe nach oben im Halbkreis abschliesst, musste infolgedessen
FurtAvängler als selbständige Zuthat (Staubfäden) erscheinen. Eine solche
Annahme Avird aber entbehrlich, Avenn Avir als Vorbild A'on Fig. 45 die
egyptische Lotuspalmette (Fig. 16, 19) annehmen, die ausser Voluten-
'■'■^) FurtAvängler u. L. Myken. Vasen 81.
^) Sammlung- Sabouroff 9, Mykenische Vasen 60.
]^]ß B. Das Pflanzcnomameiit in der a'riecliischen Kunst.
kek'li imd zwickelfüllendem Zäpfchen ancli den Palmettenfächer, also
sämratliche an der Blüthe von Fig. 45 zu beobachtenden Einzeltheile
enthält-*). Egyptischer Knnstweise entspricht ferner das Ineinander-
schachteln von Kelchen, das Alternii'en von abwärts nnd aufwärts ge-
rollten Voluten, wobei zu oberst die bekrönende Blume ^). Auch ein-
fache dreiblättrige Lotnsproiile sind nicht selten, z. B. neben Voluten-
kelchen zu Zwickelfüllungen verwendet an einem goldenen Diadem'').
Volutenkelchformen mit blosser Zwickclfüllimg oder bekrönendem Pal-
mettenfächer in strengerer Ausführung als in der flüchtigen Vasen-
malerei treffen wir an Schmucksachen'). Gleichfalls an Goldschmiede-
sachen finden Avir das Dreiblatt mit mehr oder minder volutenartig ge-
krümmten Kelchblättern unter Beigabe von Eigenthümlichkeiten in der
Detailzeichnung, die auf die Absicht naturalistischer Behandlung schliessen
lassen^), worauf weiter unten in anderem Zusannnenliange zurückzu-
kommen sem wird. Endlich ist noch ein mit Voluten ausgestattetes
vegetal)ilisches ilotiv (Fig. 49) zu erwähnen, das zwar grössere Aehn-
lichkeit mit einem Blatte als mit einer Blüthenform zeigt, aber der
stark betonten Voluten halber dennoch als stilisirte Blüthe aufzu-
fassen sein dürfte, an welcher das zu Grunde liegende Dreiblatt
durch Zusammenziehung des mittleren, krönenden Blättchens mit dem
Kelche zu einem einheitlichen ungegliederten Ganzen umgebildet er-
scheint.
Bisher haben Avir es mit den Blüthen in Seiten- oder halber Voll-
ansicht zu thun gehabt, welche Projektionen an den mykenischen Nach-
bildungen der egyptischen Lotusprofil- und Lotuspalmetten -Vorbilder
nicht streng geschieden werden können. Auch die Blüthe in Voll-
ansicht oder die Rosette, hat vielfach Verwendung gefunden, so z. B.
am Alabasterfries zu Tiryns, an "Wandmalereien ebendaselbst, beider-
seits einfach neben einander gereiht in fast geometrischem Charalcter,
dagegen auf einer bemalten Vase aus dem d. mykenischen Grabe "i ii\
Begleitung eines ZAveiges, also in mehr naturalistischer Art.
*) Volutenkelch und Palmettenfächer olme vermittelndes Zäpfclien, z. B.
Schliemann, Mykenä Fig*. 87.
^) Schliemann, Mykenä Fig-. 80, g-anz im Schema des iihiinikisclicn Pal-
mettenbaumcs gelialten. Eine Aiiswalii bei Gondyear anl' Tnl'. 1,1\'.
^) Scldiemann, Mykenä Fig;. 281.
7) Schliemann, Mykenä Fig;. 162, 163, 278, 303.
') Schliemann, Mykenä Yi^. 261—266.
») Myken. Thongetasse XL 54.
1. Mykenisches. 117
Ausgesprochene Knospenmotive, namentlich in der typischen
Alternirung mit Blüthen, Avie sie die egyptische Kunst zeigt, hat die
mykenische Kunst anscheinend nicht zur Darstellung gebracht. Auch
von Blattformen ist nur eine hervorzuheben, die späterhin zu weiter
Verbreitung in der dekorativen Kunst gelangt ist: das sogen. Epheu-
blatt (Fig. 46)'"). Goodyear (S. 161 ff'.) hat auch für dieses Motiv Vor-
bilder oder doch Parallelen aus egyptischem Kunstgebiet beizubringen
gewusst, wie schon auf S. 51 angedeutet Avurde.
Die Uebersicht der wichtigsten Blüthenmotive, die in der mykenischen
Kunst vorkommen, hat also ergeben, dass in der That die Vorbilder
derselben, Avie schon Furtwängler und Goodyear Avollten, in den A^oluten-
Fig. 46.
Töpfchen mit „Epheublatt"-Urnament auf der Schulter. Mykenisch.
kelchformen der altegyptischen Lotustypen zu suchen sein AA'erden.
Von einer Charakterisirung der Art und Weise, in Avelcher die Entleh-
nung erfolgt ist, wollen Avir A^orläufig absehen und nur so viel fest-
stellen, dass die Entlehnung in keinem einzigen Falle als eine sklaAische
bezeichnet AA^erden konnte. Wir Avenden uns nun der Betrachtung des-
jenigen zu, AA'as sich mit Bezug auf die sonstige Ausstattung der ge-
schilderten Blüthentypen, insbesondere mit Bezug auf die Vereinigung
mehrerer Blüthen auf einem und demselben Grunde sagen lässt.
Einfaches Nebeneinanderreihen findet sich nicht bloss bei den
Rosetten, die z. B. auf den Diademen geradezu den Uebergang zu
starren, aus dem Kreise heraus konstruirten geometrischen IMotiven dar-
stellen. Auch die Volutenkelchformen sehen AAir sehr oft nm den Bauch
'0) Mykeu. Vasen XVIII. 121, XXI. 152, XXVII. 208.
\lg B. Das Pflanzenornament in der gTiecliischon Kunst.
oder die Schulter eines Gefässes herum in einfacher AVicdi-rliolunii-
neben einander gestellt, und zwar senkrecht zur Zone, auf Avelcher sie
fussen, gerade so Avie an den egyptischen Lotusblüthen-Knospen-Friesen.
Ein höchst bemerkenswerther Unterschied gegenüber der egyptischen
"Weise ergiebt sich aber sofort, Avenn die einzelnen Blüthenmotive mit
einem längeren Stiele ausgestattet -werden. AVährend in der egyptischen
Kunst die langen Schäfte steif und gerade emporstarren, sind die
flexiblen Stengel in der mykenischen Kirnst in der Kegel mehr oder
minder schräg seitwärts geneigt (Fig. 47)"), Avodurcli eine Be-
Avegimg zum Ausdrucke gebracht erscheint, die nicht in der Axenrich-
tung des Gefässes liegt und eben dadiu'ch die Aufmerksamkeit des
Beschauers hervorruft. Das Gleiche lässt sich am ZAveige mit dem
Epheublatte Fig. 4G beobachten. Es ist dies offenbar dir gleiche Ten-
Fitr. 47.
Aly kenisches Aasenornament.
denz, di<' auch den Kosetten vielfach an Stelle der steifen, siralilen-
fönnigen Anordining eine schräge Richtung ihrer Blätter gegeben hat
(Fig. 48)'-). Die zu Grunde liegende Tendenz vermögen Avir nur
nach ihrem Effekte zu beurtheilen; Avar der letztere in der That beab-
sichtigt, so Avai- das Ziel der „mykenischen" Künstler eine \'ei-lel> en-
digung, BcAA'egung der vorbildlichen steif stilisirien egy])-
tischen MotiA'e.
Ein anderes Beispiel, das zu dem i.;]eielien Frgehjiisse itihrt (Fig.49)'2)
ist von einer Vasenscherbe aus dem Ersten Grabe entlehnt. Hier sehen
Avir ZAvar die neben einander gereihten Pflanzenstengel parallel zur Axe
des Gefässes gestellt. "Wodurch sich aber auch in diesem Falle ein
") Myken. Vasen XIll. 82, XVIIl. 1-21, XX. 112.
''^) Schliomaim, Mykenä Fig. 459, ferner namentlich an «leii Dia'ienien
•/. B. Schlieinaiin. MykenJl Fi^^ 282, 358.
'•■) P'urtwaii^'-ler u. Löschcke, Myken. Tliongefässe II.
1. Mvkenisches.
119
gruiidsätzliclier Unterschied geg-enüber der egyptischen Weise kund-
giebt, ist der Umstand, dass die Stengel , von denen die leise geschweiften
Schilfblätter und Volutenblüthen rhythmisch abzweigen, nicht steif und
gerade emporstarren, sondern sich in sanfter Wellenbewegung in die
Höhe schlängeln. Es äussert sich darin offenbar dieselbe Neigung für
die geschwungene Linie, die wir auch an Fig. 46 und 47 bevorzugt
Fig. 48.
Knochen, umwunden von einem
Goldbande mit getriebener schräg-
blättriger Rosette.
Aus dem Ersten mykenischen
Grabe.
Fig. 49.
Gemaltes Vasenornament. Mykenisch.
sahen, derselbe leitende freie Zug in der Zeichnung, und auch der
gleiche künstlerische Effekt. Die gekrümmte Linie, welche dieEgypter
überwiegend bloss in den geometrischen Configurationen (Spirale) zur
Anwendung gebracht haben'*), wurde von den „mykenischen"
") Solche Ausnahmen wie der Weinstock, der, in der egyptischen Orna-
mentik ungebräuchlich, offenbar bloss um einer gegenständlichen Bedeutung
willen Darstellung gefunden hat, bei Prisse a. a. 0., Jarres et Amphores, be-
120
B. Das Pflanzenornament in der S'riechischen Kunst.
Künstlern auf das vegetabilische Ornament übertraiien'^).
Die Kurven der altegyptischeu Kunst (z. B. die Bogenlinien) sind starr
und leblos gegenüber der freien Art und Weise, in welcher dieselben
in der mykenischen Kunst geführt erscheinen.
T\'enn noch ein Zweifel daran übrig bliebe, dass die geschilderte
Tendenz in der mykenischen Kunst eine durchaus maassgebende und
Avesentliche gewesen ist, so muss er schwinden angesichts der That-
sache, dass diese Kunst die ülierhaupt einzig möglichen wahi'-
liaft künstlerischen Verbindungsarten gefunden hat, in
welche sich vegetabilische Motive innerhalb eines Fries-
■v-----;
?>^i
<.ä^i;V
^>.>.
•"SrV ii-^i-rsiisi^-i;
l'"ig. 6ü.
Topfscherbe, verziert mit aufgemalter fortlaufender WelUurauke. Jlykcniscli, ycfundcn auf Tliera
Streifens vermittels der gcsch willigen i'u Linie bringen
lassen. Flüssen wir iiäiiilich angesichts der Fig. 4t) und i'.l helcennen,
dass die „mykenischen" Künstler die llrsteii geAveseii sind, welche die
lobendig und frei bewegte Pflanzeiiraiike (üluiiden haben, so lässt sich
ferner auch der strikte NachAveis führen, dass dieselben auch die beiden
innerhalb einer IV.nliire inr,gliclieii mwl daher tür ewige Zeiten giltigen
Wellenrankensclieiiien bereits gek.inni und zur Anweiidiiiig gebracht
haben.
weisen nur die Kc;;-»']. Audi wo die Ulütlien über den senkrechten Steiiyel
etwas geneigt sind, verrjlth sich ein zu Grunde liegendes starres Schema.
'*) Weitere Beispiele dafür n. A. aus dem Vieiten Grabe: INTyken. Tlion-
gefässe VI. 30, 31, 32, 31.
1. Mykenisches. 121
Das eine ist die fortlaufende Wellenranke (Fig. 50)"^). Diese bestellt
in einer fortlaufenden Wellenlinie, von Avelclier in der Mitte einer jeden
Auf- oder Abwärtsbewegung- eine schwach eingerollte ßankenlinie nach
der entgegengesetzten Richtung (nach rückAvärts) abzweigt. An diese
Abzweigungen sind zAvar keine Blüthen-, Knospen- oder Blattmotive
angesetzt, aber der vegetabilische Grundcharakter Avird völlig klar,
Avenn Avir Fig. 4(3 zum Vergleiche heranziehen, avo die gleiche Eanke
an einem ZAveige sitzt, der als solcher durch das Epheublatt in un-
zweifelhafter Weise gekennzeichnet erscheint. Auch das auf Taf. VI.
3-4 der Myken. Thongefässe abgebildete Fragment aus dem Vierten
Grabe dürfte zu einer ähnlichen Wellenranke Avie Fig. 50 zu ergänzen
sein. Dass auch die reine geometrische Spirale dieses Schema über-
nommen haben mochte, lag nahe. Wenigstens ein Beispiel hiefür findet
sich bei Schliemann, Mykenä Fig. 460 auf der äussersten Scheibe links
unten (aus dem Ersten Grabe), AA^ofern sich __=.^_.=r— -
der Zeichner diesfalls keine AAdllkürliche Frei- m^F^^^^^^^^^^
heit gestattet hat. Ja, ich würde mich nicht ^^v\^\ ^^^/(^^
einmal viel dagegen sträuben, Avenn Jemand ^k^^^J^^^^
behaiipten wollte, dass die egyptische Spirale iB^^SiSPf
den Anstoss zur Schaffung der fortlaufenden t^?vsSv^i^^
Wellenranke gegeben hat: das Maassgebende i^U^^^^^
bliebe immer der Umstand, ob die Egypter r.echer aus Me^gara.''Mykenisch.
selbst, oder die „Mykenäer" es gcAvesen sind,
die diesen entscheidenden Schritt gethan haben. Es ist aber mit Gcaa-Iss-
heit anzunehmen, dass auch grössere vegetabilische Einzelmotive auf
fortlaufende Wellenranken aufgereiht AA'orden sind: zum BcAA^eise dessen
betrachte man nur noch einmal Fig. 49, aa^o der geschA^a^ngene Stengel
ja nichts anderes ist als eine Wellenranke, von der die paarAveisen
Schaftblätter und die grösseren mit Voluten versehenen Blätter ab-
zAveigen; nur konnten sie hier in freierer BcAvegung gehalten Averden,
weil sie in diesem Falle eben nicht in das schmale Band einer Bordüre
gebannt sind'^).
1«) Myken. Vasen XII. 79, auf Thera g-efunden, von FurtAvängler und
Löschcke ihrem zAveiten mykenischen Vasenstil zugesclu-ieben.
'') Man vergl. auch Furtwäng-ler luid Löschcke, Myken. Thongefässe
IV. 19: das Hauptmotiv ist in diesem Falle eine WellenUnie, in deren Keh-
lungen je ein Kreis mit einem eingeschriebenen fächerförmigen ZAA'eige sitzt.
Ferner erblicke ich eine fortlaufende Wellenranke in der Dekoration eines
Bechers aus Megara (Fig. 51), den Löschcke im Arch. Anzeiger 1891, S. 15
222 B- Das Ptlanzenoniament in der g-riechischen Kunst.
Die fortlaufende Wellenranke ist in der hellenischen
Kunst eines der allergewöhnliehsten Motive g'eworden, und
ist es durch alle folgenden Stile hindurch bis auf den heutigen Tag ge-
blieben. Und doch ist dieselbe in der altorientalischen Kunst
nicht nachweisbar. Angesichts der Einfachheit des Schemas ist
man versucht an das Ei des Columbus zu denken. Blicken wir aber
zurück auf die altorientalischen Stile, wie diese sich zu analog(ni Auf-
gaben verhalten haben, so sehen Avir deutlich ein. Avie nach mannig-
fachem Tasten und Versuchen erst die „mykenischen" Künstler die
erlösende Formel gefunden haben. An der reciproken Gegenüberstel-
lung gereihter Pflanzenmotive haben sich schon die Egypter versucht.
Ihre reifste Schöpfung nach dieser Richtung Avar der Bogenfries (Fig. 22),
dem sie einen ZAveiten gegenüberstellten (Fig. 23), um dem Postulat der
Reciprocität, des Aus- und EiuAvärtsAA-eisens eines Bordürenmusters Cienüge
zu leisten. Die Asiaten sind ebenfalls über diese Lösung nicht hinaus-
gekommen'^). Erst den „mykenischen" Künstlern gelang es durch die
P>rfindung des Schemas der fortlaufenden "Wellenranke einei'seits die
Einseitigkeit des einfachen Bogenfrieses (Fig. 22), anderseits die unschöne
Steifheit des gedoppelten, sozusagen reciproken Bogenfrieses (Fig. 23)
zu brechen, und die Motive abAvechsclnd nach oben und unten AA-eisend
auf eine durchlaufende Verbindungslinie aufzureihen. Dagegen hat
man höchst bezeichnendermaassen bis jetzt kein einziges Beispiel eines
vegetabilisch charakterisirten Bogenfrieses in der mykenischen Kunst
gefunden. Es ist dieser Umstand um so bezeichnender, als die MykeniUu'
soAA^ohl den Rundbogen als den Spitzbogen in fortlaufender Friesform
sehr wohl gekannt und inslx-sondere an getriebenen .M<'tnllbechern zur
publicirt hat. Löschcke glaubt das Uniament \ oii (h'u Nautilus-DarsteUuugen
ableiten zu sollen. Ich sehe eine Wellenlinie, in deren Buchten mandelförmige,
seitAA'ärts gesclnvungene Knnsi)en oder Blätter sitzen, ohne gleichwohl durch
einen Stengel mit der Wellenlinie verbunden zu sein; die kleinen Schlangen-
linien mit Punkt dienen offenbar '/um Abschlüsse der ZAvickel.
'") Bei Perrot und f^hipiez a. a. 0. III. Fig. öTfiD ist ein mit dei- Wellen-
ranke, \'erziei1es Geschmeide abgebildet, das aus (uriuni stanmit und Aon
Perrot phönikischem Ursprung zugCAviesen Avird. Dieses Beispiel hat Avohl
aucli Böhlau im Auge, Avenn er (.lahrl). 1888 S. 333) zum böotischen Beispiel
einer Wellenranke (siehe Fig. 80) von kyprisch-grieclnsclien Goldschmiedesaelien
.spricht, die das in Hede stehende Moti\' zur Schau tragen. In Anbetrnclit
der Vereinzelung' und des dem allgemeinen Charakter nach gewiss sjiäten
Entstehung-sdatums dieses Geschmeides kann man dasselbe in der Tbat nur
mit Böhlau g-riecliischem Ursprünge zuAveisen.
1. [Mykenisches. J23
Amvendung gebracht haben '^j. Auch auf Vasen ist der geometrische
Bogenfries nicht selten-*^).
So einfach also das Schema der fortlaufenden Wellenranke sich
vom Standpunkte unserer heutigen Uebersicht über das vergangene
Kunstschaffen darstellen mag, ist es doch zu jener Zeit eine Errungen-
schaft gewesen, die wir als epochemachend in der Geschichte der Or-
namentik bezeichnen dürfen. Und nicht genug damit: die mykenische
Kunst hat auch die zweite künstlerisch mögliche Variante des Wellen-
rankenmotivs , die intermittirende WeUenranke gekannt und geübt. Der
Beweis liegt vor auf einer Vase aus dem Sechsten Grabe (Fig. 52)2').
Die typische Form, in welcher das Motiv in der späteren griechischen
Kunst und in allen späteren Künsten überhaupt, überwiegend gebraucht
worden ist, soll gleich nachstehend durch ein Beispiel von einer melischen
Vase (Fig. 53 nach Conze, Melische Thongefässe I. 5) illustrirt werden.
Fig. 52.
Gemalte Epheuranke von einer Vase aus dem Sechsten mykenischen Grabe.
um die Identität desselben im letzten Grunde mit dem mykenischen
Beispiel zu belegen. Die Wellenlinie läuft an Fig. 53 nicht in einem
ununterbrochenen Flusse fort, sondern erscheint an den Berg- und Thal-
punkten unterbrochen durch Blüthenmotive, die sich daselbst in genau
derselben Weise ansetzen wie die Lotus-Blüthen und Knospen .an die
einseitigen Bogenreihen in der egyptischen (Fig. 22) und assyrischen
(Fig. 34) Kunst. Die Blüthenfonnen in Fig. 53 sind ebenfalls unver-
kennbare Abkömmlinge von egyptischen Vorbildern: dies beweist das
spitzblättrige Lotusprofil und die Volutenkelche, die allerdings missver-
standener Weise in Kreise transformirt erscheinen, mit Ausnahme der
äussersten Blüthe links, wo die Volute als solche noch deutlich zu
Tage tritt. Das mykenische Beispiel Fig. 52 unterscheidet sich nun
von der eben betrachteten Fig. 53 in Bezug auf das zu Grunde liegende
'^) Schllemann, Mykenä Fig. 475, 453.
20) Z. B. Myken. Thongefässe IV. 17.
21) Myken. Thongefässe XI. 56.
224 B. Das Pflaiizenornament in der gTiechisehon Kunst.
Kankenschema bloss dadurch, dass an ernsterem die Interniittirungcii
uicTit au die Berg- und Tlialpuukte verlegt siud. Zu Grunde liegt aber
auch der Fig. 52 zweifellos die Wellenlinie, die nur zum Unterschiede
von Fig. ö3 ungefähr in der Mitte einer jeden auf- und absteigenden
SchAviugung intermittin. Und selbst dieser Unterschied ist als wesent-
lich und charakteristisch nicht genug zu betonen, da er gleichfalls in
hohem Grade geeignet ist. dasjenige zu bestätigen, was wir vom Cha-
rakter der mykenischen Ptianzen-Ornanu'utik im Allgenu'inen gesagt
haben.
Die Kunst, die uns au den nielischcn Vasen entgegentritt, steht
bereits im erneuerten Banne eines entschiedenen orientalischen PHinflusses,
der sich weit unmittelbarer und autoritärer geltend gemaclit hat, als der-
Gemaltes Ornaiuent eiuer iutermittirenden Welleiiranke vou eiuer malischen Vase.
jenige, dem die „mykenischen" Künstler ihre Blüthenmotive verdankten.
Es hängt dies mit Geschehnissen der nachnnkenischen Zeit zusammen,
deren P^rörterung an geeigneterer Stelle nicht vorgegriHrn werden
darf. Die Ei'riingciiscliaften t\i'V A\'('lli'iiraiik(' lialicii nun die griechi-
schen Künstler auch der nachniykeni.schen Zeit niemals melir i)reisgc-
geben, aber die .Stilisining ist mit dem Eindringen der strengen orien-
talischen Typen gleichfalls eine strengere geworden. Die Eotushbitlicn
in Fig. 53 weisen ganz so wie die egyptisclicn parallel zur Axe des
Gefässes entweder aufwärts uder abwärts-'-). An der mykenischeu
■■'-) Struktnr.syinl)oliker werden freilich dieses Aul- und A1)wärtsweiseu
als feinsinnige Bezugiialniu- auf die Function des Aus- und l'ängiesscns auf-
tassen. Dies würde mm .■lilcnt.-ills liir lirn IIhIs eiuer \ase passen-, Fig. 53
1. Mykenisches. 125
Wellenranke Fig. 52 manifestirt sich dagegen der freie oder nur inner-
halb loser Fesseln sich bewegende Zug, den wir schon Aviederholt an
Fig. 46- — 49 n. s. w. hervorzuheben Gelegenheit hatten. Die angesetzten
Epheublätter Aveisen nicht starr nach auf- oder abwärts, sondern er-
scheinen schräg projicirt, um die einseitige Richtung zu durchbrechen:
dabei weisen ihre Spitzen dennoch, wie es dem Schema zukommt, ein-
mal nach oben und dann wiederum nach unten. Die Gefälligkeit des
Motivs ist eine bestechende und muss insbesondere denjenigen Wunder
nehmen, der die Blüthezeit dieser Kunst in möglichst fernabliegend»'
Zeiten zurückverlegen möchte. An Fig. 53 tritt dagegen das Schema
platt und deutlich zu Tage, und es bedarf erst genaueren Zusehens,
um uns zu überzeugen, dass es das gleiche Schema ist, das wir auch
an Fig. 52 befolgt gesehen haben.
Wenn die abweichende nüchterne Form von Fig. 53 dem Einflüsse
orientalischer Art der Stilisirung zugeschrieben wurde, so ist damit zu-
gleich gesagt, dass der antike Orient in vorhellenistischer Zeit
die intermittirende Wellenranke ebensowenig gekannt hat,
wie die fortlaufende Wellenranke, — und um so weniger gekannt
haben konnte, als das intermittirende Schema gegenüber dem fort-
laufenden eine Weiterbildung und Complication darstellt. Der Umstand
dass wir es hier mit einer vegetabilischen Wellenlinie, mit einer wirk-
lichen Pflanzenranke zu thun haben, Avofür wir bei Betrachtung der
fortlaufenden Wellenranke mangels von Blumen- oder Blätteransätzen
an den bezüglichen mykenischen Denkmälern keinen al:)soluten Nach-
weis führen konnten, erscheint ausser Zweifel gesetzt durch die „Epheu-
blätter", in welchen die Wellenranke in Fig. 52 intermittirt.
Es wnrde schon früher erwähnt, dass Goodyear-^) für eine ganz
ähnliche Stilisirung der Lotusblätter (S. 51) in der egyptischen Kunst
Beispiele anzuführen weiss, und deshalb das E'pheuhlaU einfach auf alt-
egyptischen Ursprung zurückführt. Was gegen einen solchen Zusam-
menhang zu sprechen scheint, ist der Umstand, dass das „Epheublatt" in
der mykenischen Kunst gerade immer in solcher Behandlung entgegentritt,
die gar nichts Egyptisches an sich hat. Von dem specifisch mykenischen
Charakter des Zweiges Fig. 46 war schon früher die Rede; das gleiche
gilt womöglich in erhöhtem Maasse von Fig. 52. In der späteren grie-
beflndet sich aber auf der Schulter ehier solchen (Fig*. 66). Auch in dieser
Beziehung- haben die Nachredner Semper's viel zu viel hineing'edeutelt.
23) a. a. 0. S. 161 ff.
126 B- D^s Prtaiizenornament in der gTiochischen Kunst.
chischen Kunst ist das Eplieublatt von der g-oselnvungenen Ranke meist
unzertrennlich: wo es lose gereiht vorkommt, dort zeigt es höchst cha-
rakteristischer prassen sehr frei bcAvegte Formen, wofür ein sprechendes
Beispiel auf der Schulter einer bei Salzmann, Necropole de Camiros
Taf. 47 publicirten Vase. Auch die nicht seltenen etruskischen Beispiele
von „Epheublättern", die Goodyear's Scharfblick nicht entgangen sind,
treten gcAvöhnlich in Begleitung von geschwungenen Kankenstengeln
auf. Was aber doch wieder andererseits eine Entlehnung aus egyp-
tischem Gebiete als das Wahrscheinlichste erscheinen lässt, ist der Um-
stand, dass es ein in der Geschichte der Ornamentik bis zu diesem
Punkte und noch lange nachher unerhörtes Ereigniss bedeuten würde,
wenn man ein so unbedeutendes Ding wie ein Blatt an und für sich,
um seiner selbst willen, unter die Zierformen aufgenommen hätte. Es
erscheint daher innner noch als das Wahrscheinlichste, dass das „Epheu-
blatt" als Blüthenform aus fremdem Kuiistbositz von den ..niykcnischen"'
Künstlern übernonunen wurde.
Wir fassen nunmehr das Ergebniss zusammen. In der mykenischen
Kunst begegnet uns überhaupt zum ersten Male eine frei bewegte
Pflanzenranke zu dekorativen Zwecken verwendet. Ferner ist die my-
kenische Kunst, so viel Avir sehen können, die Wiege der fortlaufenden
sowie der intermittirenden Wellenranke gcAvesen, d. h. derjenigen zwei
PHanzenrankenmolive, die der griechischen Kunst, und zwar dieser
zuerst innerlialb der ganzen antiken Kunstgeschichte, ganz besonders
eigenthümlich gewesen sind. Wer vorschauend sich der entscheidenden
Rolle bewusst ist, welche das Rankenornament in der Folgezeit, in der
hellenistischen und in der römischen Kunst, dann im Mittelalter nament-
lich in der saracenischen-^"), endlich in der Renaissancckunst bis auf
den heutigen Tag gespielt hat, wird erst voll ermessen, welche epochale
Bedeutung jener Zeit und jcnieni N'nlke beigemessen Averden mnss, avo
dasselbe zum ersten Male nachAvcislich geübt Avurde. Das i\lotiA' der
frei bcAvegten Pflanzenraiik(! ist in diesem Lichte betraclitet ein überans
sprechender Ausdruck liir den griechischen Kunstgeist übei-liau|>t. Ebenso
wie dieser die ui-nlt egyptischen Blütlieiinintive n;icii den Gesetzen des
''"") Die interniittirendc W'clleurankc ist n. A. nncli lieute <ias j;-el)räiu'ii-
lichstc Bordüreniriotiv au persischen Teppichen. Da kein ass.\ risciies oder
achämcnidisches Denkmal über die einscitijjen Bog-enreihen iiinausg'ekonniien
ist, Avird es wohl für niemand Unbefangenen mehr einen ZAveifel leiden, dass
dieses Motiv erst mit der helienistisciieii Invasion in das Festland von Asien
gelangt ist.
1. Mykenisches. 127
Formschönen in der denkbar gefälligsten Weise umgebildet hat, so hat
er auch die vollkommenste Weise der Verbindung zwischen diesen
Blüthen gefunden: die im Avohllautenden Rhythmus verfliessende Ranke.
Kein Vorbild in der Xatur konnte auf das Zustandekommen der Wellen-
ranke unmittelbaren Einfluss üben, da sie sich in ihren beiden typischen
Formen, insbesondere in der intermittirenden , in der Natur nirgends
findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des
griechischen Kunstgeistes.
Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen wir aber eine neue,
fundamentale Anschauung von der geschichtlichen Stellung der my-
kenischen Kunst überhaupt: die mykenische Kunst erscheint uns
hiernach als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen
Kunst der hellen historischen Zeit. Das Dipylon und Avas sonst
dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der ange-
bahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang giebt zwischen
kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen,
so Averden wir den Rückschluss wagen dürfen, dass das Volk, welches
die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonst-
weichen Xamens gewesen sein, • — dass dieses Volk eine ganz wesent-
liche Componente des späteren griechischen Volksthums gebildet haben
muss. Die zweite grosse Staffel der Kunstgeschichte, Avelche die vor-
alexandrinische Kunst der Hellenen repräsentirt, — die „mykenischen"
Künstler haben sie bereits erklommen. Wenn Puchstein in den Säulen
des Atridenschatzhauses die wahren protodorischen Säulen erblickt hat,
so Averden Avir in der Ornamentik der mykenischen Vasen und Gold-
sachen die AA^ahre protohellenische Ornamentik sehen dürfen, ebenso
Avie in der Krieger\"ase , dem Becher A-on Vaphio u. s. av. die unmittel-
baren Vorläufer jener Darstellungen rein menschlicher Thaten und Vor-
gänge, wie sie die reife hellenische Kunst auch auf gcAA^öhnlichen AU-
tagsAverken dem Auge vorzuführen gesucht hat.
Die erörterte Bedeutung des Rankenornaments, insbesondere der
Wellenranke, in der mykenischen Kunst ist, Avie es scheint — bisher
nicht genügend erkannt Avorden. Der einzige, dem meines Wissens das
Vorkommen der Wellenranke in den vor- und frühgriechischen Stilen
Anlass zu einigen Bemerkungen gegeben hat, ist J. Böhlau^*) geAA-esen,
der das Schema der fortlaufenden Wellenranke, wie es sich an einigen
von ihm untersuchten böotischen Vasen findet, ganz richtig mit dem
2^) Jahrb. des deut. archäol. Inst. 1888, S. 333.
228 ß- -^'^^ Pflanzenornament in der gnechischen Kunst.
mykenischen Beispiel Fig. 50 in Verbindung" g-obr;u'hr und dassL'lbc als
specitiscli gi'iechiscli erkannt liat, obne die Sache Aveiter zu verfolgen.
Goodyear ist das Vorkommen der fortlaufenden "Wellenranke in der
mykenischen Kunst augenscheinlich entgangen, nicht aber die inter-
mittirende Variante auf der Vase Fig. 52. Er giebt auch zu, dass dies
ein Motiv, und zAvar — wie er meint — das einzige Motiv sei-^), das der
mykenischen und der späteren griechischen Kunst gemeinsam gewesen
ist. Einen kausalen Zusammenbang zwischen beiden durfte er aber
nicht zugestehen, kraft des Vorurtheils, in dem er hinsichtlich des Allge-
meincharakters der mykenischen Kunst und ihrer Träger befangen ist.
Die „Mykenäer" sind in Goodyear's Anschauung karische Söldner ge-
wesen, kriegerische Beutemacher, die in Egypten aus Anschauung etwas
erlernt haben, und es zu Hause schlecht und recht nachmachten. Das
tiefer liegende künstlerische Moment kam, wie auch sonst in der Kegel
in Goodyear's Buche, bei dieser Beurtheilung gar nicht in Kechnimg.
Eine Erklärung für die konstatirte Gemeinsamkeit niusste aber von
ihm gleichAvohl geliefert werden.
Diese Erklärung Goodyear's lautet dahin, dass das ^lotiv von
Fig. 52 in der griechischen Kunst erst vom 5. Jahrhundert ab vorkommt,
(was schon durch das melische Beispiel Fig. 53 Aviderlegt erscheint),
dass Zwischenglieder fehlen und daher eine beiderseitige Entlehnung
aus einem dritten Gebiet angenommen werden müsse. Als dieses dritte
Beispiel bezeichnet Goodyear Cypern und zAvar auf Grund einer bei
Cesnola, Cyprus S. 145 abgebildeten Steinvase und eines daselbst auf
S. 190 publicirten Terracotta-Sarkophags. Keines der beiden Beispiele
zeigt aber eine intermittirende Wellenranke, und überdies sind beide
zweifellos griechischen Ursprungs. Die Steinvase enthält Epheublätter
auf einen geraden Stengel aufgereiht; die als Palmette gestaltete
Henkelattache lässt über den griechischen Ursprung dieses Stückes
keinen Zweifel. Der Sarkophag entliält allerdings die Epheulilätter
auf eine fortlaufende (nicht auf eine intermittirende) Wcllenranke auf-
gereiht; dieselbe macht aber einen völlig ausgeprägt griechischen Ein-
druck, und da Cesnola selbst über das Alter sich nicht ausspricht, auch
die Fundumstände keinen Avie immer gearteten Schluss zulassen, so
kann auch dieses Beis])iel nicht für einen BeAveis des Vorkommens der
"Wellenraiikc in dei- ]ilir.iiikiseh-ky]»rischen Kirnst angesehen Averden.
In der Kritiklosigkeit, die Goodyear in dieser Frage bekundet, Aviir<lc
") A. a. 0. 314.
1, Mykenisches. \29
er ofi'enbar vollends bestärkt durch den Umstand, dass Flinders Petrie
im Jahre 1890 zwei Beispiele von Wellenranken im Typus von Fig. 52
in Egypten gefunden haben soll, datirbar in die Zeit der 19. oder den
Beginn der 20. Dynastie. Selbst wenn sich die Identität dieser zwei Bei-
spiele mit dem intermittirenden Typus von Fig. 52 herausstellen sollte,
wäre dies mit Rücksicht auf das massenhafte mykenische Geschirr, das
in Egypten (namentlich von Petrie) gefunden wurde, nicht entscheidend
für egyptischen Ursprung. Zwischen dem Ijornirten egyptischen Kunst-
geist und demjenigen der sich in der griechischen Pflanzenranke aus-
spricht, liegt eben eine ganze Welt.
Der freie naturalistische Zug, der sich im I^ankenornament
ausspricht und dessen Vorhandensein in der mykenischen Kunst Good-
year schlankweg leugnet, lässt sich bei aufmerksamer Beobachtung auch
an gewissen Einzelmotiven der my-
kenischen B 1 ü t h e n o r n a m e n t i k beob-
achten. Wir haben schon vorhin (S. 115 f.)
gesehen, dass die „Mykenäer" die gebräuch-
lichsten Voluten -Blüthenmotive nicht skla-
visch nach dem egyptischen Typus kopirt,
sondern mehr oder minder frei nachgebildet
haben. Möglicherweise haben sie in der
Tliat bei der Einzeichnung der Palmetten-
fächer an Staubfäden gedacht, die Furt-
- ■ Fig. 54.
Wängler darin erblicken Avill. Es würde Getriebenes GoWplättchen. MykeniscU.
sich darin eine naturalisirende Tendenz
aussprechen, die das seiner formalen Schönheit (oder symbolischen Be-
deutung?) halber übernommene Motiv der verständlichen Wirklichkeit,
der realen Pflanzennatur anzunähern bestrebt gewesen wäre. Der Nach-
weis dafür, dass bei der Nachbildung der egyptischen Volutenmotive
eine solche Tendenz vorhanden gewesen ist, lässt sich in der That
wenigstens an einem Typus führen, dessen Diskussion seinerzeit (S. IIG)
für diese Gelegenheit vorbehalten wurde.
Es ist dies das Motiv des reinen Dreiblattes, woran ZAvei mehr oder
minder volutenförmig gestaltete Blätter als Kelch dienen, aus welchem
sich das dritte Blatt als krönende Zwickelfüllung erhebt. Als Beispiel
diene das Goldblech Fig. 54 -'5) mit aflfrontirteni Pantherkatzen-Paar über
-'') Schlieinann, Mykenä Fig. 266. Weitere Beispiele ebendas. Fig. 87,
264, 265, 470.
Riegl, Stilfrageii. «^
130
B. Das Pfianzenovnament m der üTiochisclien Kunst.
dem Dreiblatt. Die einzelnen Blätter zeigen eine dentlielie veg-etabilische
Stilisii'tmg- mit Mittelrippe und divergirendeu Seitenrippchen. Diese
Stilisirnng ist den analogen egyptisclicn Lotns-Dreiblättern'-') fremd.
;Man könnte daher versucht sein das mykenische Dreiblatt, Avie es in
Fig. ä-l entgegentritt, für eine selbständige mykenische Erfindung zu
halten, Avenn sich der Zusammenhang desselben mit egyptischen Vor-
bildern nicht monumental nachweisen Hesse.
Den Ausgangspunkt für diesen Nachweis bildet die berühmte, in
Stein skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55 nach Schliemann,
1 ij,'. öö.
Skulpirtcs Deckenornament von Orchomenos.
Oroliomenos Taf. 2). AVer den entwicklungsgeschiclitliciicii Faden di-r
Ornamentik, soweit Avir iliii bislicr entrollt haben, sich gegcnAvärtig häh,
dem Avird auf den r-rstcn lilick insl)esondere die daran (Schliemann,
el)endas. Taf. 1) durcligcführte entschiedene Selieidnng ZAvisclien Innen-
feld und Bordüi-f auffallen. Doch müssen \\ir di<' Enu-tcrung dieses
Punktes vorläulig verscliieben und A'or Allem jene Umstände in's Auge
f.L.^,.,,, Avelc))«- einen unmittelbaren Zusannuenhang des vorliegenden
■'y Z. li. l'i;r. -10 in Skuljitur. mIht aiicli in ilcr minder strengen
Malerei.
1. Mvkenisches.
131
Deckenmusters mit egyptischen Vorbildern zu beAveisen geeignet sind.
Es ist dies namentlich die Musterung in Spiralen, deren je vier immer
an einem mittleren Aug'e zusammenlaufen. Genau dasselbe Scliema
tinden "wir Avieder an einer gemalten egyptischen Deekendekoration
(Fig. 56)^^). Die vier sphärischen Zwickel, die durch je vier benach-
barte Spiralen gebildet erscheinen, sind in letzterem Falle mit je einem
Zwickellotus ausgefüllt, so dass in der Mitte noch Raum bleibt für eine
Eosette. Dagegen ist am mykenischen Beispiel Fig. 55 immer nur einer
von je vier Zwickeln ausgefüllt, aber
das zur Füllung desselben verwen-
dete Motiv ist zweifellos ebenfalls
einem gleiehgearteten egyptischen
Vorbilde entlehnt. Auch das myke-
nische Füllungsmotiv zeigt nämlich
die Grundform eines aus drei langen
und spitzen Blättern gebildeten Blu-
menprofils; die dazwischen eingezeich-
neten Blätter sind in Fig. 50 aller-
dings von spitzer Form, in Fig. 55
dagegen abgerundet , welche Ab-
. weichung aber keineswegs als eine
wesentliche gelten darf, da auch für
diese Art der Stilisirung des Zwickel-
lotus ein egyptisches Vorbild vorliegt,
nämlich die Lotuspalmette, die in der
egyptischen Kunst zur Zwickelfüllung
in spiralengemusterten Bändern unter-
schiedslos neben dem spitzblättrigen
Lotusprofil verwendet vorkommt. Das
Zerfallen der den Fächer an Fig. 55 bildenden abgerundeten Blätter in je
vier Zonen ist nicht minder egyptisch und könnte vielleicht mit der techni-
schen Herstellung"') zusammenhängen. Als ein wesentliches Moment muss
aber die Schrafifirung der beiden Kelchblätter betont werden, die sich
den Spiralen sphärisch anschmiegen. Das dritte, füllende Spitzblatt ist
nicht quer schraffirt, sondern der Länge nach durch Furchen gegliedert.
Fig. 56.
Gemaltes egyptisches Deckenmuster.
-*) Prisse d' Avenues, Ornementation des plafonds, postes et fleurs, No. 3.
-^) Vielleicht waren die durch Stege begrenzten Zellen dazu bestimmt
Emailpasten aufzunehmen.
9*
132
B. Das Pflanzenornament in der ü'rieohischen Kunst.
"Wenn man von der Sehrartirnng der Kelelil)lätter absieht, su trägt das
Ganze einen ziemlich strengen Charakter, was auch in dem Umstände
M-ohll)eg:ründet ist, dass die Kopie des zu supponirenden egyptischen
Vorbildes offenliar in recht genatter Weise erfolgte.
Die konstatirte Genauigkeit der Uebertragung mochte vielleicht
damit zusammenhängen, dass die Decke von Orchomenos in Steinrelief
ausgeführt worden ist. Freiere Bewegung war erst dann ermöglicht,
Avenn es sich um Ausführung in einer Ircieren Technik z. B. in AVand-
malerei handelte. Hiefür haben Avir ein Beispiel aus Tiryns (Fig. 57) ^'>),
das uns in trefflicher Weise dazu dienen wird, den Process der weiteren
Verarbeitung des Motivs durch die mykenischen Künstler zu verfolgen.
Das Grundschema ist hier das gleiche wie in Orchomenos: Spii-alen
Fig. 57.
Oriuimentalo Wandmalerei aii.s Tirvns.
mit ZAvickellotus^'); dazu im Saum Rosetten und zn äusserst die zahn-
sehnittartigen Stäbchen, elicnfalls genau ^\i<■ an der Decke von Orcho-
menos. Uns interessirt hier vornclinilicli dn Zw iclccllutiis. \'(in den
drei spitzen Blättern, die das (;i'rii>iM' dcssellx'n bilden, sind hier nielit
bloss die beiden seitlichen durch Scln-aftirung gleichsam als geripin
cliarakterisirt, sondern auch das tiillcnde mittlere Blatt: also ein
zweifellos naturalisirender Zug, den wir au denselben Typen in der
egyptischcn Kunst nirgends vorlinch'n. Hinsieht licli des Palmettenfächers
liat es sich der ]Maler sehr be(|uem gemacht, indeiu er nicht die ein-
zelnen radiantr-n Blätter, sondern die dei' I'.reiie nach .ingi-ordneten
■'•") Scliliciiianii, Tirvns Tal'. V.
'; Da es sich hier um eine schmale Bordüre handelt, setzen an jeih iii
Auge nui- je zwei Spiralen al», was natürlich ilic blentität beider Cluster niclit
altcrirt.
1. Mykenisclies. I33
Zonen von Fig. 55 mit Strichen angegeben hat. Dagegen ist der ZAvickel-
lotus in Fig. 57 gegenüber Fig. 55 nni den dreiblättrigen Ansatzkelch
im innersten Spiralenwinkel vermehrt, Avas nach früheren Auseinander-
setzungen (S. 65) wiederum einem echt egyptischen Postulat entsi>richt.
Die gefiederten Lotusprofll-Blätter in Fig. 57 nun, die einerseits
mit denjenigen von Fig. 55 auf's Engste zusammenhängen, dürfen
anderseits wohl als die nächsten Verwandten jener gefiederten Drei-
blätter angesehen Averden, die uns an Fig. 54 begegnet sind. Der
naturalisirende Zug, der sich an den Goldblättchen gleich Fig. 54 aus-
spricht, tritt auch an der Wandmalerei Fig. 57 zu Tage, deren egyp-
tisches Vorbild ausser ZAveifel stünde, auch wenn uns die Decke von
Orchomenos nicht zu Hilfe käme Diese letztere (Fig. 55) zeigt uns
das egyptische Vorbild verhältnissmässig am reinsten kopirt; aber selbst
hier konnten Avir an "der Schraffirung der seitlichen zAvei Spitzblätter
eines jeden ZAvickellotus die beginnende Neigung zur naturalistiscüen
Charakterisirung- beobachten. Auch diese Neigung ist eine echt
griechische, die durch Dipylon und orientalisirende Stile lediglich A^er-
dunkelt wurde, und zwar so nachhaltig A^erdunkelt, dass sie erst in der
perikleischen Zeit, die auch schon in so vielen anderen Beziehungen
die unmittelbare Vorläuferin der hellenistischen gCAvesen ist, Aviederum
zu mächtiger und gestaltender Geltung gelangte. Zum BcAveise dessen
nenne ich, der Aveiteren Schilderung der EntAvicklung A^orgreifend, die
gesprengte Palmette und den Akanthus.
Also nicht so sehr die pflanzlichen Motive selbst, sondern
ihre Behandlung ist es, Avodureh sich ein selbständiges Kunst-
schaffen an den Ueberresten der mykenischen Kultur kund-
giebt. Gerade die in dieser Kunst gebräuchlichsten Blüthenmotive
Hessen sich auf dem Wege der Vergleichung auf die alten egyptischen
Typen mit Volutenkelch zurückführen. Wasserpflanzen darin zu er-
blicken, Avie bisher vielfach angenommen Avurde, halte ich nicht für
gerechtfertigt. Man hat dabei augenscheinlich die schmalen Scliilf-
blätter im Auge gehabt, Avie sie z. B. an Fig. 49 vom undulircnden
Hauptstamme abzweigen. Solche schilfartige Blätter finden sich aber
auch an egyptischen Vorbildern, z. B. an Fig. 40 in der Bekrönung
alternirend mit Lotus. Der Unterschied zAvischen diesem egyptischen
und jenem mykenischen Beispiel beschränkt sich im Wesentlichen bloss
darauf, dass die Schilfblätter dort gerade und sell)ständig emporsteigen,
hier dagegen von einem gemeinsamen Stamme abzAveigen: es ist also
wiederum eine verschiedene Behandlung der gleichen Grundmotive, die
134 ß- Das Pflanzeuornament in der griechischeu Kunst.
— Avie wir gesehen liabeii — das Verbältiiiss der mykenisclien zur
egyptischeu Pflauzeuoruamentik überhaupt kenuzeichnet.
Zweifellos enthält aber die mykenische Ornamentik auch
eine Reihe von Motiven, deren Ursprung wir aus der egyp-
tisehen Kunst 'abzuleiten nicht im Stande sind, und die wir
daher, vorläulig Avenigstens, als Originalschöpfungen dieser Kunst an-
sehen müssen. Vor Allem sind dies 3IotiA-e animalischer Natur, was ja
um so begreiflicher erscheinen Avird, Avenn AAir uns erinnern, dass der
Mensch allenthalben 2-) am frühesten die LebeAA^esen aus seiner Um-
gebung, sei es plastisch, sei es zeichnerisch, auf einer Fläche naclizu-
bilden A-ersucht hat. Den küsten- und inselbeAvohnenden „Mykenäern"
Avii'd der essbare. Aielleicht einen Hauptbestandtheil ihrer Nahrung ge-
bildet habende Tintenfisch oder der Polyp ^^) näher gestanden sein als
etwa der Ibis oder die Brillenschlange. Der Tintenfisch ist denn auch
dasjenige — und ZAvar das einzige — ^Motiv, dessen Originalität Good-
year (S. 311) den Trägern der mykenisclien Kunst zugesteht; er A'cr-
Aveist hiebei auch recht überzeugend auf die Bedeutung, die dieses See-
tliier noch heute für die BcA^ölkerung der LeA^ante besitzt. Selbständige
Entstehung mag man ferner den Schmetterlingen^^) einräumen, deren
Stilisirung (Kopf und Fühler) sich als ein gemeinsames Produkt egyp-
tischer und nnkciiisclier "Weise darstellt. Aber aucii ein anscheinend
A^egetabilisches Motiv finden Avir in der my kenischen Kunst (Fig. 58) 3^),
Avofür es AA'ohl recht sclnver fallen dürfte ein egyptisches Vorbild bei-
zubringen, dem A'ielmehr ein naturalistischer Ckarakter innezuAvohnen
scheint. Die Projektion stellt sich dar in ]iall)er Volhnisidit. liat aber
mit der egyptischeu Palmette augensclieiiiiicli niclits zu thun. In der
Akanthus-Palmette AA'erden Avir eine A^erwandte Bildung kennen lernen;
lür <\\i- Hi'i->ii'llung eines beiderseitigen Zusamiuciili.ings felden aber
alle Zwisclienglieder. Es gcAvinnt somit den Anschein, dass dieses
pflanzliche Motiv, ebenso Avie der Tintenfisch und der Schmetterling, im
'*) Wie die Trog-lod_\ ten in der Dordogne, vgl. 8. 21.
2^) Der Polyp auf assyrischen Reliefs (Layard, Monuments I. 71) hat
gewiss auch selljständige gegenständliche Bedeutung und Aveder mit dem
mykenisclien ]^olyj)en nocli mit etwaigen egvj)tisclien Vorbildern icnnstgescliiclit-
lich irgend etwas zu tliun.
"*) Schliemann, Mykenä Fig. '243: von Insekten haben die Egypter die
Heuschrecke zur Darstellung gebracht: Prisse d'A., Ornementation des plafonds
bucräncs unten.
^^1 Goldhiältchen Ix-i Schliemann, iMykcnii Fig. 241), dann Fig. 247,
248, 250.
1. Mykenisches. 135
weiteren Verlaufe der Kmistentwicklung- auf gTiechischeiu Boden ver-
schwunden und den strenger orientalisirenden Motiven Platz ge-
macht hat.
Die Bedeutung-, welche der Spirale in der egyptischen Kunst für
die Fortbildung- der Pflanzen Ornamentik eingeräumt werden musste,
zwingt uns, auch auf ihre Stellung in der my kenischen Kunst näher
einzugehen, trotzdem dieses Motiv von Haus aus ein geometrisches ist
Fit'. ä8.
Gestanztes Ooldplättchen. Mykenisch.
und daher um seiner selbst willen in einer Untersuchung über das
Pflanzenornament keinen Raum beanspruchen könnte.
Eines der einfachsten Spiralenmuster in Bordürenform bietet die
Wand eines hölzernen Kästchens (Fig. 59) ^'^). Die fortlaufende Spirale
windet sich hier um ein mittleres Aug-e, ähnlicli wie das egyptische
Beispiel, Fig-. 20, wo das Auge mittels einer Rosette verziert erscheint.
Das Grundelement ist Ijeiderseits ein geometrisches, bandartiges: in
Fig. 25 ist es gemalt, in Fig. 59 im Holze vertieft zu denken. Soweit wäre
die Uebereinstimmung in allem Wesentlichen aufrecht; einen bemerkens-
werthen Unterschied ergiebt erst die Betrachtung der Zwickelfülltmg.
36) Schliemanii, Mykenä Fig. 222.
X36 ß- I)as Pflanzenornament in der g-riechisclien Kunst.
An dem mykenisclu-n Kästchen ist diese FüUiuig- vielleicht eine völliii-
znlallige, gar nicht beabsichtigte, denn das sphärische Dreieck ist bloss
durch die Furchen hervorgebracht, "welche dazu nöthig Avaren. um
einerseits die Spirahvindungen. anderseits (b^i Aussensaum der Käst-
chenwand zu begrenzen. Man könnte in diesem Falle in der That
sagen, dass das Zwickeldreieck durch die „Technik" bedingt sei: gewiss
eine der allerprimitivsten ZAvickelfüllungen ^'). Wir begegnen derselben
bezeichnendermaassen auch bei den neuseeländischen Maori: vgl. Fig. 28
an der äussersten Windung reclits ol)en die Dreiecke, die auch nichts
anderes sind als Zwickeltullungen der Spiralen. Dagegen zeigt die
egyptische "Wandmalerei, Fig. 25, den ausgeBprochenen Lotuskelch in
ii«. 59.
Geschnitzte Wand von einem nolzküstchcn. Mykeniscli.
Profil zur Zwickelfüllung verwendet, ^lan ist sich bereits einer künst-
lerischen Nothwendigkeit l)ewusst geworden, das neutrale Zwickelfeld
mit einem urnamentalen ]\[otiv auszufüllen.
Die mykenisclie Spiralornamentik ist auch über blosse bordü-
renartige Streifenverzierungen li in ausgegangen. Zwei nelii'n
einander herlaufende Spiralen, die in ihrem Con- und Divergireu eine
fortlaufende Keihe herzförmiger Configurationen Inlden, zeigt die Vase
bei Furtwängler u. Löschcke, ISIyken. Thongei". I, 'iline jede Zwickel-
füllung. Das gleiche Motiv, aljer bereits mit Zw iekelfüllung nach cgyj)-
tischer Art, unter geometrischer Selieiuatisirung der Zwiekelpalniette
■'■'} Die in der niykenisclicn Kunst iifter wiotlerkclirt: in Stein Tiryns
Taf. IV, aber aucli in Wandmalerei ebenda Taf. Xa, auf Vasen Mykcn. Tlion-
gefässe I\'. 1 l. an einem Goldknopf bei Schliemann, Mykcnä Fig. 422.
1. Mvkenisclies.
137
finden wir auf der Vase Ix-i Furtwäng-lcr u. Löschcke, Myken. Vasen
XII. 58. Legte man noch mehrere solcher Spiralen nebeneinander, so
konnte man ganze Flächen damit überkleiden, wie dies an der goldenen
Brustplatte, Fig. 60^-^), der Fall ist. Das gleiche Schema haben wir in
der egyptischen Ornamentik durch Fig. 26 kennen gelernt. Der l)eider-
seitige Unterschied beruht auch hier in der Zwickelfüllung. Die my-
kenische Brustplatte weist diesbezüglich ovale Jlotive auf, die sich mit
den tropfenförmigen Zwickelfüllungen der egyptischen Kunst (Fig. 20^
Fig. 60.
Goldene Brnstplatte mit getriebenen Verzierungen. ^Mykeniscli.
in Verbindung bringen lassen. Die egyptische Wandmalerei verwendet
dagegen wiederum die typischen Zwickellotusblüthen.
Stellt sich nach dem bisher Gesagten die mit dem Zwickellotus
ausgestattete Spirale als die specifisch egyptische Form derselben her-
aus, so ist doch daran zu erinnern, dass auch diese in der mykenischen
Kunst nachgewiesen ist, wofür einfach bloss auf Fig. 55 und 57 ver-
Aviesen zu werden brauclit. Die Uebereinstimmung dieser beiden Muster
mit dem egyptischen, Fig. 50, ist eine so weitgehende, dass wir trotz
einzelner Abweichungen im Detail an dem Zusammenhange zwischen
beiden nicht länger zweifeln zu dürfen glaubten. Eine ganz ähnliche
^^) Nach Schliemann, ^lykenä Fig. 458.
]^38 B- I^'is Pflaiizouornament in der üTiechischen Kunst.
Verwendung der Spirale finden ^\ ir lerner avif der steinernen Grabstele
bei Schliemann Mykenä, Fig. 1-40, in diesem Falle aber bezeiclmender-
maassen ohne Z-wickelfüllung. Es ergiebt sich daraus der Schluss, dass
die ..Mykenäer" das Postulat der Zwickelfüllung nicht als ein absolutes
angesehen haben. Das Gleiche bestätigt der Kückverweis auf Fig. 59
und die hiezu citirten verwandten Beispiele.
Ist es nach all dem Gesagten nothwendig anzunehmen, dass die
Mykenäer das Ornamentmotiv der Spirale von den Egyptern über-
nommen haben? Die Nachahmung egyptischer Spiralmuster ist zwar
durch die Decke von Orchomenos über jeden Zweifel hinaus erwiesen:
genügt dies aber, um das Aufkommen des Motivs selbst in der my-
kenischen Kunst auf Anlernung aus egyptischen Vorbildern zurückzu-
führen? Es ist überaus schwierig, eine entscheidende Antwort attf diese
Frage zu geben. Ich muss mich daher darauf beschränken, meine
Bedenken dagegen zu äussern, dass man heute schon, auf Grund der
blossen Vergleichung der vorliegenden beiderseitigen Denkmäler, eine
vollständige Abhängigkeit der mykenischen von der egyptischen Spiral-
ornamentik behauptet, wie sie z. B. Goodyear über alle Zweifel erhaben
ansieht.
Ich denke dal>fi keineswegs an die vielfach beliebte Altlcituni^-
der Spirale aus inatcricll-technischen Nothwendigkeiten , am wenigsten
an die Drahtspirale, die zu diesem Behufe am häufigsten herangezogen
wird. AVeit eher könnte man diesbezüglich an die textile Schnur
denken, die auf einen Untergrund aufgelegt und mit Ueberfangstichen
befestigt erscheint. Die fortlaufende Schnur füiu't in solchem Falle
sehr natürlich zu spiraligen Einrollungen, aus denen sie den Ausgang
selber finden muss. Diese spiraligen Sclmürchenstickereien bilden nocli
heute die Hauptverzierung der Tiacht der r.alkanbeAvohner und weiter
in Kleinasien und Syrien, «1. h. in solchen liändern, die sännntlich
wenigstens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. dem
Hellenismus auheimgefallen waren. AVir werden siiäter sogar Beispiele
kennen jcrni'ii n-'ig. 87), dass speciliscli alti^riechische Ornanientmolive
niitti'is der Scliniirciienstickerei liis auf den iieutigen 'l'ag auf der
Balkanhalltinsel dargestellt wenleu. Dies .Alles Ix-i-echtigt uns noch
keineswegs, den Ursjiruu;:- der Spir.ile auf die Technik der Schnürchen-
stickerei zurückzuführen. Die Si-hnürchenstickerei mochte sich des
Motivs der Spirale als des ihr zusagendsten gern ])emächtigt haben:
die fTste Schaffung desselben kann trotzdem auf das freie menschliche
Kunstwollen zurückgehen. Dasjenige, was mich vor Allem /("igern
1. Mvkenisches.
139
lässt, die my kenische Spirale auf ausschliesslichen Anstoss von eg'vp-
tischer Seite zurückzuführen, ist vielmehr der Umstand, dass die my-
kenische Kunst eine mit der Spirale sehr verwandte Orna-
mentik g-ebraucht hat, welche in der eg'yptischen, soviel wir
sehen, nicht in Verwendung' stand.
Das Element der Spiralornamentik in der mykenischen wie auch
in der egyptischen Kunst ist das Band^^). In der mykenischen Kunst
kommt aber das Band nicht bloss in Spiralwindungen, sondern auch zu
Fig. 61.
Goldblättchen mit getriebenen Verzierungen. Mykeniscli.
anderen Conhgurationen ang-eordnet vor. Namentlich getriebene Gold-
plättchen (Fig. 61) ■*'^') zeigen diese Bandornamentik. Als charakteristisch
^3) Bei der herrschenden Neig-ung- überall hinter den primitiven Ver-
zierung-sformen die Einwirkungen der Textilkunst zu vermuthen, halte ich es
für nöthig- ausdrücklicli zu betonen, dass mit der oben g-ebrauchten Bezeich-
nung- „Band" durchaus keine Bezugnahme auf die Vorbildlichkeit eines textilen
Bandes verknüpft zu denken ist. Das „Band" ist in diesem Fall nur eine be-
sonders körperlich zur Darstellung- gebrachte Linie. Bandornamentik in
diesem Sinne treffen wir bei Völkern (Älaori), die niemals ein textiles Band
gekannt haben.
■"') Schliemann, Mykenä Fig. 245.
140
B. Das PHanzenovnament iu der a'i'icchischen Kunst.
ist hiebei luTvorzuhelieii . d;iss die AViiulinig'en der Bänder immer klar
nebeneinander ji'eleo-t sind im Gefi'ensatze zu den ,.Bandverscldini;'nni;'en''
der ..nordiscli-IViiliiiiittilalterlielien" Knnst. Sollte nicht auch diese
Ixcii'elmässig'keit, so wie der rlnthmisch
uiidulirende Verlauf der mykenischen
IJandornamente auf Kechnung' des in
der mykenischen Kunst latenten klassi-
schen Kunstgeistes zu setzen sein")'?
An Fig\ Gl ist ferner der Umstand
zu beachten, dass die einzelnen J5aud-
windungen um Aiujev lierumgclegt sind.
Aehnliches haben ^\\\• allerdings auch
in der Spiralornamentik der Egypter
i:"'4v ; (S. 72) wahrnehmen können. "Wenn nun
fvV' ! die Mykenäer ihre Spiralen um Augen
laufen Hessen (Fig. 59), so läge es zwar
am näclisten, diesen Umstand ebenso
wie das ^lotiv der Spirale selbst aut
Kechuung egyptischen Einflusses zu
setzen. Hing-egen kennen Avir um Augen
g'erollte Bänder aus der egvinischen
P'^'^'^' ''^it^^'^% , r*|^//'! Kunst nielit. Könnte da das Auge an
r-5',r /• v;:.\" ^ ■ ?: • i •'" ; Beispielen wie Fig. (jl nicht ebenso
seil)st;üulig zur AuAvendung und Gel-
tung im Künstlerisehen gelangt sein,
wie etwa die sphäriselien Zwickeldrei-
• ■ekc in Fig. ;")'.>?*-').
\'ou mykenischen Baudmtistern
möge noch dasjenige von einer steiner-
.*
»
Fig. C2.
.Skulpirtes liandornaiTient von einem
Grabstein.
■") Das spätere griccliischc baliyiiiith liilild liicNoii nur eine sclirinlinre
Ausnahme, da in diesem Falle das Iläthseliial'te bt-absiclitigt war; um so l)e-
zeichnender ist hiebei der Umstand, dass das g-rieehisclie Labyrinth die Ver-
schling'ung'en verschmäht, wogegen die „nordischen" Fabyrintiie iiucn w ii ren
Charakter hauptsächlieli dem vielfaclicn Sielikren/rn nnd riitiTcinanderN cr-
schwinden der Bänder verdanken.
*■) In diesem Liclite l)etrachtet köinite aucli das nieso]iotamisehe Fieelit-
band (Fig. 28, S. 88), das sich gleichfalls um ein Auge rollt, sowohl von
egyf)tischen als von mykenisci)en Bildung'(!n unabhängig sein. NCiw andtc
aber keineswegs gleichartige Beispieh», aus mykenischem Bereich sind l)ei
Schliemann, Mykenä Fig. 'W.), Myken. Vasen XXXIV. 338.
1. Mvkeiiisches.
141
nen Grabstele (Fig. G2) *2) ErAvälmung finden. Das reciproke Muster,
zu welchem liier das Band znsammeng-eleg't erscheint, ist ein höchst
einfaches; und doch welcher künstlerische Abstand von den geAvöhn-
lichen starren Zickzacksäumen der eg-yptischen Füllungen! Ja, selbst
das wellenförmige Band, also die allereinfachste Bandconfiguration,
findet sich auf mykenischen Vasen, z. ß. Myk. Thongef. X. 46, nicht
aber seine Transponirung iu"s Eckige, d. i. das Zickzack. Daher weist
der ganze bisher zu Tage geförderte Denkmälerschatz aus dem Bereiche
l'it,. (_;.5,
Becher aus vergoldetem .Silber. JIvkenisch.
der mykenischen Kunst kein Beispiel eines eckigen Mäanders auf, wohl
aber den laufenden Hund, d. i. die abgerundete Form des Mäanders
(Fig. 63)**); der laufende Hund in der Mitte dieses Bechers ist in solchem
Sinne betrachtet ein reciprokes Bandornament wie dasjenige in Fig. 62
und bedarf zu seiner Al)leitung nicht erst der Dazwischenkunft der
egyptischen Spirale*^).
*^) Schliemann, Mykenä Fig. 14-2.
•'■') Vergoldeter Becher bei Schliemann, ^Mykenä Fig. 348.
*'") Auch die S-förmigen Windungen, die in der Mitte von Fig. Gl den
Kreis ausfüllen, sowie die Triquetren (z. B. Mykenä Fig. 138, 139) u. dgl. sind
aus der Bandornamentik abzuleiten. — Für eine Verwendung der Spirale zur
242 B- I^'^^ Pfianzeuornament in der gTiechischen Kiuist.
Ich glaube also in der Spirale nur eine besondere Art der Band-
ornamentik erblicken zu sollen. Das Bandornament ist aber ein aus
der gekrümmten Linie heraus konstruirtes geometrisches Ornament,
das eine höhere, vielleicht die höchste Stufe des geometrischen Stils
darstellt, und liereits eine besondere Kunstbegabung zur Voraussetzung
zu haben scheint. Von Naturvölkern, welche die Spiral- und Band-
omamentik bis auf die neuere Zeit gepflogen haben, sind die neusee-
ländischen Maori besonders hervorzuheben. Die Bedeutung, die der
Kunst dieses Volkes für die EntAvicklungsgeschichte der Künste in ihren
primitiven Stadien zuzuschreiben wäre, falls dasselbe in der That —
wofür aller Anschein spricht — seit unvordenklichen Zeiten isolirt und
auf sich selbst gestellt geblieben ist, wurde schon auf S. 75 erörtert.
Goodyear'*^) ZAvar hält malayischen Einfluss auf Neuseeland für wohl-
Itezeugt, ohne sich aber darüber des Näheren zu verbreiten oder auch
nur, was er doch sonst in ähnlichen Fällen thut, zu citiren. Die Spirale
spielt in der Ornamentik der Maori eine so überwiegende Rolle, dass
der malayische Einfluss — sollte die Spirale in der That seinem Ein-
flüsse zuzuschreiben sein — ein sehr tiefgreifender gewesen sein müsste.
Wie lässt sich nun damit der Umstand zusammenreimen, dass auf Neu-
seeland kein ]\Ietallgegenstand gefunden wurde? Die Abgeschnittenheit
vom Verkehr mit der südasiatischen Inselwelt muss hienach schon minde-
.stens viele Jahrhunderte, wo nicht .Jahrtausende lang gewälu-t liaben.
Und wie kamen dieMalayen zur egyptischen Spiralornamentik ? Goodyear
nimmt zu diesem Behufe einen malayischen Zwischenhandel zAvischen
Egypten und Indien an, wofür jedoch keinerlei BcAveise vorliegen.
Haben aber die ^faori in der That, wie es nach ihrer ..Steinkultur-
zu schliessen allen Anschein liat, die Spiralornamentik selbständig ent-
Avickelt, etwa in der Weise, dass sie kraft ihrer Kunstbegabung auf
der Stufenleiter der Kunstentwicklung zur höchsten Ausbildung des
geometrischen Stils, zur dekorativen Verwendung der Kreislinie gelangt
sind*^), so ist auch die ]\rögliclikeit vorhanden, dass die ,31ykenäer"
Flächenfüllung', wie sie uns z. B. auf dein Goldblatt l»ei Schliemaiiii, Mykonä
Fig. 24(j entgegentritt, imd die mit der Randnniainentik von Fig. 244, 240
ebendaselbst völlig parallel läuft, hat die cgyptische Kunst gleichfalls kein
Beispiel. Mit dieser Art der Spiralenornanientik möchte ich die charakteristisciien
Verzierungen der Vasen des Fm-twängler-Löschckc'schen vierten Stils (Myken.
Vasen XXXVI. 370, 371) in Verbindung bringen.
*'■) A. a. 0. S. 373.
") Aber darüber hinaus ebensowenig wie die Inkaperuaner, von denen
wir auch nur eine, geometrische und eine animalische Ornamentik kennen.
1. Mvkenisches.
143
schon vor der Berührung' mit der altegyptisehen Kulturwelt dieselbe
Ornamentik gebraucht und fortgebildet haben , und nach erfolgter Be-
rührung von den verwandten egyptischen Bildungen Anregung und
Befruchtung empfangen, anderseits aber auch eine ihrem individuellen
Kunstgeiste entsprechende Fortbildung daran geknüpft haben. Ent-
schieden abzuweisen wäre nur die Hypothese, dass die Egypter das
Spiralenmotiv aus der mykenischen Kunst entlehnt hätten. Die Egypter
Avaren zweifellos in „mykenischer" Zeit das höher stehende Kulturvolk
und es existirt kein Beispiel in der Geschichte, dass ein solches Volk
von einem niedriger stehenden jemals eine so maassgebende Anleihe
gemacht hätte.
Fig. 64.
Getriebenes Ooldplättchen. :My kenisch.
Fig. C.-..
Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.
Im Anschlüsse an die Erörterung der Parallele mit der neusee-
ländischen Spiralornamentik ^^) soll noch eine besondere Art der
Verwendung des Spiralmotivs in der mykenischen Kunst
zur Sprache gebracht Averden, die gleichfalls ihre Parallelen in der
neuseeländischen Kunst hat, aber anderseits auch mit der späteren
griechischen Eankenornamentik bemerkenswerthe Analogien aufweist.
Man sehe das Ornament des Goldblattes Fig. G4*'^). Die Mitte der
vielleicht eben aus dem Grunde weil ihnen eine Pflanzenornamentik nicht im
entscheidenden Momente von Aussen her zugemittelt worden ist.
^^) Die Musterung- von Bandstreifen mit isolirten Spiralen, z. B. in der
Art, wie wir es an der neuseeländischen Fruchtschale Fig. 29 gesehen haben,
findet sich in übereinstimmender Weise auch an einer Wandmalerei zu Tiryns,
Schliemann, Taf. VIe.
") Schliemann, Mykenä Fig-. 305, S. 230.
144 B- Das Pflanzenornament in der griechischen Knnst.
gTösseren unteren Hälfte nininit ehu- Configuration ein, die aus zwei
zusammentretenden Doppelspiralen gebildet ist; nach unten reihen sich
an jede der beiden Spiralen koncentrisch gezeichnete, immer kleiner
werdende Schraflirungen an. Wenn man die beiderseitigen Schrafti-
rungen zusammen als ein Ganzes betraclitet, so gt'ben sie mit ihrem
Fächer eine Art Palmette, deren Kelch die beiden darüber zusammen-
tretenden Voluten bilden. Das solchermaassen zu Stande gekommene
palmettenartige Motiv ist aber keineswegs das Ursprüngliche: die
Schraffirungen kehren nämlich auf mykenischen Goldsachen häutig
Avieder, dienen aber immer als eine Art Zwickelfüllung für bloss ein-
fache Spiralen, so dass sie sozusagen Halbpalmetten bilden. ]\Ian vgl.
z. B. Fig. 65'''^'). W'wv zweigen von einer grossen Doiipelspiralr kleinere
Spiralen ab; wo diese letzteren mit den ümgrenzungslinien, sei es der
grösseren Spirale, sei es der Peripherie des ganzen Plättchens, ZAvickel
l)ilden, sind diese letzteren koncentrisch zur AViiidniig der betreffenden
Spirale mit parallelen, sich verjüngenden Schratten ausgefüllt.
Dasselbe System zeigen nun einmal neuseeländische Si)iral-
z Wickel: so einige unten an der äusscrsten Windung in Fig. 28, ferner
besonders charakteristisch an den Nasen der ]\ö])fe Fig. 81 und 32, wo
je zwei solcher Spiralen fächerartig genau zu der gleichen Palmette
zusammen treten, wie wir es an Fig. tlJ: gesehen haben. Zur Erklä-
rung dieses Alotivs bei den ]\laori vermag ich nie-hts Anderes anzu-
zuführen, als das Postulat der Zwickelfüllung; dies scheint wenigstens
aus Fig. 28 hcrvorzugelien, wo die gebrochenen (nicht im Halbkreis
gekrümmten) Schratten mit Dreiecken (vgl. Fig. 59) abwecliseln.
Ferner lässt sich für diese lOrscheinung aber aueli eine ln"ielist lie-
merkenswerthe Analogie mit der s p ä l e r e n g r i e c h i s c Ii e n K a n k e n o r n a -
mentik (siehe Fig.125,127) verzeicJnien. Auch an den späteren Palnietten-
ranken, wie sie sich namentlich unter den Vasenheul^ein anfgeniall Umlen,
überziehen die freien Rankenlinien synnnetriseli die Fläclx' und rollen
sich zu Spiralen ein, die Arm Palnieltenfächern gekrönt sind: wo aber
für ganze Palmetten kein l»'aiini ist — etwa in einem si)itz zidaul'enden
Zwickel - dort liat die Ilailtpaliuette Platz, mit bloss einei' \'olute
und einem ]ialV)en FäcJier. Der Unterschied zwiselien dem mykeni-
scIkmi und dem reifhellenischen Motiv besieht hauptsächlieli darin, dass
der Fächer der späteren griecliischen l'.dmette analog der egyptiseh-
'■''■) Scliliciiianii, Mykenii Fig. 36'», vgl. auch Fig. US, 484, 487, 488, 491.
Ahiiliche.s vcnnuthe ich als der Ornamentik einiger Vasen des sogen, vierten
Stils zu (o-nnde liegend: Mykcn. Vasen XXXVH. 378, 379, 382.
1. Mykenisches. 145
asiatischen, die ihr unmittelbares Vorbild gewesen ist, aus geraden,
aus dem Kelche herausstarrenden Strahlen l)esteht, Avährend der Fächer
an den mykenischen Beispielen im Halbkreis gefiedert erscheint^'). Die
Verwendung der freibewegten Ranke mit selbständig angesetzten Blüthen
zum ZAvecke der Flächenfüllung, anstatt der starren egyptischen Spiral-
bänder mit bloss zwickelfüllenden Blüthen, ist — wie wir im weiteren
Verlaufe sehen Averden — eine wesentliche, klassische Errungenschaft
der reifen griechischen Kunst gewesen. Ich stehe niclit an, Fig. 64
und 65 als Vorläufer dieser Entwicklung zu betracliten, Vorläufer,
für Avelche auf altorientalischem Boden ebensowenig ein
Vorbild vorhanden war Avie für die Wellenranke und die ge-
sammte freie Rankenornamentik überhaupt.
Die Einführung der lebendigen Pflanzenranke in die Ornamentik
stellt sich somit als ein wesentlicher Fortschritt dar, den die mykenische
Kunst an die ihr dem Alter nach überlegene egyptische geknüpft hat.
Der Fortschritt nach dieser Richtung war zugleich ein bleibender, wie
wir sehen werden, Avas deshalb l)esonders zu betonen ist, weil die
meisten sonstigen Eigenthümlichkeiten der mykenisclien Ornamentik,
die Band- und Sph^almuster, die Tintenfische und Schmetterlinge der
späteren griechischen Kunst fehlen, und auch die Entwicklung der
Blüthenformen nicht an die mykenischen Umbildungen der egyptischen
Typen, sondern neuerdings an original -orientalische Typen geknüpft
hat. Die mykenischen Rankenornamente bilden dagegen, Avie gesagt,
eine dauernde Errungenschaft. Von diesem Gesichtspunkte aus lässt
sich auch manches Andere besser begreifen, AA^as uns an der mykeni-
schen, scheinbar primitiven Kunst überraschend Vorgeschrittenes und
Vollkommenes begegnet. Wenn diese Punkte auch nicht die Pflanzen-
ornamentik im Besonderen betreffen, so hilft doch das Eine das Andere
aufzuklären, und deshalb AA'oUen Avir die Betrachtung der mykenischen
Kunst nach der angedeuteten Seite hin noch Aveiter verfolgen.
Solchen Zeugnissen einer vorgeschrittenen EntAvicklung begegnen
AA'ir innerhalb der mykenischen Kunst sowohl auf dem Gebiete des
rein Dekorativen als auf demjenigen der figürlichen Darstellungen.
In Bezug auf die Dekoration im Allgemeinen ist einmal zu-
rückzuAA^eisen auf die skulpirte Decke von Orchomenos (Fig. 55). Schon
'"') Man vgl. aber damit die leider niclit scharf genug- gezeichneten
Doppelspiralen in der Bordüre einer der Grabstelen, bei Schlicmann, Mykenä
Fig. 24. Die ZA\äckel der Spiralen erscheinen da mit Halbpalmetten a'ou fast
saracenisch-abstraktem Charakter gefüllt.
RiogI, Stilfi-agou. 10
1^46 ^- ^^^ Pflanzenornament in rlei- g-riechischen Knnst.
bei der früheren Besprechung dieses überaus aufschlussgebenden Denk-
mals mykenischer Dekorationskunst Avurde der überraschende Eindruck
hervorgehoben, den die streng durchgeführte Scheidung ZAvisclien
Innenfeld und Bordüre auf den Beschauer ausübt. Die (Grund-
tendenz, die zu dieser Scheidung getrieben hat und Avelcher sänmitliclic
an der Entwicklung der Kunstgeschichte betheiligten MittelmeerviUkcr
nachgestrebt haben, wurde schon auf S. 87 gekennzeichnet. Das Ziel
konnte natürlich nur schrittweise erreicht werden; wie Aveit die Egypter
davon noch entfernt waren, wurde gleichfalls bereits in ausführliclier
Weise dargethan. Erst in der assyrischen Kunst konnten Avir ein durcli-
gängiges, ansclieinend beAA'usst durchgeführtes System a'ou Füllung und
Kahmen, Innenfeld und Bordüre AAahrnclnuen. In diesem Lichte be-
trachtet stellt sich das der Decke von Orchomeuos zu Grunde liegende
dekorative Grundschema dar als ein Fortschritt gegenüber der sonst
vorbildlichen egyptischen Kunstweise und als auf einer Linie stehend
etwa mit der StoinschAvelle von XiniA^e (Fig. lU), mit Avelcher sie sogar
unmittelbare Berührungspunkte (die Rosetten zur Besäumung a'ou Innen-
feld und Bordüre) gemein hat. Der Zeit nach ist aber die Decke von
Orchomenos den bezüglichen assyrischen Denkmälern entschieden voraus.
Abgesehen von jener aus der verhältnissmässig späten Zeit der Sar-
goniden stammenden Steinsclnvelle sind die ältesten bekannt gcAvor-
denen Denkmäler aus den assyrischen Königspalästen nicht A-or dem
.Jahre Eintausend v. Ch. entstanden, Avälirend man die Blüthe (h'i- niy-
kenisclien Kultur in das l(i. bis l'J. Jahrliun(h,'rt v. Ch. verU>gen avüI.
Noch Aveniger können die phönikischen KunstAverke, die gleichfalls die
Trennung ZAvischen struktiver Umrahmung und neutraler P^üllung
ziemlich streng durchgeführt zeigen, als A'orbildlich für die mykenisclien
Künste angesehen Averden, denn nach dem auf S. 108 Gesagten Averdcn
Avir die Entstehung der phönikischen Metallschalen u. dgl. aiicli nicht
viel frülier als in die Zeit der Sargoniden zu setzen haben. Isi ,i1h r
die mykenische Kultur thatsächlich gleichzeitig mit der Herrsi li.it'i der
Ramessiden gewesen, aus deren Z<'it uns die bei Prisse d'A. ,il)gel>il-
deten egyiitischen Wandmalereien mit ihrer vielfach unvollkommenen
und tastenden Durchführung der Bordürenunirahmung erhalten sind,
<(j Avird man zu dem Schlüsse geführt, dass die Mykenäer so Avie in
dem Einzelmotiv der freibcAvegten PHanzenranke auch in dem nilge-
meinen Scliema der dekorativen Raumtiieilung und Fläclienlireehung
wesentlich über die Errungenschaften der Egyjiter liinans- und den
späteren entsclieidenden Tluiten der ( irieehen entgegengeknnnn<'n sind.
1. Mykenisches. 147
Im innigsten Zusammenhange mit dem eben Gesagten steht die
weitere Wahrnehmung, dass uns an zahlreichen Denkmälern der mykeni-
schen Kunst eine freie, keineswegs mehr ängstliche, sondern mit-
unter geradezu grosse und kühne Anordnung des Ornaments
auf dem Grunde entgegentritt. Man sehe z. B. auf einer Vase aus
dem Sechsten Grabe (Mykenische Thongefässe IX. 44), deren Malerei
gewiss nicht durch allzu grosse Sorgfalt in der Detailausführung her-
vorragt, wie sicher und kühn die Vogelfiguren zwischen die zwei ab-
schliessenden Saunistreifen auf den Bauch des Gefässes hingeworfen
sind. Das Gleiche gilt von den Löwen, die um den goldenen Becher
bei Schliemann Mykenä Fig. 477 herumlaufen, indem sie mit ihren in
gestrecktem Laufe dargestellten Leibern genau so viel Eauni füllen, als
die Kuppe des Bechers zur Verzierung darbot. So ängstlich streifen-
weise wie die Verzierung der Dipylonvasen ist nun diejenige der bei
Prisse d'Avennes a. a. 0. abgebildeten egyptischen Gefässe nicht mehr,
aber doch Aviedei-um keineswegs so frei und gross hinkomponirt Avie
auf vielen mykenischen Beispielen. Und dasselbe gilt von den Formen
der Gefässe; auch diese verrathen in Mykenä den Zusammenhang mit
den späteren griechischen Typen gegenüber den gebundenen Formen
der egyptischen Vasen.
Für die herrschende Art der Kunstbetrachtung tritt die Kunst erst
dann aus dem Bereiche des wesentlich ethnologischen Interesses in den-
jenigen der kunsthistorisehen Beachtungswürdigkeit, sobald sie den
Menschen in seinen Thaten und seinen Leiden zur Darstellung
bringt. Während das geometrische, das Pflanzen- und das Thierorna-
ment bloss vom Standpunkte des Schmückens betrachtet wird, ge-
winnen wir an dem mit menschlichen Figuren verzierten Kunstwerk
ein gegenständliches Interesse. Die Kunst der Neuseeländer Avird trotz
ihrer kunstvollen Spiralornamentik bei uns niemals mehr als ein sozu-
sagen exotisches Interesse erwecken, weil dieselbe in der Darstellung
der menschlichen Figur nicht über völlig rohe götzenartige Monstra
hinausgekommen ist. In der mykenischen Kunst begegnen wir
aber vielfach der Darstellung des Menschen, und zwar nicht
bloss auf eigens dazu bestimmten Gegenständen, wohin z. B.
die Intaglios gehören mögen, sondern in rein dekorativer Ab-
sicht, zur Verzierung kunstgcAverblicher Gegenstände ver-
wendet.
Dieser Punkt ist sofort zur Kennzeichnung des grundsätzlichen
Unterschiedes gegenüber der egyptischen Kunst hervorzuheben. Die
10*
148 ß- D*^^ Pttanzenoriiaiiient in der <:Tiechisclu'n Kuu^t.
Kriegervase z. B. steht in Bezug' auf ihren Inhalt bereits vollständig auf
dem Boden der späteren griechischen ^'asennlalerei ; Aehnliches gilt von
dem tatischirten Becher mit menschlichen Köpfen, den Tsuntas gefunden
hat. Inwiefern die Anfänge der Darstelhmg menschlicher Figuren bei
den „Mykenäern" auf egyptische Anregungen zm'ückgehen könnten,
ist heute schwer zu entscheiden. An egyptischen Zügen fehlt es nämlich
auch auf hguralem Gebiete nicht völlig: man beachte nur Avie die Sti-
lisirung der menschlichen Figuren auch bei den „Mykenäern" in der
von den egyptischen Eeliefs sattsam bekannten Weise erfolgt ist, indem
der Oberkörper in Vorderansicht, der Kopf und die Füsse dagegen in
Seitenansicht gebildet erscheinen. Diese Art der Stilisirung hat auch
die charakteristischen „Wespentaillen" der mykenischen Figuren zur
Folge gehabt, die noch im Dipylon typisch geblieben sind. Die An-
lehnimg an egyptische Vorbilder mag sich selbst auf bestimmte Scenen
erstrecken. Für den „Gaukler-' aus Tiryns bringt Goodyear eine bei
Lejtsius publicirte Parallele aus eniem Mastaba- Grabe. Eine Stier-
fangscene könnte auch die bei Prisse a. a. 0., Amphores jarres et autres
vases N<). 1 publicirte egyptische Vase enthalten: ein darauf dargestellter
mit den Hinterbeinen nach rückwärts ausschlagender Stier zeigt in
seiner Haltung die nächste Verwandtschaft mit einem der Stiere auf
dem Becher von Vaphio. Und doch wird Niemand den Becher von
Vaphio für egyptische Arbeit erklären wollen. Wie individuell sind
doch da die Menschen charakterisirt, trotz der egyi»tisirenden Stilisirung
ihrer Oberleiber. Ja das Genreartige in Inhalt und Darstellung, soAvie
die eingehende Berücksichtigung des Landschaftlichen^-), wie sie uns auf
dem Becher von Vaphio entgegentritt, zeigt uns die my kenische Kunst
in einem so freien Verhältnisse zu dem Stoffe, den Natur nnd mensch-
liches Privatleben darbieten, wie es die spätere griechische Kunst kaum
vor dt-r Diadochenzeit wieder erreicht hat. Auch diesbezüglich
mochten vielleicht die genreniässigen Scenen in den egyj)tischen Gräbern
vorbildlich gewesen sein; wenn aber diese Scenen in der egyi)tisehen
Kunst bekanntlich einen streng gegenstäiidlielien. mit dem Leben n.icli
dem Tode zusammenhängenden Beweggrund tnid dementsprechende
Bedeutung hatten, so wird man dem Stierfang auf dem Becher von
Vaphio gewiss nur eine dekorative Bedeutung zuerkennen können: in
") Dies ist auch Puclistcin als lu'clit orientalisch aufg-efallen, bei seiner
Besprechung' des überaus interessanicn Trnlz|>l;ittclii'ns im Berliner Antiquarium
(Arch. Aiiz. 1891, S. 4 f.).
1. Mykenisches. 149
diesem Falle sind es Avirkliche Genrescenen. Aehnliches gilt von der
Löwenjag'd auf der einen tauscliirten Dolchklinge; und selbst die soge-
nannte Nilborde auf der zweiten Dolchklinge braucht nicht mehr als
allgemeine Anregung egyptischem Einflüsse zu verdanken.
Die auf S. 128 allerdings widerlegte Behauptung Goodyear's, class
die mykenische Kunst gewisse Eigenthümlichkeiten wie die intermit-
tirende Wellenranke (Fig. 52) aus dem Bestände der sogenannten
griechisch-kyprischen Kunst entlehnt hätte, veranlasst mich, die
Stellung des Pflanzenornaments innerhalb dieser Kunst mit wenigen
Worten zu kennzeichnen. Dasselbe lehnt sich eng', weit enger als es
in der mykenischen Kunst der Fall war, an die egyptischen Vorbilder an
und hat es daher auch zu keiner fruchtbaren Fortbildung gebracht.
Phönikische Einflüsse haben daran Nichts geändert. Das Abweichende,
specifisch Kyprische, beruht hauptsächlich in dem isolirten Gebrauche
der Lotusblüthen u. s. w. gemäss dem jeweiligen dekorativen Zwecke,
zu dem dieselben dienen sollten. Das Figürliche steht völlig im Bann
der egyptischen Vorbilder. Der Manu auf der vielbesprochenen Vase
aus Athienu =3) ist nicht bloss egyptisirend, sondern — was meines Wissens
bisher nicht scharf genug hervorgehoben wurde — ein leibhaftiger
Egypter, da zu den schon von Ohnefalsch-Richter ^^) beobachteten egypti-
schen Eigenthümlichkeiten noch der Schurz zu bemerken ist, den der
Mann ganz nach egyptischer Weise um die Hüften des bis auf ein
Halsband ganz nackten Körpers herumgelegt trägt. Das Vorkommen
eines specifisch griechischen Motivs — der fortlaufenden Wellenranke
— auf einem Fundstück aus Cypern wurde schon früher (S. 128) zu
erklären versucht. Ein zweites, von Goodyear unbeachtet gebliebenes
Beispiel derselben Wellenranke mit spitzoblongen Blättern bietet eine
Vase aus Curium, die bei Perrot und Chipiez HL Fig. 506 abgebildet
ist^^). Auch in diesem Falle haben wir es weder mit einer einheimisch-
kyprischen Specialität, noch mit phönikisch-egyptischem Einflüsse zu
thun, sondern mit griechisch-mykenischer Art, Avie durch die umgebogenen
Epheuzweige auf der Schulter des Gefässes ausser Zweifel gesetzt er-
scheint. Perrot meint, diese seiner Ansicht nach kyprische Arbeit wäre
^3) Jahrb. des deut. arch. Inst. 1886, Taf. VIII.
^*) Ebenda S. 79 ff.
=^) Die Zeichnung- bei Perrot ist leider nicht scharf genug- g-ehalten. Es
scheint völlig- dieselbe Ranke zu sein die wir auf dem Bonner Becher (Fig-. 51)
ang-etroffen haben.
250 B- I^'i^ Ptiauzenoinament in der gTiechischen Kunst.
verhältnissmässig jungen Datums. Damit mögen sich diejenigen aus-
einandersetzen, die der mykenisehen Kunst ein bestimmtes, und ZAvar
ein möglichst liohes Alter zuweisen zu können glauben.
Jedenfalls lässt sieh auch in diesem Falle ebensowenig wie in dem
früher erörterten (S. 128) erweisen, dass die epochemachende p]rtin-
dung der Wellenranke auf kyprischem Boden vollzogen Avorden wäre.
Die Blüthenmotive auf kyprischen Vasen sind zumeist ohne Verbin-
dung, nacli Art von Stremnustern in den Kaum liineingesetzt. AVo
Verbindungen auftreten, gehen dieselben über das von den Egyptern
und allenfalls von den Mesopotamien! Erreichte nicht hinaus. Gegen-
über den egyptischen Vorbildern Hesse sich als Fortschritt höchstens
das Ueberschneiden zweier in der gleiclien Richtung verlaufenden
Bogenreihen anführen, das sich auf kyprischen Vasen des öfteren
tindet^") — ein Motiv, das gegenübci- der einfachen Bogenreihe ver-
mehrte Lebendigkeit und Abwechslung bedeutet. Ol) dieser Fortschritt
aber auf Eechnting kyprischen Kunstgeistes zu setzen ist, l)leiln vor-
läutig zweifelhaft; anscheinend am frühesten l>egegnet es uns in IMesopo-
tamien^'), und seine Fundstätten aus der ersten Hälfte des letzten
Jahrtausend v. Cli. liegen weit ühvv (Vw Kultursphäre des Mittelmeeres
zerstreut (..Kyrenische" Vasen, Kainirus auf Khodos, anderseits Vulci
in Italien).
In der Entwicklungsgeschichte des Pllanzenornaments wird also
der gi'iechisch kyprischen Kunst kein sell)ständiger Platz einzuräumen
sein. Sie zehrt vom Erbe der altorientalischen Kunstvölker, der Egypter
und Mesoi)Otamier. verwendet phönikische Varianten wie den Palmetten-
baum, und übernimmt die wenigen vorkommenden Keime späterer
fruchtbarer Entwicklung von den Griechen, angefangen von der „my-
kenisehen" Zeit. Insofern ist diese Kunst in der That eine „griechisch "-
kyprische.
2. Dci- IHpyloii-Stil.
Die natürliche Fortentwicklung der mykenisehen Ornamentik «Tlitt
eine gc-waltsame Störung und Unterbrechung durcii das Eindringen
eines „geometrisclien" Stils, des l)ipyhn-Stih. Dieser Stil ist nicht
der geometrische Stil schlechtweg, kann auch keineswegs als
Muster eines reingeometrischen Stils gelten. Namentlich in Bezug
auf die Gesammtdekoration fehlt \\\m die Naivetät der primitiven Stile.
•'«) Z. B. auf der Vase aus Oniiidia. I'ern.t III. (W, Fig. r)OT.
") LayanI, Niiiive i. 'I'af. 84 No. K'..
2. Der Dipylon-Stil. 151
Es ist etwas Raffinirtes in der Vertheiluug der Ornamente. Es
herrscht zwar die elementare Eintheilnng in Streifen: also ein Schema,
über welches die mykenische Kunst weit hinausg-ekommen war. Aber
die Abwechslung der Streifen nach der Breite, die hiebei beobachteten
„tektonischen" Rücksichten, die Einfügung- figürlicher Scenen, dies Alles
verräth eine vorgeschrittenere überlegtere Dekorationskunst, als wir
sie in den rein geometrischen Stilen — den nordischen, den ältesten
kyprischen, den amerikanischen, den polynesisehen — anzutreffen ge-
wöhnt sind. Der Dipylon-Stil lässt sich überhaupt nicht mit einer
kurzen Formel abthun. Er ist keine blosse Uebertragung des Runden,
wie es in der mykenischen Kunst das Herrschende gewesen ist, in's
Eckige. Wir begegnen im Dipylon runden Linien neben eckigen,
Kreisen neben Quadraten, rosettenartigen Vier- und Mehrblättern neben
Strahlenrosetten.
Wodurch sich das Dipylon als doch noch nicht ausser allem Zu-
sammenhange mit einer naiven, bloss schmucksuchenden Kunststufe
erweist, das ist neben der Streifenmusterung der Horror vacui.
Namentlich, wo figürliche Darstellungen auftreten, erscheint der ge-
sammte von den Figuren oder dem Beiwerk der Scenen nicht in An-
spruch genommene Raum mit Füllmotiven überstreut, lieber diesen
Standpunkt war die „mykenische" Kunst längst hinausgekommen. Das
Vorhandensein figürlicher Scenen in der Dekoration scheint zwar an
sich Zeugniss von einer höheren EntAvicklung abzugeben; aber die
Figuren selbst, insbesondere die menschlichen, stehen weit zurück hinter
denjenigen, Avelche die mykenische Kunst geschaffen hat, hinter den
charakteristischen, lebendig bewegten Erscheinungen etwa des Vaphio-
bechers oder auf der Dolchklinge mit dem Löwenkampf. Ob wir nun
diese Stilisirung der Figuren im Dipylon für eine originale Errungen-
schaft seiner Träger, oder aber für Nachbildungen nach dem egypti-
schen Kanon halten, wofür in der That Manches ^^) zu sprechen scheint:
immer gelangen wir auf eine tiefer gelegene Stufe der Kunstentwick-
lung als diejenige gewesen ist, die bereits von der mykenischen Kunst
erreicht worden Avar.
Als charakteristisch für das Dii)ylon wird seit Conze^-') das Fehlen
^*) Namentlich sind die Oberkörper der menschlichen Figuren viel strenger
als in der mykenischen Kunst in der Vorderansicht g-ebildet; über Egyptisches
im Dipylon vgl. Kroker im archäol. Jahrb. 1886, S. 95 ff.
^^) Zur Geschichte der Anfänge der griechischen Kunst, in den Sitzungs-
berichten der kk. Akad. der Wissensch. phil. bist. Classe LXIV. 2. Heft, 1870.
152 ß- D'^* Ptlaiizenornamoiit in der g-iiechischen Kunst.
von Ptlanzoiiornamenten bezeichnet. In der Tliat haben sich, trotz
des reichen ^Materials, das in den seither verflossenen zwanzig Jahren
zn Tage gefördert worden ist, nnr höchst vereinzelte Beispiele'^") un-
zweifelhaft pflanzlicher Motive anf geometrischen Vasen der Dii)yloii-
zeit gefunden. Freilich Goodyear, der im fortlaufenden Zickzack bloss
verkümmerte Lotusblüthenrcihen erblickt, führt den Dipylonstil ebenso
gut wie den nordisch-prähistorischen in allem Wesentlichen auf egyp-
tische "Wurzel zurück. Aber selbst wenn dem so wäre, würde der
Dipylonstil für unsere augenblickliche Aufgabe, für die Darlegung der
Entwicklung des Pflanzenornaments und der Pflanzenranke keine posi-
tive Bedeutung haben, da an den angebliclien Rückschlag ins Geome-
trische keine fruchtbare Entwicklung des Pflanzlichen anknüpfen
konnte. Der Dipylonstil musste aber nichts desto weniger an dieser
Stelle zur Sprache gebracht werden, um die Unterbrechung der „myke-
nisclien- Entwicklung und das Nachfolgende überhaupt zu erklären.
Denn selbst auf solchen Punkten des späteren Hellas, wo sich myke-
nische Ueberlieferungen ziemlich treu erhalten|habeu, hat sich der Ein-
fluss des Dipylon in tiefgreifender Weise V)emcrkbar gemacht, so z. B.
auf der Insel Melos, auf deren Vasen wir neben unverkennbar my ke-
nischen Ueberlieferungen die füllenden Streumuster des geometrischen
Horror vacui, des primitiven Schmückungstriebes finden werden.
Die bisherigen Funde haben ergeben, dass sich die Invasion des
geometrischen Stils über alle Landschaften erstreckt hat, wo später
Sitze griechischer Kultur und Kunst gewesen sind: am stärksten auf
dem europäischen Fcstlande, in stetig abnehmender Intensität nach
Osten hin bis gegen Cypern. ;Man hat daraus auch eine Antwort auf
die ethnogi'aphische Frage konstruirt. Die Träger des Dipylon Avären
hiernach ein Volk gewesen, das nicht aus dem Orient, sondern über
europäische Landschaften, also wohl über die Balkangegenden nach
Grieclicnland eingewandert ist. Vielfach hat man hiebei an die Wan-
derung der Dorer gcdaclit, was Aviederum den folgericlitigen Schluss
nacli zielien musste, dass die Träger der mykenischen Kunst in Grie-
chenland die Achäer, also ebenfalls Griechen, gewesen sein müssten.
Dies konnten diejenigen niclit zugeben, die in den Trägern der myke-
nischen Kultur die Karer erblicken Avollten. Diese letzteren stützten
ihre Annahme hanptsäclilicli auf Gründe, die ausserhalli der Sphäre
^■'') So an einer Vase, ;uis Kameiros, Arcli. .laliib. 1886, S. 135, wclclieu
Umstand schon Fint\v;iii;rler liervorgehoben hat.
2. Der Dipylon-Stil. I53
des Kunstschaffens gelegen sind; doch empfanden sie von Ulrich Köhler
bis auf Goodyear immerhin die Verpflichtung, auch auf dem Gebiete der
Kunst das Ungriechische im Mykenischen, das Griechische im Dipylon
darzuthun. Das Erstere fiel anscheinend nicht schwer: ha])en doch
auch wir Gelegenheit gehabt, die zahlreichen Elemente zweifellos egyp-
tischer Herkunft in der mykenischen Formenwelt zu beobachten. Was
aber den griechischen Charakter im Dipylon betrifft, so hat den Ver-
tretern dieser Meinung Studniczka^^) am bündigsten das Wort von der
Lippe weggesprochen. Ihm vertritt der geometrische Stil der einge-
wanderten Hellenenstämme das Princip strenger Zucht, mittels deren
alle Entlehnungen aus dem überquellenden Formenreichthum des Orients,
von den „mykenischen" angefangen, zu echt hellenischem Gute umge-
prägt Avurden.
Ebensowenig wie die Lösung der „mykenischen Frage" nach ihrer
ethnographischen Seite kann die Klärung des Verhältnisses zwischen
den Trägern der mykenischen und der Dipylon-Kultur hier beabsichtigt
sein. Aber es muss daran erinnert werden, dass die Betrachtung des
Pflanzenornaments in der mykenischen Dekoration das Vorhandensein
specifisch griechischer Errungenschaften ergeben hat, die wir in den
altorientalischen Künsten vergebens suchen, und ebenso vergebens im
Dipylon. Dass die Träger der Dipylonkultur im späteren Hellenen-
thum aufgegangen sind, soll darum keineswegs bestritten Averden; aber
die schöpferischen „Keime des Griechenthums" vermögen wir weit mehr
im Mykenischen zu verfolgen, Aveshalb wir uns vorhin (S. 127) den Schluss
verstattet haben, dass die Träger der mykenischen Kultur, mögen die-
selben nun Karer oder Achäer gcAvesen sein, eine sehr Avesentliche Com-
ponente des späteren hellenischen Volksthums ausgemacht haben müssen.
Wenn es noch eines BcAveises bedürfte, dass das Eindringen des
geometrischen Stils an Stelle des mykenischen einen Eückschritt, und
nichts als einen Rückschritt bedeutet hat, so haben ihn die Griechen
selbst damit geliefert, dass sie angesichts der Aussichtslosigkeit, mit
diesem Stil etAvas anzufangen, sich Aviederum an die ursprüngliche
Quelle ihrer Avichtigsten Zierformen, an den Orient, gcAA^endet haben ^-).
ß') Athen, Mitth, 1887, 24.
^-) Analoges hatten wir Gelegenheit in der assyrischen Kunst zu beob-
achten, (S. 93) wo uns auch zur Zeit der Sargoniden reiner egyptisch stilisirte
Blumentypen entgegengetreten sind, als an den älteren Denkmälern aus der
Zeit des Assuniasirpal u. s. w. Freilich mochten die Gründe da und dort ver-
schiedene ffew^esen sein.
154 B- I^^s Pflanzenornament in der g-riechischen Knnst.
Es ist nun unsere Aufgabe, zu zeigen, wie das l'flanzenorna-
ment neben und nach dem Dipylon in der griechiselien Kunst
Avieder zu Ehren kommt, wie es zum Theil die orientalischen
Errungenschaften schematiscli Aviederliolt, namentlicli aber
wie es an die grosse mykenische Errungenschaft, an die
freibewegte Pfanzenranke anknüpfend, diese sell)st sowie
die angesetzten Blüthen im Sinne des Formschönen ausbildet,
so allmälig die Fähigkeit gewinnt, grössere Flächen zu
überziehen, und endlich auch menschliche und Thierfiguren
zur Dekoration heranzieht und sich subordinirt. Da es sich
somit um die Schilderung eines fortlaufenden Entwicklungsganges
handelt, werden die Formen und die Denkmäler im Allgemeinen in
chronologischer Reihenfolge vorgeführt werden. Doch lässt sich die
letztere auf einem Gebiete, das so vielfach lokale und individuelle
Fortbildungen zeigt, nicht immer streng aufrecht erhalten. Ich er-
achte es daher für nöthig, auch an dieser Stelle zu betonen, dass es
sich hier nicht um einen chronologischen Fixirungs- oder genaueren
Datirungs - Versuch der betreffenden Vasengattungen u. s. f. handelt.
welche Aufgaben gewiss nicht ausschliesslicli auf Grund des Pflanzen-
ornaments g<'löst AVerden könnten. Xur die Stellung der einzelnen zu
besprechenden Denkmäler innerhalb der Entwicklungsgeschichte des
Pflanzenrankenornaments soll jeweilig nach Möglichkeit genau um-
grenzt Averden; die auf breitester Basis vorgehende klassische Kunst-
archäologie mag daraus jene Schlüsse ziehen, zu Avelchen sie sich
durch Vergleichung mit dem Befund der übrigen Eigentliünilielil<eiten
der bezüglichen Denkmäler berechtigt glaubt.
3. ölelisches.
An die Spitze sind die melischen Vasen zu setzen. Das j\lNkenische
tritt in diesei- frühgiiechischen Vasenklasse noch am deutlichsten zu
Tage, und zw.ir ger;ide Jene Elemente, die in die spätere lielleniselie
Kunst ül)ergegangen sind. Als Beispiel dii'ne Fig. (»6, entlehnt aus
<onzes melischen Thongefässen (1.1), avu auch die Details Fig. ()7
'Mel. Thong. I. 4) und Fig. 53 (Mel. Thong. I. 5) zuerst publicirt sind.
Wenn Avir von den rosettenartigen Gebilden abseben, so begegnen
uns an Fig. i".«'« vr)n Einzclmotiven die beiden grundlegenden
Typen des eg> jit isclien Lotus: die spitzbjättrige Prolilansiclit
(Fig. 53), soAvie die Lotuspalmette (in l-'ig. (»C unter den iiinterlteineii
3. Melisches.
155
der Pferde). So unverkennbar der egyptische Ursprung, schon des
Volutenkek'hs halber, so in die Augen springend sind anderseits die
Fig. 6G.
Melische Vase.
Unterschiede. Insbesondere die Palmetten unter den Hinterbeinen der
Pferde sind weder egyptisch, wegen dei- stark eingerollten Volute,
156 B- r)'*^^ Pflanzenornament in der giiechisclien Kunst.
noch assyrisch, "weil ihneu die nach Aufwärts gerollten Voluten
fehlen. Die Palmetten in Fig\ 66 sind einfach griechisch. Charak-
teristisch dafür sind die stark eingerollten Voluten des Kelches und
die in entsprechender Grösse dazu gebildete Fäelifi-krcinc, deren kol-
benartig auslaufende Blätter nicht dicht, sondern lose nebeneinander
angeordnet sind. Das Motiv der griechischen Palmetten tritt uns da
in allen seinen wesentlichen Bestandtheilen fertig entgegen: es fehlt
nur noch die feine Abwägung und Durchbildung der Details im reinen
Sinne des Formal -Schönen, — ein Process, der erst im Laufe des
5. Jahrhunderts sein Ziel erreicht hat. — In abbreviirter Form wieder-
holt sich die Volutenblüthe am Fusse (als Doppelvolute mit giebelartiger
Zwickelfüllung) und in der gleichen Form in der Wüte des oberen
Randes des Figurenfeldes mit den Reitern.
Die Beziehungen dieser beiden pHaiizliehen Einzelniotive der
melischen Vasenkunst, des Profillotus und der Palmette, zu orientali-
schen Vorbildern sind stärker ausgeprägt als diejenigen zur mykeni-
schen Ornamentik. Dies gilt insb(>sondere vom Protillotus; aber auch
hinsichtlich der Palmette ist kein mykenisches Beispiel bckainit, an
dem ein so regelmässig gestalteter Blattfächer mit dem Volutenkelch
verbunden wäre. Wir Averden also an erneuerten orientalischen Ein-
fiuss denken müssen, entweder an original-egyptischen oder einen ab-
geleiteten. Wie frei diese melischen Vasenmaler mit den frem-
den Blütlienmotiven schalteten, beweist nicht bloss die Verl)in-
dung des Lutusproüls mit Volutenkelch, wie sie in Fig. 53 links
zweifellos kenntlieh gemacht ist, sondern namentlich auch die Zusam-
menstellung zweier grosser Volutenblumen, wie sie die Mitte des Halses
in Fig. 6(j schmücken. Die Spitzblätter, Avelche die beiden Blunnni
bekrönen, .stellen den Zusammenhang derselben mit dem spitzblättrigen
Profillotus her. Ein ganz ähnliches Gebilde gew.'ihrcii wir uuiei-li.illi,
in der Mitte zwischen den heideii Pferden; aber an Sidle der Spitz-
blätter der Krone sind liier die Hlattfächer des PalniciieDiiiotivs ge-
treten. Die Voluten sind übrigens so sein- das r(d)er\viegeiide, (Irnnd-
legende des Motivs, dass die beiden von ihnen eingeschlossenen Kelche
sich als blosse Zwickelfüllungcn darstellen, kaum stäi'ker vorschlagend
als die zahlreichen weiteren Zwickelfüllungen, die lUier.ill bei der Be-
rührung der Spiralen und bei der Abzweigung von K'.inken entsielien.
Das Gesammtmuster ei'schiene somit analog den egyptischen Spiral-
musternngen mit Zwickelblumen, Avie z. B. Fig. 26, 27. Dass aber der
melisclif Vasenmah-r luclit an st;ii'i'e ireiHnetris(dic' Siiir.den, sund^m
3. Melisches.
157
an lebendiges, vegetabilisches SclilingAverk gedacht hat, deuten die
kurzen Eankenzweige an, die sich oben und unten an die Seiten der
Voluten ansetzen. Auf diese Eankenzweige wird übrigens noch zurück-
zukommen sein.
Wir haben nun die Art und Weise zu betrachten, Avie an den
melischen Vasen die vegetabilischen Einzelmotiv«' untci- cinfindor in
Verbindung gebracht erschei-
nen. Das unmittelbar vorher
Gesagte hat uns bereits dazu
übergeleitet. Im Vordergrunde
standen da die Spiralen, wo-
gegen sich die Blüthenmotive
bloss als Füllsel darstellten.
Das Postulat der Zwickelfüllung
erschien an dem gegebenen Bei-
spiel als ein absolutes. Ver-
gleichen wir damit Fig. 67. Wir
sehen da zwei neben einan-
der laufende Spiralenreihen; die
Zwickel, die je zwei zusammen-
stossende Spiralen im Innern
bilden, erscheinen durch einen
Palmettenfächer gefüllt; alle
Zwickel, die sich nach Aussen
öffnen , sind durch einfache
Giebel geschlossen. Das egyp-
tische Vorbild haben wir in
Fig. 26 kennen gelernt , ein
mykenisches Zwischenglied in
Fig. 60. Die weitere Entwick-
lung hat anscheinend daraus
das doppelte Flechtband ge-
macht (Fig. 68)*^^), das sich sehr
häutig an archaischen, bemalten Terracotten,
spätrömischen Mosaiken findet.
Keinen wesentlichen Fortschritt über egyptischen Kunstgeist hinaus
zeigt ferner derjenige Ornamentstreifen von Fig. 66, der sich unmittelbar
rig. (m.
Gemaltes Oninmeiit von einer melischen Vase.
aber selbst noch auf
3) Von dem Berliner Sarkophag- aus Klazomcnä, Aiit. Denkm. I. 44.
158
B. Das Pflanzenornament in der "-riecbischen Kunst.
über dem Fusse befindet. AYir sehen da neben einander g'elegte Dop-
pelvoluten (die beiden auf der Abbildung ersichtlichen nur zur Hälfte
sichtbar). Die beiden ZAvickel, die eine jede von diesen Doppel volnten
mit sich selbst bildet, sind mit Palniettenfächern gefüllt, die Zwickel
dagegen, die durch das Nebeneinanderstossen je zweier Dopiielvuluten
entstehen, mit einfachen Giebeln.
Es bleiben an der Vase Fig. Cid noch die In'iden Oniamcntstrcilcn
zu betrachten, die den Figurenfries mit den Reitern oben und unten
besäumen. AVir haben diese beiden Säume absichtlich zum Schlüsse
aufgespart, da dieselben in ihrer ^rusterung entschieden reingriechi-
schen Charakter zeigen, und zugleich mit mykenischen Vorbildern so
enge zusammenhängen, dass Avir sie als direkte Zwiseiienglicder
zwischen mvkenischen und lielleii ischen Kunst formen ansehen
7K>i
Fig. G8.
Von einem klazomenisclien
Tbonsarkophag.
Fig. 69.
(ieinuiu-s Füllornauieut von einer
luelisfhcn Vase.
dürfen. Der untere Saum l)esteht aus neben einander gelegten S-8pi-
ralen; diese wären nun an sich eben so wenig unegyiitisch. wie die
giebelfürmigen Zwickelfüllungen dazwischen. Das :\rykenisch-(lrie-
chische beruht in den Ranken, die von den Spiralen tlieils ol)en, tlieils
unten abzweigen und in den Palmettenfächer-Füllungen, die /wixhen
diesen Ranken und den Spiralen eingezeichnet sind, und nicht, \\ii' es
das egyptische Schema erforderte, in den inneren Winkeln der S-Kriim-
mung. Wie ein Kgyptei- die Zwickel einer S-Si)irale get'iilll halle,
zeigt Fig. tV.'. die gleichfalls von einer melischen Vase (Conze Taf. 1\')
entlehnt ist und dasell>st als Füllsel zwischen den Pferdebein<>n dient.
Dagegen lüldet die a])zweigende I\anke mit dem tiillenden l-'iiidiei- in
Fig. W eine Halbpalmette. Das Motiv der Halbpahnetle, deren zwei eine
ganze Palmette zusammensetzen, ist spätei-hin in der grieeliisi hen Or-
namentik ein überaus wichtiges und grundlegendes gewnidm. An der
melischen Vase, Fig. <;(;, ist es in .dleni Wesentlichen schon vorhanden;
o. Melisches. 159
aber wie Avir auf 8. 144 gesehen haben, war es bereits in der mykeni-
schen Kunst vorgebildet^*). Ob nun der melische Vasenmaler das
Motiv bewusstermaassen als selbständige Halbpalmette*^^) oder als blosse
accidentelle Zwickelfüllung der S-Spirale aufgefasst hat: daran wird
nicht zu zweifeln sein, dass wir darin ein Zwischenglied zwischen einer
mykenischen und einer reingriechischen Kunstform zu erblicken haben.
Der Zweifel, der in dem letzterwähnten Falle noch übrig bleiben
könnte: ob nämlich die geometrische S-Spirale oder die vegetabilische
Halbpalmette das Hauptmotiv gebildet hat, — dieser Zweifel fällt hin-
weg bei der Betrachtung des Schultersaums von Fig. 66, in grösserem
Maassstabe reproducirt in Fig. 53. Derselbe zeigt abwechselnd ein-
wärts und auswärts gerichtete Profillotusblüthen , die unter einander
fortlaufend im Schema der intermittirenden Wellenranke ver-
bunden erscheinen, — einem im Sechsten mykenischen Schachtgrabe
zuerst nachgewiesenen Schema, dessen kunstgeschiehtlicher Bedeutung
wir bereits auf S. 123 f. gerecht geworden sind. Auch hinsichtlich des
Verhältnisses dieses melischen Beispiels zu dem erwähnten mykenischen
ist auf die citirte Stelle zurück zu verweisen.
Fassen wir also das Ergebniss unserer Betrachtung der Pflanzen-
ornamentik auf den melischen Vasen zusammen. Das Pflanzenorna-
ment steht hier im Wesentlichen noch auf der Stufe der my-
kenischen Kunst. Es bcAvegt sich in der Regel auf der Grenzlinie
zwischen Spiralornament und Rankenornament. Die entscheidende
Schöpfung der mykenischen Kunst, die ausgesprochene Blumenranke,
hat es nicht preisgegeben, aber auch augenscheinlich nicht weiter fort-
gebildet. Die steife vertikale Stellung der Blumenkelche sowie der
Einzelstengel bedeutet eher einen Rückfall in's Egyptische, worauf auch
die Stilisirung der Lotusblüthen und Palmetten hinweist. Die Zwickel-
füllung ist ein so grundlegendes Postulat gew^orden, wie sie es in der
mykenischen Kunst noch nicht gewesen ist, selbst nicht in der egyp-
tischen, wohl aber, wie es scheint, in der phönikischen. Am wenigsten
^*) Am nächsten scheint dem in Rede stehenden Muster von Fig. 66 die
Bordüre der Grabstele bei Schliemann, Mykenä Fig. 24, S. 58 zu stehen.
^=) Übrigens lässt sich, wie ich glaube, die bewusste Anwendung der
Halbpalmette seitens der melischen Vasenmaler monumental erweisen. Die
Sphinx auf der melischen Vase Arch. Jahrb. 1887, Taf. XII trägt sie am Haupte
als Bekrönung, also in einer Funktion, in welcher späterhin häufig wohl die
Palmette gebraucht wurde (Arch. Zeit. 1881, Taf. XIII No. 2, 3, 6), aber nicht
die einzelne Spirale.
j(3() B. Das Ptlanzenornament in der gTiechischen Knust.
gewahrt mau — beiläufig' bemerkt — von assyrischem Eintittss, mau
Avollte denn die Heftel oder die Klannnerii, wodurch die Spiralranken
bei ihrer Berührting- in Fig\ GG und GT zusammengehalten erscheinen,
als Zeugnisse dafür ansehen, weil sie sich auch auf assyrischen Bogen-
friesen (Fig. 33) flnden. Der Rückfall in's „Geometrische" äussert sich
namentlich in der peinlichen Aufthcilung der gesammten Oberfläche der
Vase Fig. 66 in parallele Streifen, und in den zahlreichen Streumustern
im Figureufries. Es ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, dass
derselbe Horror vacui, der diese Streufüllsel hervorgebracht hat, die
]ieinliche Beobachtung der ZAvickelfüllung im letzten Grunde zur Folge
gehabt hat.
4. Rhodisches.
Die nächste Gruppe von Denkmälern die wir in Betracht zu zlelieu
haben, sind die sogen, rhodiachen^^) Vasen und die mit diesen eng ver-
Avandten Thonsarkophage von Klazomenä . Das allgemeine Dekorationsschema
ist hier zwar im "UY'sentlichen das gleiche wie an den melischen Vasen:
Streifenmusterung und reichliche Streumuster als Füllungen zwischen
den menschlichen und Thierfiguren. Wenn aber an den melischen
Vasen in Bezug auf das Pflanzen- und Spiralen-Ornament die myke-
nisclie Tradition über-\\og, so tritt diese an der rhodischeu Klasse in
den Hintergrund und macht Elementen von mehr orientalischem Ge-
präge Platz. Das Maass der Orientalisirung ist jedoch auch nicht überall
das gleiche, uiul schon die Betrachtung dieses Umstaudes allein lülirt
sofort zu einer Scheidung, die freilich niclit ausschliessliche Geltung in
Anspruch nehmen kann und will.
Wo nämlich die Blüthenmotive vereinzelt, ohne \'erviel-
fachung und oluie Verbindung mit ihresgleichen vorkonnneu, dort er-
scheinen die unverkennbaren, zu Grunde liegenden Volutenkelchblütlieu
orientalischer, oder, genauer gesagt, egyptischer Schöpfung gewöhidich
sehr frei behandelt und dem jeweiligen Zwecke angepasst. Als
Beispiel diene Fig. 70*^"). In diesem Falle handelte es sich um die Ans-
''•') Da.ss trotz des Hau])tfundorts (Kaniciros auf Rliodos) diese Vasen .lul'
ar^^ivischcn, also europäischen Ursprung zurückgeführt werden (vgl. Dünnnler
im Arcliäol. Jahrb. 1891, 263 ff.), sei deshalb erwähnt, um es zu rechtfertigen,
dass die bemerkbaren stärkeren orientalischen Einflüsse in dieser Vasengriij)])«
von uns nicht ausdrücklich mit der Nähe der Levante in Verlündniiü- gebracht
wurden.
'•'') Von einer Schale aus Kamciros (Salzniauu, Necropolc de Cauiirus,
Taf. :')!;.
4. Rhodisches.
161
füUung- eines Kreissegments. Infolge dessen wurden die beiden, den
Kelch bildenden Voluten (die hier nach assyrischer, aber gleichfalls in
Egypten wurzelnder (S. 103) Weise nach aufwärts eingerollt sind) stark
in die Länge gezogen, und in den Zwickel dazwischen ein grosser
Fig. 70.
Gemalte Verzierung von einem rhodischen Teller.
Fächer eingesetzt. Zu bemerken ist auch die reichliche, ja peinliche
Füllung aller übrigen Zwickel innerhalb des Segments. Ein anderes
Beispiel giebt Fig. 71. Dieses Motiv bildet die Mitte eines Streifens von
einer Oenochoo*^^), woran sich rechts und links in symmetrischer Folge
Fig. 71.
Gemalte Verzierung von einer rhodischen Vase.
Vogelfiguren und Sphingen anschliessen. Hier gewahren wir einen
spiralig (also mykenisch-griechisch) eingerollten Volutenkelch, darüber
zwei ausladende spitze Kelchblätter, und zwischen diesen einen grie-
««) Salzmann Taf. 37.
Riegl , Stilfragen.
11
H\'2
B. Das PHauzenornanient in der ü-riechisclien Kunst.
chischen PalmettenfächtT: auch die vier dadiircli entstandenen Zwickel
erscheinen entsprechend ausgefüllt. Das auf solche "Weise zu Stande
gekommene Gebilde lässt sicli ebenso wenig wie Fig. 70 als unmittel-
bare Koi»ie eines orientalischen A'orbildcs erklären, wenngleich im letzten
Grunde die orientalische Volutenblüthc iiiclit zu verkennen ist: die Be-
l-ig. 72.
lUioUischcr Teller mit gem.altiM' Vcrzicnui:,'.
liandluiig ist elxoi eine vow der orientalischen griindlieli xci-seliiedene.
myk<'nische. oder, wenn man will, griechische.
Eine weit strengere Anlehnung an die cirientalischen \'(irliil(ler
zeigen hingegen in der K'egel die PliithenniMtive der rliodischen \'asen,
sobald diesell)«-n ver\ iellii It igt neben einander gereiht oder unter ein-
ander in Verbindung gesetzt erscheinen. Mg. 7*2 giebt einen Teller
ans Kaniciros*'-*) wieiler. X.-unentlicIi ilii' liHtn^hliitJien-Knosiien-K'eilie
'•'') .SalzniMiiii Tat. .'»4.
4. Rhodisches.
163
des Raudes erinnert unmittelbar an egyiJtiscbe Vorbilder. Freilieli wenn
man näher zusieht, gewahrt man Dinge, die an einem echten egyptischen
Beispiel undenkbar sind. Die Silhouette der Lotusblüthen ist hier schon
weit flüssiger und eleganter, die Füllung zwischen den zwei ausladenden
Kelchblättern ist nicht durch Spitzblätter, sondern durch Palmetten-
fächer hergestellt (vgl. hiefür Fig. 71). Vollends wenn wir die Mitte
des Tellers in Betracht ziehen, wo mit den Knospen blosse Palmetten-
fächer ohne die in der egyptischen Kunst damit unzertrennlich ver-
bundenen Volutenkelche alterniren, erscheint die nichtegyptische Her-
kunft des Tellers ausser allen Zweifel gesetzt. Immerhin al)er ist zu
betonen, dass eine solche strenge Reihung von Lotus-Blüthen- und
Knospen nach dem egyptischen Grundschema in der ganzen mykeni-
schen Kunst niclit nacha'ewiesen ist.
Fi«. 73.
Bogenfries mit Lotusblüthen und Knospen von einer •rhodi.scUen ^'ase.
Die einfache Reihung der Lotusmotive, Avofür eben ein Beispiel
gegeben wurde, scheint gleichwohl selten in der rhodischen Kunst ge-
wesen zu sein. Das geradezu Tyi)isclie ist dagegen, der Bogenfries
mit Lotusblüthen und Knospen. Fig. 73 giebt hievon ein Beispiel,
dass bezeiclmendermaassen von derselben Oenochoe entnommen ist,
auf welcher sich die mykenisirende Palmette Fig. 71 vorfindet. Hier ist
sogar der Kelch der Lotusblüthen aus Spitzblättern gebildet, also nach
ägyptischer Weise, entgegen der unegyi)tischen Verquickung mit dem
Palmettenfächer, die wir in Fig. 72 kennen gelernt haben. Allzuviel
Gewicht wird man auf eine solche ausnahmsweise engere Anlehnung
an orientalische Vorbilder freilich nicht legen dürfen, wie insbesondere
die Betrachtung der Oenochoe bei Salzmann Taf. 44 nahelegt, wo unten
der Fries von Fig. 73, an der Schulter dagegen ein Bogenfries mit den
Motiven von Fig. 7-2 sich vereinigt findet. Gleichwohl ist das Schema
11*
1(34: B- I-*'^s Pfiaiizcnoniament in der gTiechischen Kunst.
des Lotusblüthen-Knospen-Bogenfrieses ebenfalls in der niykenisehen
Kunst nicht nachzuweisen, und erweist sich somit in gleichem Maasse
wie die Lotus-Blüthen-Knospen-Reilien als eine nachmykenische Anleihe
aus dem egyptisch-orientalischen Kunstfonds.
Obzwar es für unsere Aufgabe ziemlich gleichgiltig ist, ob der
zuletzt geschilderte Lotus-Bogenfries unmittelbar aus egyptischer Quelle
oder aber aus einer abgeleiteten übernommen worden ist, will ich doch
der häufig begegnenden Behauptung, dass wir es da mit einem specifisch
assyrischen Motiv zu thun haben, nicht ganz aus dem Wege gehen.
Was an dem Bogenfries Fig. 73 für assyrische Herkunft spricht, sind
insbesondere die Ileftel oder Klammern, mittels welcher die Blütlien''^)
an den Bogenlinien befestigt erscheinen (vgl. Fig. 28), in zweiter Linie
das Hinwegfallen aller jener kleinen füllenden Rosetten, Knöspchen u.s.w.,
mit denen die Zwischenräume an den egyptischen Bogenfriesen'") über-
laden sind. Diese Eigenthümlichkeiten halte ich aber noch nicht für
genügend, um ihr Vorkommen auf rhodischen Vasen aus assyrischer
Quelle erklären zu müssen. Die assyrische Kunst ist, Avie wir gesehen
haben, in allem Wesentlichen eine abgeleitete, die Blüthe, die wir von
ihr kennen, eine verhältnissmässig späte und die mykenische in der
Entwicklung der Ornamentik nicht erreichende. Die strenger egypti-
sirenden Bogenfriese, die allein für die in Rede stehenden rhodischen
vorbildlich gewesen sein können, finden sich erst in der Zeit der Sar-
goniden (vgl. S. 93), sind also kaum nenncnswerth älter als die rhodischen
Beispiele'-).
Auch das Auftreten des Flechtbamles, jenes in der mesopotamisclien
Kunst so weit verbreiteten (S, 89), in der egyptischen dagegen vernach-
'^) An der Oenochoe, Salzniann Taf. 44, auch die KnosixMi.
"') Fig'. 22, wo aber die bei Prissc vollständig* abgebildeten Füllst! der
Deutlichkeit des Grundschemas zuliebe hiuAveg- gelassen sind.
") Der Einfluss der assyrischen Kunst auf die Entfaltung der ürii-cliisclHii
wird erst noch näher umgrenzt werden müssen; soviel darf aber liente schon
g'esagt werden, dass derselbe g-rös.stt^ntheils Aveit über Gebühr überschätzt
worden ist; so auch von Hohvcrda im Arch. Jahrb. 1890, S. 2;37 fV. Wenn da-
selbst u. A. zum Beweise die pränestinische Ciste Mon. ined. Mll. 2G citirt er-
scheint, so ist dagegen zu sag'en, dass die Lotusblüthen an diesem Beispielen
steif eg'vptisirend, die Palmctten gräcisirend, keineswegs aber assyrisch ge-
bildet siml. In der Zeit d(T Sargoniden war das Kunstsehafl'en auf naclnnals
hellenischem Boden übrigens bereits soweit erstarkt und vorgesriiritten. dass
seinen Trägern und Ptlegern das gk-ichzcitige assyrische KunstschalVen kaum
.Honderlich iraponirt haben dürtte.
4- Rhodisches. 165
lässigten Motivs, in der rhodisclien Kunst könnte man für ein Zeug-
niss assyrischen Einflusses nehmen. Die mykenische Kunst hat aber
das Flechtband anscheinend bereits gekannt (S. 140), zu einer Zeit, aus
welcher uns assyrische Denkmäler mit Flechtbändern mindestens nicht
erhalten geblieben sind. Und was das rhodische Flechtband streng
vom assyrischen unterscheidet, ist die an jenem in der Regel beob-
achtete Zwickelfüllung in den Aussen winkeln. Am Euphorbosteller
ist dieselbe einfach giebelförmig"), an zwei Berliner Vasen ^*) kreis-
bis tropfenförmig, au den Sarkophagen aus Klazomenä") durch Pal-
mettenfächer bestritten. Diese fanatische Zwickelfülluug, die wir schon
an den melischen Vasen beobachtet haben, ist aber der assyrischen
Kunst durchaus fremd. Dagegen findet sich tropfenförmige Zwickel-
füllung in den Aussenzwickeln eines Bogenfrieses schon auf mykenischem
Kunstgebiet, vgl. Myken. Vasen XIX. 1.86.
Nach dieser Abschweifung kehren wir zu den Blüthenmotiven der
rhodischen Vasen und ihren Verbindungsweisen zurück. Die Spirale,
die als verbindendes oder, infolge der ihr eigenthünilichen Zwickelbil-
dung, provocirendes Motiv für Blüthenformen noch in der melischen
Kunst eine so grosse Rolle gespielt hat, tritt in der rhodischen
Kunst zurück. Darin spiegelt sich der weitere Verlauf der griechischen
Pflanzenornamentik wieder: in ihrer selbständigen Existenz ist die
Spirale späterhin auf den laufenden Hund beschränkt Avorden. Wo sie
den Blumen als Kelch dient, hält sie sich länger, aber die Blumen
werden immer mehr das Maassgebende, an Bedeutung Ueberwiegende.
Mit anderen Worten: die Spirale verliert zusehends ihre geome-
trische Bedeutung und Avird zur vegetabilischen Ranke.
Dieser Process, in der mykenischen Kunst angebahnt, erscheint in der
rhodischen zu weiterem Fortschritte gebracht, und darin ruht die
hauptsächliche Bedeutung der rhodischen Klasse für die Ent-
wicklungsgeschichte des Pflanzenornaments.
") Salzmann Kameiros 53. Die Schliessung- eines Zwickels durch einen
zweischenklig-en Giebel ist offenbar die einfachste Lösung" des Postulats der
Zwickelfüllung--, es ist daher nicht nothwendig- die Spitzblätter des Lotus als
hiefür vorbildUch zu Hilfe zu nehmen. Am Schild des Menelaus auf dem-
selben Teller sind zwar die Zwickel zwischen den Doppelvoluten mit je drei
Giebeln gefüllt, hier ist aber in der That ein spitzblättriges Lotusprofil gemeint,
nach Analogie von Fig. 55, 56.
'^) Arch. Jahrb. 1886, S. 139, 140.
^^) Ant. Denkm. I. 45.
166
R. Das Prianzenovnamcnt in der .üTiocliischeu Kiin>r.
Xai-li dem dien Gesajiten stein zu <'i-\varteu. dass die rluidiselie
Dekorationskunst von dem speciüsch jiTieelnsclien Motiv der Wellen-
ranke bereits umfassenderen Gehrauch p-emaelit hat. In der That lassen
sich mehrfache Beispit'lf ilafür naelnveisen.
Von fortlaufenden Wellenranken sind mir drei Beispiele aus
rhodisch-klazomenischem Gebiet bekannt geworden. Das erste findet
sich au einem Terracotta-Zieg-el aus Kameiros, Fig-. 74 "';i, und ist merk-
Avürdig-erweise eckig gebrochen. Auf den ersten Blick ^v;ihnt man einen
Mäander zu sehen, aber während dieser letztere in seiner tyiMsehen
.Scherbe von einem iliodisclK-n Teller.
Form stets einseitig (egyptisch) ist, laufen die liKiinbenartigeii Ein-
rollungen in Fig. 74 bald von unten nach dheii niid hald umgekehrt,
wie es eben das Charaktcristiciini ({*■]■ forilnnfendeii Wellenranke
(Vig. öO) bildet. Den raid<eiiarligen ( 'liaraklei- ^•el•V(lllställdigell /.nni
t''e>)erflnsse die kleinen Kinrollungen, die sieli miieii an die grrissereii
zweigartig anseldiessen. I'^m diese ganz \( reinzelte eckige Bildung zu
erklären, wiivl man geneigt sein, (h-n l'jnllnss des geonietrisehen Stils
heranzuzielien, <\fy die Trans]»onirung des urs])rünglicli ans der Kreis-
fnrin eonstniirten M(jtivs in's Eckige verui'sacht haben niMcJite.
Halion wir es in Fig. 74 mit einer bloss(Mi Kanke ohne alle weitere
]>flanzlielie Ziitliat ZM tlinn. so tritt uns auf der \'ase, Fig. 75, (Salziuami
''■) Salziiiaiin Taf. 2!».
4. Ithodischej
167
46) eine in vollendetem Kreissohwungx* gehaltene AVellenranke entgegen,
deren Zwickel mit Palmettentacheni gefüllt sind. Diese augenschein-
lich einem vorgeschritteneren Stadium der Entwicklung angehörende
Amphora ist übrigens aus mehrfachen Gründen merkwürdig, und darf
Fig. 75.
Rliodische Amphora.
auf eine Sonderstellung ausserhalb der Reihe Anspruch erheben. Vor
Allem scheint eine Rechtfertigung dafür geboten, warum wir das Spiralen-
motiv auf dem Bauche dieser Amphora eine Wellenranke genannt haben.
AVir sehen nämlich in der Mitte zwei Spirallinien zusammenstossen, die
I6g B. Das Ptianzcnoniameiit in der griechischen Kunst.
uiclit nach Raukenart in einantU-r übergehen, sondern bloss äusscrlich,
durch eine Klammer, mit einander verbunden sind. Wenn wir aber die
beiden Spirallinien rechts und links weiter nach rückwärts verfolg'en,
bemerken Avir beiderseits nach oben abzweigende Einrollungeu, wie sie
eben dem Schema der fortlaufenden AA'ellenranke entsi)rechen. Wir
haben es da also nicht mehr mit iieometrischen Spiralen, sondern mit
Kanken zu thun. Dieselben ersclicincn zwar gegenüber den zwickcl-
füllenden Palmettenfächern noch sehr vorschlagend in der Gesammt-
dekoration, aber auch die, bloss nach einer Seite (oben) eingezeichneten
Fächer") sind gi'össer gehalten, als es bei bloss accidentellen Füllseln
in der Regel der Fall zu sein pflegt.
Lassen Avir alier einen ^loment das Detail aus dem Auge und be-
trachten Avir die Gesammtdekoration, so Averden Avir uns erst be-
Avusst, dass Avir es <la nicht mit der Ulrichen Strcifonnmstcrung der
rhodischen Vasen, dem Erlttiieil des geometrischen Stils, zu tiiun lialicii.
sondern mit einem einzelnen, grossartig hingeAvorfemn .Muster,
das für sich genügt, den Bauch der Vase in gefälliger Weise zu
schmücken. Die mykenische Kunst Avar es , die einen solchen gross-
artigen Zug in der Dekoration entfaltet hat (S. 147): sollen Avir nicht
auf eine latente NacliAA'irkung A'on dieser Seite auch den Anstoss zu
der Bildung A'on Fig. 75 zurückführen V Nicht anders ist das Schulter-
muster dieser Amphora zu erklären. Wir sehen da gereihte Blättclien
A'on epheuähnlicher Form , etAvas schräg projicirt und mit anmuthig
geschlängelten Stengeln versehen: worin sich gleichfalls jene Neigung
zur lebendigeren Bewegung der pflanzlichen IMotivc kundgiebt, Avie sie
(S. 118j die mykenische Kunst gegenüber den altorientalischen Künsten
so vortheilhaft auszeichnet. AVir könnten somit das Gefäss — abgesehen
von seiner Form -- niykeiiiseii nennen, weini nicht der llakenkreuz-
Äläander am Halse Aväre, d<ii <lii' niA'kenische Kunst nicht kennt, und
der somit doch am allerAvahrstlieinlichsten aus Egypten herübergenom-
men sein Avird. Werden AAir uns schliesslich noch der „rhodischen"
Stilisirung der füllenden Palmettenfächer bcAvusst, so Averden AAir nicht
mehr überrascht sein, das übrigens nicht A-ertMiizclt (histohcnde Gefäss")
znsannnen mit den übrigen „liiodiscjicn' 'riMin\\,i;iiin in K.inieiros ge-
f'un<li'n zn halx'ii. Es ist rltcn in der ii.iiiiit>.i('hc niykcniscii. mit
orientalisclM'n Einflüssen, die anl' ..i'li(tdi>clien" S.iclien nicht unge\\(ilin-
^') Unten sind die ZAvickeirüllniij;<'H hiess dislact aiiucdentct.
'*) Näclist.stchend die Ani|iliora Ix'i Salzinann Tat'. 17.
4. Rhodisches.
169.
lieh sind, aber ohne Einfluss des Dipylon. Wenn man vom Mangel
einer fig-ürlichen Darstellung" absieht, so repräsentirt Fig-. 75 das an-
schaulichste Zwischenglied zwischen mykenischer und hellenischer Kunst.
Das vollkommenste Beispiel einer fortlaufenden Wellenranke auf
rhodischem Stilgebiete findet sich an dem einen Berliner Sarkophag" aus
Klazomenä ") (Fig. 76). Die Blumenmotive sind hier nicht mehr
Zwickelfüllungen, sondern vollendete Halbpalmetten. Es wäre dies ein
plötzlicher Sprung mitten in die reinste griechische Ornamentik, Avenn
Avir nicht ein melisches Zwischenglied (S. 158) kennen gelernt hätten,
das uns auf geradem Wege auf das mykenische Ursprungsgebiet zu-
rückführt. Der zwischen den ündulirungen der Wellenlinie und den
spiraligen Einrollungen ihrer Abzweigungen jeweilig freibleibende Kaum
ist vollständig mit einem halben Palmettenfächer gefüllt, dieser Pal-
TO üi iggS^'Lii i!j itfSEiTffiinJi^BSumj
Fig. TG.
Gemalte A'erzierung vou einem klazomeuischen
TIioDsarkophag.
Fig. 77.
■\'on einem lilazomenischen
Sarkophag.
mettenfächcr wächst aber nicht aus dem inneren Zwickel heraus, sondern
verläuft concentrisch zum Spiralenkelch, analog dem my kenischen Vor-
bilde Fig. 64. Dass dies nicht bloss uns so erscheint, sondern auch
bereits den Verfertigern dieses klazomenischen Sarkophags das Motiv
der Halbpalmette vorgeschwebt hat, beweist das Ornament in Fig. 77,
das sich auf demselben Sarkophag vorfindet. Es ist dies zweifellos ein
Ausschnitt aus einem Lotus-Palmettenband (Fig. 79): in der Mitte wächst
der Lotus empor, rechts und links davon ist je eine halbe Palmette sicht-
bar, die genau dieselbe Form hat wie die Halbpalmetten in Fig. 76^°).
'«) Ant. Denkm. I. 46.
*") Hier muss auch auf das im Grundschema mit Fig. 77 verwandte,
aber durch seine vorgeschrittene Bildung- fast verblüftende Motiv (birnförmige
spiralenbekrönte Lotusblüthe zwischen zwei blattartigen Halbpalmetten)
zwischen den zwei Sphingen unterhalb des Kopfstücks des Klazomenischen
Sarkophags. Mon. ined. XI, 53, hingewiesen werden. Eine Halbpalmette, die
einen selbständigen liegenden Zweig krönt, und deren Seltsamkeit auch Furt-
Avängler aufgefallen ist, findet sich auf einer Berliner Kanne, abgeb. im Arch.
Jahrb. 1886, S. 139.
\~Q B. Das Ptlanzenoniament in der g-riechischcn Kunst.
Das Schema der interniittirt-ndcii "Wclleuran ke ist in so
typischen Beispielen wie in Mykcnä und Melos in der rhiMÜsi-licn Kunst
bisher nicht nachgewiesen. Immerhin lässt sich wenigstens ein Beispiel
anführen, an welchem der charakteristische Verhiuf des genannten
Schemas latent zu Grunde liegt. Fig. 78*') zeigt einen Theil des
Innenmusters von einem Teller, wo vier umschriebene Balmetten in's
Kreuz gestellt und in deren äussere Zwickel vier Palmettcnfäclier zur
Fülhtng eingesetzt sind. Die unisehriel)eneu i'.ilmetten weisen nach
Innen, die füllenden Fächer nach Aussen, so wie die Lotuslilüthen auf
der melischen Vase Fig. 53: die wellenförmig dahinfliessenden Stengel
Fig. 78.
Thfil eines bemalten rhodischcn Tellers.
sind liier allerdings unterdrüekl und dies liinderl uns auch, das inter-
niittirende Schema völlig klar zu erkennen.
Fig. 78 giebt mir \"i'ranlassung. noch eine bisher unbeachtet ge-
blietxme Seite des rliodiselien l'Hanzenornaments zur Si)rache zu liringen.
Ich habe vorhin von nmfichriehenen PaJmelten gesiiroclien, deri'H kri'uzweisc
Zusammensetzung dem Cluster von Fig. 78 zu (ii-unde liegen si.ll. Die
timschriebene Palmette als Kunstausdruck ist nämlich in dieser Darstellung
etwas Neues. Nicht aber der Sache nach*"^). \\'ir iiälten bei der Be-
schreibung von Fig. 78 ebenso gut sagen kidinen. das Muster wäre aus
eini'in im Kreise verLiurrudcn l'^gcnlVicse mit nach auswiirts gekelirt<'n
■*') Nach Salzmaim Taf. 02.
'■') Die .,|>höiükisclK'.'' Palnictte (S. lOö), an welclior die uinschreihonde
Linie, ficn Kelch darstellt, liat aber «laniit niehts zu thun.
4. Rhodisches. 171
Palmetten gebildet, in deren Volutenzwickel bei ihrem seitlichen An-
einanderstossen kelchtüllende Palmettenfächer, mit der Richtung nach
einAvärts , eingesetzt Avurden. Der geschwungene Kontur des einen
Motivs bildet eben zugleich denjenigen des benachbarten, wie es auch
den reciproken Ornamenten eigen ist. Das Motiv der umschriebeiien
Palmette hat seine nächste Vorstufe an dem Ornamentband auf der
melischen Vase Fig. 66, das um den Bauch unmittelbar über dem
Fusse herumläuft (und am Schilde des rhodischen Euphorbostellers).
In letzterem Falle sind die Doppelspiralen noch die Hauptsache, die
Blüthen blosse Füllungen, in Fig. 78 bereits umgekehrt. Auf die gleiche
Wurzel geht offenbar die Verschränkung der Palmette mit dem alter-
nirenden Lotusblüthen-Profll, Fig. 79 s^), zurück, von einem klazome-
nischen Sarkophag*^*). Es ist zweifellos ein und dieselbe künstlerische
Tendenz, die allen diesen Versuchen zu Grunde liegt.
^Ag^ic^Xg^AasAg):
Fig. 79.
Von einem klazomenischen Sarkophag.
Die umschriebene Palmette hat in der späteren Ornamentik (bis
in romanische Zeit) eine überaus häufige Verwendung gefunden. Es
wäre daher wichtig, den Moment und die Umstände zu fixiren, unter
denen sie zuerst aufgetreten ' ist. Allem Anscheine nach ist dies jedoch
schon vor der Zeit geschehen, in welcher die klazomenischen Sarkophage
entstanden sind. Auf dem Sarkophage, Ant. Denk. I. 44, ist das Eier-
stabkyma nämlich bereits völlig typisch ausgeprägt, der vegetabilische
Lotus-Knospen-Reihen-Charakter daran vollständig verAvischt. Soll dies
in der That schon in mykenischer Zeit geschehen sein, Avie Goodyear
Taf. 55 No. 7 unter HiuAveis auf My kenische Vasen S. 49 Fig. 28 anzu-
nehmen geneigt ist? Jedenfalls sehen Avdr dann den Process in der
rhodischen Kunst mit den neu zugcAvanderten orientalischen Lotus-
Palmettenbändern auf's Neue sich vollziehen. Dass darin ebenfalls ein
Keim der nachfolgenden Entwicklung in der korinthisch-attischen Kunst
liegt, hat schon Hohverda^^) bemerkt. Auch dieser Umstand erscheint
83) Vgl. Fig-. 77, die hienach, Avie schon betont Aviirde, nichts anderes ist
als ein Ausschnitt aus Fig. 79.
ä*) Monum. ined. XI. 54.
8S) Arch. Jahrb. 1890, 263.
\~2 B. Das Pflanzenornanient in der griechiscben Kunst.
somit geeignet, die Bedeutung der rhodischen Kunst für die Fortbildung
des griechischen . Pflanzenornaments zu erhöhen. Centrale Zusammen-
setzungen von vegetal)ilischen Motiven, ähnlich wie in Fig. 78, begegnen
uns schon in den altorientalischen Künsten, z. B. in der assyrischen
Fig. 34:); der bekannte aus je vier Lotuskuospen und Palmettentachern
zusammengesetzte Stern, der sich auch in Kameiros^*^) gefunden hat,
hängt noch eng mit jenen altorientalischen Bildungen zusammen.
Aber die richtige Grundlage für die Verschiebung und Yerschränkung
der alternirenden Lotusblüthen und Palmetten Avar erst dann gegeben,
sobald man sich daran gewöhnt hatte, die Spirale völlig frei
zur Kelehbildung zu gebraucheu, und die Blunienmotive sich
von blossen Füllungen zu selbständigen Ornamenten eman-
cipirt hatten. Diese Stufe der Entwicklung hat aber, soviel Avir heute
sehen können, zuerst die „rhodische" Kunst erreicht^').
5. Altböotisches. Frühattisches.
Mit der Betrachtung der melischen und rhodischen Vasen haben
wir die Entwicklungsgeschichte des Pflanzeuornaments über die my-
kenische Stufe hinaus weiter verfolgt und insbesondere an den Blüthen-
motiven des rhodischen Stils und ihren ^'erbindungsweisen deutlicli die
Ausgangsi)unkte für die naclifolgende, unbestritten griechische Entwick-
lung erkannt. Es ist nun an der Zeit, in der Abwicklung der Fort-
Itildungsgeschichtc eine AVeile iune/uhalten und einige andere Denk-
mälergruppen zu Worte kommen zu lassen, die zwar keine wesentliche
oder gar führende Rolle in der Entwicklung des griechischen Pflanzen-
ornaments gespielt haben, aber durch gewisse Eigenthümlichkeiten uns
in Stand setzen, den zurückgelegten Process noch besser zu verstellen
und uns von der Stichhaltigkeit der aufgestellten Entw ickluiiusi-eilie
noch mehr zu überzeugen.
Dies gilt insbesondere Aon den hnoiisclien Vasen, die •U<\\. H<ilil.in
*8) Salzniann Taf. 2.
"') Als Versuch, und gewiss nur einer unter vielen minder gelungenen
Versuchen, ist die Sclialc aus Kanieiros auf Taf. 33 bei Salzniann lehrreich.
Mit den Spiralen sind hier ganz zweckentsprechend die Volutcnkelche für
ebensovielc Palinetten gebildet. Die Ausfüllung der ZAvischenräunic ist dem
Maler aber nicht mehr gelungen: zwei Lotusblüthen war er im Stande anzu-
bringen, mit dem dritten Zwischenraum ist er aber dermaassen in die Enge
gerathcn, dass er sich mit der Einfügung einer Knosi»e begnügen musste.
Dem gegenüber ist die Lösung in Fig. 78 eine klassische zu nennen.
5. Altböotisclies. Frühattisches.
173
im Arch. Jahrb. 1888 S. 325 ff. beschrieben hat; ja es wird sich zeigen,
class wenigstens an einem Beispiele dieser Vasenklasse sicli sogar ein
weiterer höchst bedeutsamer Schritt nach Vorwärts feststellen lässt.
Der Eindruck den der Bearbeiter von diesen Vasen anscheinend be-
kommen hat, der Eindruck einer in lokaler Isolirtheit befangenen
Kunstübung, mag vielleicht richtig sein. Dies schliesst aber nicht aus,
dass neben der von Böhlau in den Vordergrund gestellten geometrischen
Dekoration auch eine nicht zu unterschätzende pflanzliche sieh vorfindet,
i'ig. bO.
Altböotische Schale.
deren ,. lebendigen vegetabilischen" Charakter übrigens auch Böhlau^^)
wenigstens in Bezug auf die Palmette anerkannt hat. Das Lotus-
Blüthen- und Knospen-Band bei Böhlau , Fig. 14 S. 338, das derselbe
schwer verständlicher Weise mit einem Wellenband nach mykenischer
Art verwechselt hat, will ich nur beiläufig erwähnen, ebenso die selb-
ständigen, nach mykenischer Weise an geschweiften Stengeln sitzenden
Blumen: Lotusprotile mit drei Spitzblättern und bereits ganz griechisch
gebildete Palmetten®"). Das Wichtigste für unsere Untersuchung ist das
^8) A. a. 0. 359.
^9) A. a. 0. Fig-. 10.
174
B. Das Pflanzouornament in der $>Tieehiscbeii Kunst.
Vorkommen der fortlaufenden Wcl 1 mrankf in nicht weniger als
drei Fällen.
Der Rand der Sehale Fig. 80 gielit eines davon wieder-'^'L Die
Wellenranke rollt leielit und sicher um den Rand herum, in die Z^\ iekel
sind nacli egyptiseher Art (also noch nicht nach Art der klazonu:'nisclu'n
Halbpalmetten') Zwickelblumen eingesetzt, die im Effekt den Spiral-
wiudungen mit ^lühe die Waage halten. Dass wenigstens die in Halb-
kreis geschlossenen unter diesen ZAvickelblumen noch im Stile der Pal-
metten des Furtwängler-Löschcke'schen mykenischen Yasenstils ge-
halten sind, hat Böhlau ebenso wie den Zusammenhang mit der
Scherbe aus Thera Fig. 50 anerkannt: icli nuH'lite dazu aucii die
Zwiekellilunien mit ]iunktirter Periplierie reclnien.
Figr. 81.
Altböotisclie Schale.
Das zweite Beispiel einer fortlaufenden AVellenranke giebt Bühlau
a. a. 0. auf S. 335, Fig. 7. Die Zwickelfüllungen sind Iner tropfenförmig,
älndieh Avie auf der m>kenischeii Unistphilte Fig. (10, mid treten d.ilier
gegenüber den Si)iraleinrollungen noch mehr in drn Hintergrund als
an Fig. 80. B<-merkenswerth ist Idoss die Khunnier, mittels Avelcher
.jede SpiralaT)Zweigung am Ansätze mit <ler toitl.-mt'eiideii Wellenlinie
verbunden ersclieint.
Unmitte]l)ar unter 1- ig. 7 li.ii Hr.hlau in Fig. S (unsere Fig. 81) das
dritte Beispiel einer forthiufenden Welleiiraid<<' abgebildet, das er selbst
nicht als solches erkannt hat. Man fasse aber den Zweig in der linken
Hälfte des Mittelstreifens in's Auge. Der Stengel steigt vom l'.nden an
^) Nach Fig. 5, a. a. (>. S. M:}.S.
5. Altböotisches. Frühattisches. 175
den oberen Rand, biegt dort um und spaltet sich in zwei durch eine
Klammer zusammen gehaltene Spiralen, die einem Palmettenfächer zum
Kelch dienen. Die nach rechts ausgreifende Spirale entsendet aber
wiederum einen Spiralschössling nach unten und bildet mit ihm einen
zweiten Kelch in dem allerdings aus Raummaugel bloss ein füllender
Dorn Platz finden konnte. Der letztgenannte Spiralschössling endlich
entsendet einen gleichen noch weiter rechts nach oben und bildet mit
ihm den Kelch für eine Palmette gleich der zuerst genannten. Sehen
wir von den Füllungsblumen ganz ab, so erkennen Avir unschwer das
Schema von Fig. 80, beziehungsweise Fig. 50.
Woran liegt es nun, dass Böhlau den Sachverhalt an Fig. 81 nicht
sofort erkannt hat? Vielleicht hat ihn auch die kurze Zweigform be-
irrt, gewiss aber die überwiegenden Dimensionen der Palmettenfächer
gegenüber den Spiralkelchen. Während diese letztere an Fig. 80 und
insbesondere an dem zweiten Böhlau'schen Beispiele klar und tonan-
gebend um die Schale herum fliessen, treten sie an Fig. 81 gegenüber
den Zwickelpalmetten zurück — mit anderen"'-^Worten : die Palmetten
Averden zur Hauptsache, die Spiralen zur blossen acciden-
t e 1 1 e n R a n k e n V e r li i n d u n g. Darin kündigt sich der Weg der Zukunft
an, Avährend das Motiv dei- fortlaufenden Wellenranke an sich den Zu-
sammenhang mit der mykenischen Vorstufe herstellt.
Aber auch noch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist Fig. 81
für die Entwicklung des griechischen Pflanzen-Rankenornaments be-
deutungsvoll: es ist dies das erste Mal, dass sich die Wellenranke von
der geschlossenen bordüreartigen Streifenform emancipirt und als selb-
ständiger ZAveig^') frei hingeworfen erscheint. Dies ist aber das
eigentliche Ziel der griechischen Rankenornamentik gCAvesen: die freie
Entfaltung der undulir enden Linien über eine beliebige,
nicht bloss auf einen Längsstreifen beschränkte Fläche. Unter
diesem Hinblick ist der, wenngleich nicht eben schön gelungene Wellen-
rankenzweig Fig. 81 historisch weit bedeutsamer, als die auf S. 167 f. ge-
würdigte Wellenranke Fig. 75. Diese letztere ergielit sich uns jetzt als
die formvollendete Lösung eines schon von der mykenischen Kunst
vorgebildeten Motivs, als Abschluss des EntAvicklungsprocesses eines
^') Rankenzweige kennt, wie wir gesehen haben, schon die mykenische
Kunst sowie die meisten archaisch -griechischen Stile (aucli der in Rede
stehende böotische). Es ist der Wellenrankenzweig, der hier zum ersten-
male auftritt; allerdings vermöchte man vielleicht selbst hiefür ein mykeni-
sches Vorbild in Fig. 49 erblicken.
„fl"'
176 B- Das PHaiizenornament in der g-riechischen Kunst.
immerhin noch gebundenen, weil in Streitenform gebannten Motivs im
Sinne des höchst erreichbaren Formal-Schönen. Der Eankenzweig Fig. 81
durchbricht das hergebrachte Schema und Aveist auf neue fruchtbare
Wege: Aver Avürde da verhingen, dass die Lösung auf den ersten Wurf
gelang?
EinschaltuugSAveise will ich liier — dem chronologischen Eiit-
Avicklungsgange vorgreifend — eine spätere böotische Vasenornamentik
zum Vergleiche heranziehen, weil sie vielleicht zur Erklärung für die
nachgewiesene öftere Verwendung der fortlaufenden Wellenranke in der
archaisch-böotischen Kunst beitragen könnte. Bei den Ausgrabungen
des Kabirenheiligthums zu Theben hat man nämlich eine Anzahl von
A^asenseherben zu Tage gefördert, die auffälligerweise zu allermeist mit
der fortlaufenden Wellenranke verziert sind (Fig. 82)"-). Winnefeld hat
nachgewiesen, dass die betreffenden Vasen einer lokal-böotischen Fa-
c--\ ^^V ^!^1 ' C^B
Fig. 82.
Epbeurauke von einem späteren böotisebcn Thongefäss.
brikation angehören und nicht vor dem 4. Jahrhundert entstanden sein
können. Zwischen der P^ntstehungszeit der altböotischen (nach Böhlau
7. Jahrhundert) und derjenigen der Kabirenvasen liegen allerdings
mehrere Jahrhunderte, in deren Verlaufe die fortlaitfende Wellenranke
ein gemeinübliches Bordürenomament der griechischen Kunst geworden
ist. Auffällig ist aber an den Kabirenvasen innnerliin die exclusive
Bevorzugung des fortlaufenden Schemas, das überwiegende Vorkommen
der sogenannten E[ilieublätter, .jenes schon in iler nixkenischen Kunst
verbreiteten vegetabilischen Motivs, das Feiilen der ,,in anderen Vasen-
gattungen häufigsten Ornamentmotive: Mäander und Palmette, Stab-
oniament, Eierstab und Strahlen" (Winnefeld). Nelnnen wir dazu Jenen
bestimmten mykenischen Zug, der sich z. B. in den gekrünnnten, die
Wellenlinie begleitenden Stengeln der Hjilienbläiter (Fig. ')()) ausspricht,
so erscheint es in der Tliat Avahrscheinlicli, dass diese lokal-höotische
Vasenornamentik' ]iochalteiiliiinilieli<' Tr.Mliiifiiirn rej>i-;isentirt, wie sie
»') Nach Athen. Mitth. ISSK, S. 41«, Fig. (1.
5. Altböotisches. Frühattisches. 177
sich unter geringen Concessionen an die namentlich durch das attische
Geschirr und die attische Kunst überhaupt geschaffene und zur Mode
gewordene griechische Universalkunst bis gegen die alexandrinische
Zeit hin bewahrt haben mochten.
Da im Vorstehenden von dem Epheuhlatt die Eede war, halte ich
es für gerathen, um Missverständnisse zu vermeiden, nochmals (s. S. 125)
den Sinn dieser Bezeichnung zu erörtern. Ich denke dabei ebenso
wenig an ein Avirkliches Epheublatt, wie bei der Bezeichnung Palmette
an eine Palme : es ist einfach ein Verstäudigungsmittel über eine gewisse
dekorative Kunstform, von welcher wir nicht wissen, was sich ihre je-
weiligen Darsteller darunter gedacht haben. Dies schliesst ja nicht aus,
dass man darin — namentlich in der natm'alisirenden nachalexandrinischen
Zeit — in der That einen Epheu gesehen hat. Das Epheublatt begegnet
uns in Egypten, dann in ^lykenä, es begegnet uns auf den sogenannten
chalkidischen Vasen und nun im Böotien des 4. Jahrhunderts. In letz-
teren beiden Fällen könnte man dem Motiv — die topographische
Nachbarschaft als über alle Z^veifel erwiesen vorausgesetzt — die gleiche
Bedeutung beigelegt haben; wie aber in Mykenä oder gar in Egypten?
Deshalb kann ich mich auch nicht davon überzeugen lassen, dass die
Blätter von Fig. 7 bei Winnefeld auf die botanische Species Tamus
cretica zurückgehen, viel eher halte ich sie als eine rein stilistische
Fortbildung der ,.Epheublätter". Fig. 9 ebendaselljst zeigt allerdings
deutlich Weinblätter und Trauben: wir gelangen damit eben in die
naturalisirende Dekorationskunst, wie sie hauptsächlich die Diadochen-
zeit charakterisirt, aber schon seit dem peloponnesischen Kriege, seit
dem Aufkommen des Akanthus, sich in stets zunehmendem Maasse be-
merkbar gemacht hat. Gleichwohl ging auch dann noch daneben
immer eine stilisirende Richtung einher, die das Weinlaub z. B. fünf-
zackig bildete ^^) — eine Richtung die in spätrömischer Zeit im Orient
wieder entschieden die Oberhand gewann, und sie daselbst wahrschein-
lich auch in der Zwischenzeit niemals völlig eingebüsst hatte.
Böhlau's frühattische Vasen im Arch. Jahrb. 1887 (S. 33 ff., Taf. 3—5)
stehen in Bezug auf die Entwicklung des Pflanzenomaments noch hinter
den melischen Vasen. Der Typus der Palmette ist hier noch keines-
wegs so abgeschlossen, wie wir ihn auf melischem Gebiete (S. 155) ge-
troffen haben. Die Vase auf Taf. 3 bei Böhlau zeigt an den Palmetten
3^) Z. B. auf einem etruskischen Spiegel, Athen. Mitth. 1888. 365.
Riegl, Stilfrageu. 12
Il}^ B. Das Ptian/.enornameiit in der g-riochischeii Kunst.
zwar einen lo^en, cius kolbenartigen Blättern zusammengesetzten Fächer,
aber nicht die spiraligen Voluten: Tat". 4 dagegen die genannten Vo-
luten, aber in Verbindung mit einem dicht geschlossenen Fächer von
kugelförmigen Blättern. Auch die umschriebenen Palmetten auf Taf. 5
stehen hinter denen an unserer Fig. ('>("> zurück. Die Ilydria bei Bölilau
S. 53 zeigt knospenartige Motive auf einen geknickten Bogenfries gereiht,
angeblich ein verkümmertes Lotusblumen-Knospen-Band; jedenfalls ist
dasselbe für die Entwicklung bedeutungslos. Fig. -^a bei Böhlau zeigt
dagegen zwei Doppelspiralen, deren Jede in Form eines arabischen
Achters verschlungen ist und in l'almetten von ziendich typisch-grie-
chischer Form ausläuft, während die Zwickel dazwisclien mit Palmetten-
fächern gefüllt sind. Das wäre nun etwas, das sogar über die Freiheit
der Kankenführung in der rhodischen Kunst hinausginge, wenn es
nicht — wie auch Böhlau bemerkt — in der ganzen Klasse vereinzelt
dastünde. Das Motiv ist der Entwicklung nach nicht früher anzusetzen
cils die gleichfalls von einer altattischen Vase stammende Fig. 83, mit
welcher — wie wir sehen werden — eine ganz eigenartige Weiterent-
wicklung des Pflanzenrankenornaments einsetzt.
6. Das KaiikeiigeschliDge.
Das Material, aufCirund dessen wir heutzutage die l'hitwickltings-
geschichte des Pflanzenornaments in dei- älteren griechischen Zeit zu
entwerfen im Stande sind, ist in der Hauptsache auf Gefässe beschränkt.
Unter diesen sind es wiederum die Thongefässe, Avelche an Zahl weitaus
im Vordergründe stehen, in zweiier Linie ersi die Metallgefässe. Der
Unterschied im Material iiai zwar, wie ]v\\ zu betonen inelit müde
werde, nichts Wesentliches zu besagen. Der Lotus oder das Fleehtli.nid
war gegeben: auf den Thon wurden sie gemalt, in das ^Fetall gravin.
Ein wesentlicheres Hemmniss, um die Entwicklung \r.llig klar zu er-
blicken, könnte darin gelegen >ein, dass es eben hanplsäelilieli nur
Getasse sind, dii- uns zni* rntei-suehnng xdiiicgcn. I'.s niachl sieh
nändich in der Verzierung <\ry (iefässe sclmn in archaischer Zrii das
Bestreben geltend, die rein ornamentalen, l>lt)ss scinnüekend<'n. gegen-
ständlich nichtssagenden Motive einzuschränken und an ihre Stelle
Hgürliche Darstellungen, deren lidialt der li«'r<>isehen und der (nUtersago
entlehnt wurde, treten zu lassen ''j.
9») Woher diese trciltende Tendenz in die griechische Kunst gekoiunieu
i.st, wird man heute scliwerlich entscheiden können. In der niykenischen
6. Das Rankeng-eschlinge. 179
Bei der reinen Streifendekoration konnte man da kaum stehen
bleiben. Es lag- in der Natur der Sache, dass die tig-ürlichen Dar-
stellungen immer mehr Raum für sich in Anspruch nahmen, die Thier-
friese dagegen und vollends die geometrischen und vegetabilischen
Zierformen auf ein zunehmend geringes Maass beschränkt wurden.
Wenn wir nun an den rhodischen Vasen deutlich das Bestreben des
Rankenornaments nach Ausbreitung wahrzunehmen glaubten, so trat
diesem Bestreben jenes andere nach Ausbreitung der tigürlichen Scenen
hindernd entgegen. Die Ranken konnten sich auf den Vasen nicht frei
über grössere Flächen entfalten, weil ihnen der Raum hierfür von den
figürlichen Vasenbildern bestritten wurde. Wie war es aber auf anderen
Gebieten ?
Was uns da sonst noch vorliegt, z. B. kleine Schmuckstücke aus
Edelmetall, das läuft in der ornamentalen Entwicklung ganz parallel
mit den Erscheinungen auf den Vasen. Wäre uns z. B. etwas von
Wandmalereien der betreffenden Zeiten erhalten, so würde sich vielleicht
eine weit freiere Pflanzenrankenornamentik, etwa wie sie die helle-
nistische Zeit kennzeichnet, schon für eine gewisse Zeit vor den Perser-
kriegen feststellen lassen. Dieser Schluss erscheint nicht zu gewagt,
sobald wir beobachten, wie das Pflanzenrankenornament selbst an den
Vasen, dort wo ihm noch eine freiere Entfaltung ermöglicht bleibt —
an und unter den Henkeln — davon begierig Gebrauch macht. Das
uns zur Verfügung stehende Vasenmaterial zeigt uns das Pflanzenranken-
ornament hauptsächlich in bordürenartige Längsstreifen gezwängt. Von
diesen letzteren, als den einfacheren gegenüber den endlosen Flächen,
hat aber auch sicher die folgende Entwicklung ihren Ausgang ge-
nommen.
Da begegnet uns nun zunächst die lehrreiche Erscheinung, dass das
fortlaufende und das intermittirende Wellenranken-Schema
nach mykenischem Muster in seiner einfachsten Form dem
nach Entfaltung drängenden dekorativen Sinn nicht mehr ge-
nügte. Fig. 83 stammt von einer Schüssel aus Aegina^^), die auf alt-
Kunst, der wir nach dem sattsam Gesagten so viele fruchtbare und g-rund-
legende Keime des späteren Hellenismus verdanken, war sie zweifellos schon
vorhanden gewesen (S. 147). Aber auch die Dipylonvasen zeigen häufig-
figürliche Darstellung-en: ob unter mykenischem Einrtuss? Und selbst die
Orientalen haben die figürliche Composition von den Werken des „Kunst-
gewerbes" nicht gTvmdsätzlich ausgeschlossen: man denke nur an die Metall-
schalen !
9^) Arch. Zeitschr. 1882, Taf. X.
12*
180
B. Das Pflauzeuornament in der a'viechischen Kunst.
attischen Ursprung ziu'ückgefübrt Avird : geiuiu dasselbe Muster findet
sich übrigens an einer in Athen gefundenen Amphora, die auf S. 46
des Textes zu den Antillen Denlvinälern Bd. I abgebildet ist. Das
Ornament als Ganzes setzt sich zusammen aus Bliithenmotiven und aus
Rankenlinien: betrachten wir zunächst die ersteren gesondert für sich.
Wir unterscheiden da zweierlei Motive: Lotusblüthen, gekenn-
zeichnet durch die Aveitausladenden Seitenblättcr, und Palmetten oder
besser gesagt blosse Palmettenfächer. Das grössere, wichtigere IMotiv
sind augenscheinlich die Lotusblüthen; dagegen treten die Palmetten
sowohl in der Grösse, als wegen des anscheinenden Mangels des zur selb-
ständigen Palmette unentbehrlichen Volutenkelchs zurück. Die Lotus-
blüthen sind min ebenso wie die Palnicttcn mit der Krone abwechselnd
l-ig. 83.
Gemaltes Kankcngusclilingc von einer ScliUssel aus Aogiiia.
von unten nach oljcn und von oben nacli nuten gekehrt, worin wir das
intermittirende Wellenrankenschema bereits ahnen. Um dieses letztere
vollends sicherzustellen, bedarf es aber des Nachweises einer entspre-
chenden Verbindung.
Diese letztere ersclicini licrgestellt durch die schl ingeiHTirniig
verlaufenden 1\ .nik cn 1 in ieii. An der iStelle nämlich, wo zwei
Schlingen ineinander greifen , sitzt innner auf der einen Seite eine
Lotusblüthe, auf der anderen eine Palmette. Die zwei Schlingen ver-
treten auf solche AVeise die Stelle von zwei Spiraleinrollungen eines
Volutenkelchs, indem sie für eine darüber sich erhebende Blüthe den
Kelch bilden. Man lösche jenen Theil der Rankenlinien, der sich dnrch
die Lotusblüthen liindm-eh sclilingt und dieselben lialliirt, l'eiMier die bloss
raumfüllenden S]>iralen, die sich beiderseits an die l'ahnetten ansetzen,
so gewiinit man das nackte Schema der intennittirenden AVellenranke,
an deren Berg- nnd 'rh.ilpuidsten Lotuslilütlien ansetzen. Dic^ l'ahnetten
(). Das Raukeug-eschling-e. 131
sind blosse accessorische Zwickeltullungen der von der Ranke gebil-
deten Kelche.
Die Stichhaltigkeit der gegebenen Erklärung des Motivs springt
noch mehr in die Augen an Fig. 84, das von einem Bronzetäfelchen
im Berliner Antiquarium^'') entlehnt ist. Hier haben wir in der That
das nackte intermittirende Schema: die Lotusblüthen setzen einmal
oben und dann unten ganz einfach , ohne alle Vermittlung durch
Spiralvoluten oder Schiingenkelche, an die zwei von rechts und links
zusammentreffenden Stengel an; die Schlingen, welche letztere vor
ihrem Absetzen an der Lotusblüthe bilden, sind eine Bereicherung des
Motivs und stellen den Zweck, den man mit dem ganzen Motiv ver-
folgte, erst recht deutlich in's Licht. Hier beirren uns auch nicht mehr
die Bänder, von denen die Lotusblüthen durchzogen und halbirt sind,
Fig. Si.
Verziertes Bronzetäfelchen im Berliner Antiquarium.
da sie hier nicht so wie an Fig. 83 die intermittirende Wellenlinie
durchkreuzen, sondern an beiden Seiten für sich getrennt verlaufen.
Die Palmetten endlich geben sich hier vollends unverkennbar als blosse
Zwickelfüllungen.
Zweierlei haben wir an dem solchergestalt in seinem Wesen fest-
gestellten Motiv besonders vermerkt: erstens die in der Richtung
alternirende Paarung A'on Lotusblüthen und füllenden Pal-
mettenfächern, zweitens die Bereicherung der verbindenden
Wellenrankenlinien durch Schlingen, wozu noch die völlig als
dekorative Superfötation angehängten Bänder kommen. Die Paarung
von Lotusblüthen und Palmetten in alternirender Richtung , also das
Motiv, das in der herrschenden Kunstterminologie als gegenständige Loüis-
hlüthen und Palmetten bezeichnet wird, ist uns im Wesen nicht mehr neu.
Sie findet sich schon auf dem melischen Beispiel Fig. 53; nur ist hier
anstatt des Palmettenfächers ein blosser Zapfen zur Zwickelfüllung
^) Arch. Anz. 1891, S. 12.5, Fio-. 12e.
132 ß- ^^^ Prianzenornanient in der o-riechischcn Kunst.
verwendet, avcIS an der wesentlichen Uebereinstinuniinji' des Grnndmotivs
nichts ändert.
Zum leichteren Verständuiss des Sachverhaltes ji'elx' ich in Fly-. 85
das Ornament eines gleichfalls in Berlin verwahrten und in Thelien
g"etiindenen Bronzeplättchens-''), das zwischen dem melischen (Fig 53)
und dem t'rühattischen (Fig. 83. 84) Beispiel die Mitte hält^*). :Man vgl.
ferner 1)ei Brtmn-Lau. Die griechischen Vasen, Tat". VIII. das Halsorna-
ment von Xo. 1 mit Xo. ö derselben Tafel, dann ebenda Taf. XI 6, 7,
Avelche schon der Aveiteren Entwickhing angehören. Der Schliisspunkt
dieser Entwicklung war so wie derjenige der attischen Ornamentik gegen
das 5. Jahrh. hin überhaupt die Lossagung vom Schwulste der schmuck-
freudigen archaischen Zeit, die Beschränkung auf Avenige und verein-
fachte Motive von rein ornamentaler "Wesenheit, freilich unter freiester
I
mmsasnssmmnz
l-Mg. 8.',.
Verziertes IJronzctäfeldien im Ucrliner Antiiinariiini. Aus Theben.
Belierrschung der Darstellungsmittel und vollendeter Ausgestaltung im
Sinne des Formalscliönen. Als Beis})iel einer intermittirenden "Wellen-
ranke mit (jegemtäinVifjen Lotusblüthen und Palmetten, ohne alle Spiral-
Avindungen, Verschlingungcn und \'(ilut(nkclclie. möge Fig. 8<) \vm'\\
Bntnn-Lau XJ. 8 dienen, das noch nicht dem freiestcn Stile angehört.
Kehren wir nochmals zu Fig. 83 zurück. Xcu ist daran. Avir wir
gesehen habm. eigentlich bloss die Verschleifung der inieniiiiiireiiden
"Wellenlinie in ein ohne Unterbrechung fortlaufendes Band; dies \\u\\
ermöglicht dui'cii <lii' i'ihlung a'ou Schleifen, deren Je ZAvei im Zusanunen-
stossen innner den Ki leji für die anzusetzenden BlüthenmotiA-c bilden.
") Anli. Aiiz. isld. S. 121, Fig. 12a.
'*) Die Augen, luii die .sich in Fig. 8ö die Uelchliildendeu Wellenrankeu-
Hnieii an jedem Lotusansatz lierunnvinden, gelten aucii Ausi^unft über die
Kreise, in die sicli in Fig. fj.'i die meisten Uelclihihlenden Vohiten miigcAvandelt
haben.
(). Das Rankengeschling-e. 133
"Wir haben das Aufkommen dieses ^lotivs aus einem Bestreben nacli
reicherer Ausgestaltung des bordürenartigen Rankenstreifens zu erklären
gesucht, und zwar auf Grund der geraden Entwicklung aus dem ge-
gebenen Vorbilde der intermittirenden "Wellenranke, wofür Fig. 84 wohl
jede weitere Beweisführung überflüssig macht. Es ist dies aber nicht
der erste Erklärungsversuch, den man für dieses Motiv aufgestellt hat.
Dasselbe hat nämlicli schon um seines augenfälligen Zusammenhanges
mit dem gegenständigen Palmetten-Lotus-Band die Aufmerksamkeit einiger
Forscher erregt. Am bündigsten und entschiedensten hat sich Holwerda
im Arch. Jahrb. 1890, S. 239 f. darüber ausgesprochen.
Es ist fast selbstverständlich, dass Holwerda's Erklärung an irgend
eine Technik anknüpfen musste. Diesmal fiel die Wahl auf eine Metall-
1 iö- ft"'.
(lemaltc Rankenverzierung. Griechisch.
technik. ..Die durchsetzenden Schlingen waren die genaue Nachahmung
von Metalldrahtgeflechten, deren Muster sich noch mit voller Sicherheit
erkennen lassen. Es war dieses ganze, sehr künstlich" (in der That!)
„erfundene Geflecht aus einem einzigen Metalldraht hergestellt, dessen
beide Enden, wenn das Ornament um einen Gegenstand herum gelegt
wurde, an einem Punkte zusammentraten, Av^elches aber durch seine
"Windungen alle Elemente des Ornaments aufzunehmen geeignet war."
Die Blüthenmotive denkt er sich dann aus Metallblech ausgeschnitten
und an den Draht angelöthet. Ich will nun gar nicht in Abrede stellen,
dass einmal ein ostmittelländischer Goldschmied in jenen Jahrhunderten
die Lotusblüthen und Palmetten etwa aus Metall getrieben und die
Schlingranken in Filigran darauf gelöthet haben mochte. Aber der
sonderbare technische Vorgang, Avie ihn Holwerda schildert, müsste erst
monumental erwiesen werden, und vollends die Entstehung eines be-
stimmten Ornamentmotivs aus solcher Wurzel wird selbst derjenige
1S4 B- Das Pfiauzenornament iu der gTiechisclieu Kunst.
kaum ernst nehmen können, der von der techniscli -materiellen Ent-
stehting der Urmotive im Allgemeinen vollständig ül)erzeugt ist.
Ich habe dieses Beispiel ans zahllosen anderen, wo der ]\Ietall-,
Textil-, Stein-Stil n. s. av. zur Erklärnng älterer griechischer Ornament-
tbrmen herhalten mitsste, deshalb gewählt, weil es besonders geeignet
ist zu zeigen, in Avelch abstruse Folgerungen sich Forscher, deren hohe
Verdienste um die Wissenschaft der klassischen Archäologie im Uebrigen
völlig unbestritten sein sollen, verlieren, sobald sie sich auf den gefähr-
lichen Weg der Spürsuche nach Techniken begeben. Es würde die
Grenzen dieses Buches in's Unabsehbare erweitern, wenn ich hinsieht-
Fig. 87.
ScLuürclienstickerei. Aus Ragusa.
lieh eines jeden Motivs, das hier zu Sprache gebracht wird, auf die
bereits von anderer Seite versuchten ,,technischen" Erklärungen Kück-
sicht nehmen würde. Nachdem ich mich aber nun einnuü hinsichtlich
des obigen Falles in eine eingehendere Enirtening eingelassen habe,
so sei es mir gestattet dabei noch etwas zu verweilen niid eine ,in(h'i-e
„technische" Parallele dazu vorzubringen, die sicli den Anhängern der
technisch-materiellen Ableitungstheorie, zu denen ich selbst allerdings
nicht zähle, vielleicht besser eiuiifehjen möchte als die \(iii Ilolwcfda
versuchte.
P^ig. 87 zeigt ein<'n Zwickel von <ler Weste <'iiie Kieiiil>ürgers aus
einer süddalmatinisehen Stadt. Der Stolf ist blaues Tuch, die Stickerei
ist in aufgelegten Gold- und Silhei-schniii-elien ausgeführt. Was dem
6. Das Raukengeschlinge. Ig5
Auge des Archäologen sofort in's Auge springen wird, ist das Orna-
ment, das sieh in der oberen Hälfte gegen das schmale Ende hinzieht.
Es ist nämlich das leibhaftige „gegenständige-' Palmetten-Lotus-Band:
selbst das Band, das sich undulirend dazwischen schlingt, erinnert an
Fig. 83. Die technische Ausführung, die diesem gestickten Ornament
zu Grunde liegt, ist in der That diejenige, die Holwerda seinen Schling-
drähten zu Grunde legt. Es handelt sich darum mit fortlaufendem
Faden ein bestimmtes Ornament auf die Fläche hin zu zeichnen. Der
geübte Sticker wird die Fäden so legen, dass er niemals hinsichtlich
der Verbindung mit dem benachbarten Ornament in Verlegenheit
kommt. Das in Fig. 87 vorliegende Stück zählt ausnahmsweise nicht
zu den gelungensten: die meisten unter diesen Schnürchenstickereien
von der Balkanhalbinsel sind nämlich vollendet in der Zeichnung und
meisterhaft in der Mache. Der Verbreitungsbezirk geht aber über die
Balkanhalbinsel hinaus und umfasst auch die griechischen Inseln und
zum Theil Kleinasien bis nach Syrien. Die Ornamente sind beschränkt
an Zahl und eigenartig: an denjenigen von der Balkanhalbinsel tritt
die specifische saracenische Tünche zurück und das Autochthon-Byzan-
tinische, oder sagen wir gleich, das Antike unverkennbar hervor. Ich
hege daher auch keinen Anstand in Fig. 87 einen Epigonen des archai-
schen gegenständigen Palmetten-Lotus-Bandes zu erblicken. Das ver-
breitetste Saumornament am Balkan ist daneben die fortlaufende Spirale,
die sich kreisförmig ein- und vom Mittelpunkte wieder ausrollt, völlig
nach mykenischer Weise (Fig. 59). Historisch betrachtet, kann das
Ornament am Balkan nicht überraschen; in der Schnürchenstickerei
hatte man besondere Veranlassung strenge daran festzuhalten, da be-
greiflichermaassen kaum ein anderes über die blosse Wellenlinie hinaus-
gehendes Muster sich für Saummuster aus aufgelegten Schnürchen so
vortrefflich eignete. Immerhin wäre das Eindringen des auch ander-
wärts in Gebrauch gebliebenen oder wieder gekommenen einfachen
Spiralmotivs von aussen her nicht undenkbar. Das Motiv von Fig. 87 ist
aber ein höchst eigenartiges, das in solcher Stilisirung und individuellem
Charakter seit archaischer Zeit niemals mehr in der internationalen Kunst,
auch nicht in der römischen zur Darstellung gebracht worden ist. Die
italienische Eenaissance, die ja auf dem Wege über Venedig die Balkan-
küsten nachweislich stark beeinflusst hat, kannte das Motiv nicht; auch
im Empire, das ja zuerst wieder archaisch-griechischen Formen Gefallen
abgewann, ist es nicht nachzuweisen. Xur in einer Volkskunst konnte es
sich durch die Jahrtausende so imverändert erhalten haben, und dies
Igß B. Das Pflanzeiiornament in der g-riccliisclicn Kunst.
ist in Epiros am allerwenigsten nnwalirsclieinlicli. Uel)rig'ens spielt
ja auch in den Silberinkrustationen in Holz, die z. B. in Bosnien bis
auf den heutigen Tag erzeugt -wenlen, die ausgemachte griechische
Palmette und die -strenge Eankent'ührung die Hauptrolle.
Was könnte sich daraus für unser altattisches Muster Fig. 8.'! er-
geben? Da haben wir ein nächstverwandtes Muster, ausgeführt zwar
nicht in einer ..Mctalltechnik". alter doch in einer ..textilen Technik".
"Während Holwerda"s Metalldraht- und Hlech-Lüthung völlig in der Luft
hängt, haben wii* hier einen monumentalen Beweis dafür, dass die lie-
treft'ende Technik das Schlingmuster mit „gegenständigen" Blüthen
Avenigstens in neueren Zeiten gebraucht hat. Wäre es etwas Ungeheuer-
liches, den alten Griechen die Schnürchenstickeroi zu vindicirenV Wie
sind denn die laufenden Hunde zu erklären, die an den Säumen der
gemalten Himatien und Chitons liinlaufen? Gewiss sind die Streumustcr
und Thieiiiguren etc. auf diesen (icAvändern gemäss den antik-eg\ j»-
tischen und taurischen Funden überwiegend als gewirkt anzunehmen :
warum soll aber der laufende Hund am Saum nicht in Schnürclicn-
stickerei ausgeführt gCAvesen sein, genau so Avie noch hente die Spiral-
säume albanesischer AVesten V Es Aväre Avenigstens ein lialbAvegs palpables
ZAvischenglied A'orhanden, das sich zwischen das fertige Ornament und
dif supponirte Technik einschieben Hesse.
Und doch Avürde ich auch einen solchen Schluss noch für viel zu ge-
Avagt halten, ja ich halte ihn geradezu für falsch und verfehlt. Audi dem
in Schnürchenstickerei ausgeführten l\luster liegt eine künstlerische Con-
ception des ausführenden Menschen zu (!runde. A^on selbst hat sich
die Linie nicht zu Schlingen zusammengeschoben. Gerade so Avie Avir
heute für jeden kunstgeAverblichen EntAvurf, in jedem Material, seilest
für die plastische Ausführung, eine Zeichnung schafl'en, uns in linearen
Unu'issen das Bild des fertig zu stellenden (iegenstandes vor Augen
führen, ebenso und niclit anders verfuhr der archaische Künstler.
Die (irundlage seiner schöpferischen Tliätigkeit nniss ebenfalls
eine zeichnerisclie gcAvesen sein: xdh diesem Gesichtspunkte beirachtel.
Avar es ihm aber gcAviss natürlicher das (lesclilinge aus den ihm bei-eits
• lurch die nationale Tradition oder durch erAvorbene fremde Gegenstände
bekainit und MTlraut geAVordenen K'anken mit dem i'insel .'lur Thon
zu malen oder mit dem Stift zu graviren, als aus J)i-ath zusanimenzn-
lOtheii oder aus Schnürchen auf eiiu-n (JeAvandstotT hinzulegen. AVenn
wii" dann schon durchaus \-oii einer 'i'e(dinik i'eden sollen, so wäre es
diejenige dei- Alalerei, (Nt Zei(duning mit <lem l'in^el. der K'itzung mit
G. Das Rauken2'CSchlino-e.
187
dem Griffel u. s. ^y. Aber weder Pinsel noch Grift'el scliaffen automatisch,
sondern werden geführt von der menschlichen Hand, und diese von
der künstlerischen Eing-elmng', die Anerworbenes und geistig Erschautes
zusammenbringt und daraus in unwiderstehlichem Drange ein Neues
gestaltet.
Man ist aber mit dem IMotiv von verschlungenen Rankenbändern
mit zwiekelfüllenden Blüthen über die fortlaufende Längsstreifenform
hinausgegangen und hat dasselbe dazu benutzt, um abgeschlossene
Compositionen daraus zu gestalten. Als Beispiel gebe ich in Fig. 88^''),
Fi^'. 88.
Sog. cbalkidische Vase.
eine sogen, chalkidische Vase, für welche Klasse das Motiv besonders
charakteristisch ist. Die Rankenbänder gehen hier von einem festen
Mittelpunkt aus, verschlingen sich unter theilweiser Anwendung von
Klammern, divergiren nach oben und unten; im oberen Streifen endigen
sie in sogen. Epheublätter, im unteren intermittiren sie in solchen
Blättern und laufen in einen Spiralkelch aus, auf dessen zwickel-
füllendem Palmettenfächer ein Vogel sitzt.
"Wir haben also in der That eine Yerschl ingung von regel-
ä^) Masner, Die Sammlung antiker Vasen und Terracotten im k. k. österr.
Museum No. 219, Taf. III.
188 B. Das Pflanzeuoruament in tlev griechischen Kunst.
massig- undulirenden Eaiikeu vor uns, in deren Zwiclvel füllende
Palmettentacher eingestellt sind. Die Verwandtschaft mit Fig. 83 springt
somit in die Augen ; der Unterschied liegt bloss darin, dass es in Fig. 83
galt eine struktiv einfassende, fortlaufende Bordüre zu schaffen, während
Fig. 88 eine selbständige Füllung darstellen sollte, die in sich abge-
schlossen werden musste. Im Epheublatt an den Intermittirungspunkten
drückt sich am deutlichsten die Brücke aus, die von Fig. 83 zu
Fig. 88 führt.
TVas die Bcurtlicilung dieses Motivs bisher über Gebühr beein-
flusst hat, sind die zu beiden Seiten desselben in symmetrischer Gegen-
überstellung angeordneten Thierfiguren. In Fig. 88 sehen Avir oben zAvei
afit'rontirte Löwen, unten Löwe und Pantlier adossirt, die erwähnten
Vögel aber wieder aftrontirt, durchweg mit unigewandten Köpfen, was
ein reiches Spiel des Rhythmus hervorbringt. Es ist das Schema des
„AVappenstils" , das wir vor uns haben. Was nun den vermeintlich
textilen Charakter desselben anbelangt, verweise ich auf das im 2. Ca-
pitel über diesen Gegenstand Gesagte. Ausserdem hat man al)er das
ganze Schema als aus dem Orient herübergebracht erklärt, im Gefolge
der berüchtigten persisch -orientalischen Textilkunst. Es ist lum ohne
"Weiteres zuzugeben, dass die Tliierfiguren entschieden orientalisches
Gepräge aufweisen: insbesondere die Thierspecies selbst, sowie das
Auflegen der Tatze auf die Palmette. Das Schema war aber auf grie-
chischem Kunstboden schon bekannt vor der Entstehung der chalki-
dischen und verwandten Vasen. Die melischen Vasen (Fig. 6ß) zeigen
es auf Hals und Bauch, und zwar ohne orientalische Bestien und mit
einem Spiralrankenmuster von dem auch HolAverda'™) zugicbt, dass es
nicht assyrisch ist. Lässt sich aber das Rankciigeschlinge auf Fig. 88
nicht mit orientalischen Vorltildcni in A'ci-liiiKlung setzen?
Man hat diesbezüglich ^lelirfachcs herangezogen. Einmal Assy-
risches, Avas schon der Thiertiguren halber näher liegt. Hier ist es der
„heilige Baum", in dem man den Ausgangspunkt erkennen AA-ollte. Der
heilige Baum trägt auch Palmetten an der J'ciiphdic iiiid seine Zweige
sind oft durch Klammern zusammengcliallen. Damit ist al)er die; Ana-
logie auch schon erscliöpft. Der heilig«; Baum entfaltet sich von unten
aus, eben Avie ein I>aum aus einer AN'nrzel; «las ehalkidisehe K'ankenge-
schlinge krystallisirt sich um einen eenir.ilen l'unkl. Der Jieilige Baum
ist ein ^fittelding ZAvischen Baum und Mühel, das ciiaikidische Kanken-
\ ;i. O. 23H.
6. Das Rankeng-eschling-e. 189
geschlinge hat nichts von lieiden, sondern ist eine nach rein dekorativen
Grundsätzen erfolgte Verschlingung von gefällig geschAvnngenen Linien.
Die assyrischen Palmetten sind überdies, wie wir gesehen hal3en, nicht
bloss anders im Detail gestaltet, sondern am heiligen Baum auch selb-
ständige Ansätze, etwa gleich Früchten, an Fig. 88 dagegen grössten-
theils offenbare Zwickelfüllungen. Noch weniger lässt sich der phöni-
kische Palmettenbaum in Parallele setzen, der eine Ineinanderschachte-
lung von Kelchen in der vertikalen Eichtung des Baumwuchses dar-
stellt, wogegen an Fig. 88 jede Betonung einer bestimmten Richtung
vermieden ist.
Eher Hessen sich Analogien für das C4eschlinge auf egyptischem
Boden finden. Es sind dies die bei Prisse d'Avennes abgebildeten Plafonds
(Fig. 27) ; das grundlegende Muster bilden schmale Bänder und Schnüre,
die sich zumeist spü'alig einrollen, aber auch vielfach verschlingen.
Daneben spielt das zwickelfüllende Lotusblumenornament die ent-
scheidende Rolle. Unmittelbare Parallelen zu dem chalkidischen
Muster sind zwar keinesAvegs nachzuweisen: die Möglichkeit will ich
übrigens nicht schlankweg bestreiten, dass diese egyptischen Plafond-
malereien im Allgemeinen auf die Schaffung des chalkidischen Musters
von Einfluss gewesen sein könnten*). Der Geist aber, in dem es
durchgeführt erscheint, ist griechisch, die Ranke ist griechisch, die
Blüthenmotive sind gräcisirt.
Das in Rede stehende Muster wurde bisher stets als chaJkidisch
bezeichnet; in der That hat es über diese Yasenklasse hinausgegriffen.
Fig. 88 bezeichnet nur den Typus; das Muster wurde aber vielfach
variirt. Ja man hat es sogar mittels Reihung zur Musterung von Bordüre-
streifen herangezogen, wie z. B. an dem „protokorinthischen"' Salbgefäss
Arch. Zeit. 1883 Taf. X. I, allerdings in weniger glücklicher Weise. Es
war eben eine lebhaft aufstrebende Zeit, die sich in den verschieden-
sten Combinationen versuchte.
Die geschichtliche Bedeutung des chalkidischen Ranken-
geschlinges beruht darin, dass hier die Ranke zum ersten Male
verwendet erscheint, um der Füllung einer neutralen Fläche
zum Grundmuster zu dienen. Im mykenischen Stil geschah dies bloss
mit der Spirale; die Ranken waren beschränkt auf Bordüre streifen.
Die Vorstufen des Gebrauches von Fig. 88 begegneten uns auf meli-
') Dies könnte auch von den durchgeschhing-enen Bändern in Fig*. 83
und 84 gelten, da dieselben nicht zum intermittirenden Grundschema gehören.
190 B- Das Pflanzenornamenr in dor u'riechisclK'u Kiiiis-t.
sehen Vasen-). 3Iit Kankenzwri<:-fii wurde .iul'Ii schon Aehnlielu's
versucht: im Khodisehen (Fig. 70), im Böotisehen (^Fig-. 81). Die vor-
geschrittenste unter den bisher boobaehtcten Lrisungen war die elial-
kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere
Entwicklung angeknüpft.
Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein-
nehmen sehen . konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken-
geschlinge als Füllung luitte, wie wir gesehen haben, seinen eigent-
lichen Platz als 31ittel zAvischen Hankirenden Thierfriesen. In dem
Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von
figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten
die Thierfriese zurücdv und wurde aueli das K'aid-ceiigeschlinge über-
flüssig. Aber eine Stelle gab es iloch an der Vase, wohin die figür-
lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament
Zuflucht flnden konnte. Es ist dies die (iegend um und unter dem
Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Kanken-
ornament wenigstens an den Vasen — leider unserem einzigen Unter-
suchungsmaterial — weiter entAvickelt, und zwar, wie wir sehen werden,
unter deutlicher Anknüpfung an das centrale K*ankengeschlinge, ab(U'
unter zunelimender Verfeinerung der K'anken und Emanicipirung dei-
Blüthen, die aus blossen Z^vickelfüllungen zu sell)ständigen Oelulden
"werden.
Bei den kleinen symmetriseh(m Rankenornamenten, die hiiutig
anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der
Mitte zwischen den aff'rontirten Thieren bewerkstelligen -'j und die
sämratlich auf das symmetrische Zusannnentreten zweier kurzer ge-
scliwungener Ranken, nn't ZAvickellullung durch Lotus oder Palmette
/'auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie
entwicklungsgeschichtlich kaum lir)her zu stellen sind als etwa die
rhodische Füllranke Fig. 70.
Bevor Avir uns aber zur Betrachtung des l'rocesses wenden, der
zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geonu'lrisclien Spiral-
bandcharakier ^^cfiilnM hat. wodurch sie erst liefüliigi wurde, lielieliige
Flächen in nnlM'engtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem
Schwünge zu ül)ei-zieli(;ii. AvolJen wir vorerst die Entwicklung Ix'trachlen,
die dieselbe in dem gehundeiien Sireifeii<(dienia der fiirtlaureiiden
Bordüre genommen hat.
'■') Fig. 06, vgl. das eben vorhin dariih(M" Gesagte,
■•j Z. B. Brunn-Lau VIII. (J.
7. Die Ausbildims' der Ranken-Bordüre.
191
7. Die AusbilduDg der Rankeu-Bordüre (des Ranken -Frieses).
Die älteste, seit der egyptiselien Tliutmessidenzeit nachweisbare
Art der Verbindung von vegetabilisclien Ziermotiven — der Bogen-
fries — ist auch in der griechischen Kunst fortdauernd in Gebraucli
geblieben. Es ist sozusagen eine der ewigen Formen, zu denen die
dekorative Kunst immer Avieder wird zimlckkehren müssen. Fig. 89
zeigt eine sogen, kyrenische Schale, in deren Mitte von Henkel zu Henkel
sich ein Bogenfries zieht. Die nach egyptischer Weise alternirenden
Einzelmotive sind birnförmige Blüthen mit dreispaltiger Krone, und
einfache Knospen. Das Schema erinnert in seiner Gesamniterscheinung
Fig. 89.
Kvrenische .Schale.
an die egyptischen (und überhaupt altorientalisehen) Beispiele; im
Einzelnen sind aber mehrfache Abweichungen erkenntlich. Die dicken
Stengel der altorientalischen Vorbilder (Fig. -2'}, 3.3j, die sich auch noch
auf rhodischen Vasen (Fig. 73) finden, haben feinen elastisch geschwun-
genen Rankenlinien Platz gemacht, was wir wohl unbedenklich auf
Rechnung griechischen Dekorationsgeistes setzen dürfen. Die Heftel
kannten zwar auch schon die Vorbilder, und die raumfüllenden Punkte
in den Bogenfeldern sind nur analog den an gleicher Stelle und zu
gleichem Zw^ecke verwendeten Rosetten in der egyptischen Kunst
(Fig. 22, in welcher Reproduktion aber die Rosetten und anderes Füllsel
der Deutlichkeit des Grundschemas zuliebe weggelassen wurde) auf-
zufassen. Wesentliche Veränderungen bemerken wii* aber auch an den
vegetabilischen Einzelformen, insbesondere an den Blüthen.
192 ^- Das Pflanzenovnameut in der griechischen Kmist.
Es ist hier der Phitz. niu über die Fort1)i Idimii' der altorien-
t^lllschen, g'enaner gesagt, der egyptischeu Blüthenuiot i ve in
der griechischen Kunst iiherh;uipt einige Worte einzuschalten. An
der Knospe Avar allerdings nicht viel zu iiiulern: die Palmette erfordert,
als eine ganz specielle Projeetionstbrm. eine gesonderte Betrachtung,
die sie weiter unten an geeigneter Stelle finden wird. Hier soll niu*
von dem Motiv der Lotusblüthe selbst die Rede sein. Wenn man
nicht annehmen will, dass alle kunstübenden Mittelmeervülkcr im
Alterthum spontan das dreiblättrige Profil zur Darstellung von Blüthen
in der Seitenansicht erfunden und gewählt haben, so muss man noth-
gedrungenermaassen alle diese Formen — direkt oder indirekt — auf
egyptischen Ursprung zurückführen, da, wie wir gesehen lial>en, die
Egypter, soAveit die Denkmäler zurückreichen, weitaus die Ersten ge-
wesen sind, die den dreil)lättrigen Kelch (mit eingeschalteter viel-
blättriger Krone) für das Lotusprofil geschaffen und verwendet haben.
Inwiefern nun die Mittelmeervölker, die das Motiv der dreiblätt-
rigen Profilblüthe übernahmen, sich dabei auch der Bedeutung des
Lotus bewusst gewesen sind und dieselbe mit ihren Imitationen des
^Motivs verknüpft haben, ist heute nicht mehr zu entscheiden. Von
den Griechen etAva des 6. Jahrhunderts aber wird man es bestimmt
verneinen können: ihnen war die Lotusblüthe gewiss kein hieratisches
Symbol, sondeni rin l)Iosses Dekorativ, da wir in crstcrcni Falle dut'li
gewiss irgendwelche schriftliche Anhaltspunkte dafür erhalten hätten.
Die Stilisirung der Lotusblüthen konnte somit zu dieser Zeit wohl
nur mehr unter künstlerischen Gesichtspunkten erfolgen. Solcher
künstlerischer Gesichtspunkte sind in der Tliat viele denkbar, und
nachdem einmal die Tradition durchbrochen Avar, man vor einer Modi-
tikation der überlieferten Form nicht mehr zurückscheute, war für die
Neubildungen eigentlich gar keine Grenze mehr gegeben. Wir müssen
uns vielmehr Avundern, dass die Griechen lui iln'en rnil>ihliing<'n
Avenigstens zunächst noch so viel Maass bewahrt haben.
Eine dieser Umbildungen liegt vor in den Blüthen des iiogen-
frieses A^on Fig. 8!t. Die (h-eispältige Bliithe ist unverl<ennbar uml
darin beruht eigentlich in der Hauptsache die VerAA'andtschal't mit dem
egyptihcheii Lotnspi'ofil. Der kyrenische Lotus ist nacli oben stark
eingezogen; dies kninint zwar auch an egyj)tisclien Peispielen vor
(Fig. Z~), aber diese letzteren laden dann doch oben wieder in eine
au.sgesprocliene Kelchform aus, Avälirend die kyrenische Hlüthe sich
birnförmig zu einem engen Halse schliesst und dann erst die krönen-
7. Die Ausbildung- der Ranken-Bordüre. 193
den drei Blätter strahlenförmig entsendet. Halten Avii- nun damit Lotus-
blüthen zusammen wie in Fig. 83, 85. Man möchte auf den ersten
Blick kaum geneigt sein, darin das gleiche Grundmotiv zu erkennen,
wie in Fig. 89. Und doch liegt dasselbe auch den Figg. So und 8.") zu
Grunde. Das mittlere von den drei Blättern ist eben an den letzteren
nicht deutlich als Kelchblatt hervorgehoben, sondern mit den die Krone
bildenden Blättern vereinigt; die ausladenden seitlichen Kelchblätter
stehen Aviederum dem egyptischen Typus ganz besonders nahe.
Die untere Partie ist ferner ebenfalls beiderseits ganz verschieden
gebildet: an Fig. 89 in tropfenförmiger Rundung, an Fig. 83 und 85
doppelbogig ausgeschnitten. Letzterer Umstand hängt aber mit dem
Voluten- (oder Schlingen-jKelch zusammen, auf welchen die Blüthe
gestellt ist, Avährend an Fig. 8!» kein Kelch vorkommt. Der Yoluten-
kelch ist nun keine nothwendige Beigabe der Lotusblütlie: Avir treffen
ihn erst verschämt an assyrischen Beispielen (Fig. 34), namentlich aber
an griechischen, infolge der Verquickung mit der Spiralrankenoriia-
mentik. Wo das griechische Lotusprofil, auf einen Kelch aufgesetzt,
vorkommt, dort ist dasselbe auch in seinem unteren Theile ent-
sprechend gestaltet^ i; wo der Kelch hinwegfällt, ist auch der untere
Theil der Blüthe rund, ja mitunter sogar in ,convexen Doppelbogen
ausladend (Fig. 104—106).
EntAvicklungsgeschichtlich hängen alle diese vielgestaltigen
Variationen des Profillotus auf's Engste unter einander zusammen.
Damit soll nicht gerade gesagt sein, dass sich die Griechen nicht ganz
konkrete Species von Blumen darunter gedacht haben: doch wird die
Entscheidung hierüber heute gerade so schwierig, wo nicht unmöglich
sein, wie hinsichtlich der neueren persischen Dekorationstiora. Wenn
also Dümmler in einer Variante der dreispaltigen Blüthe'') eine Eose
erblicken will, so mag er vielleicht Recht haben: viel zweifelloser
dürfte aber das Recht des Kunsthistorikers sein, die betreffende Blüthe
als Lotus in Seitenansicht zu bezeichnen, womit zwar nicht die Bedeutung
des Motivs bei den darstellenden Griechen, wohl aber seine kunstgeschicht-
liche Stellung mit grösster Wahrscheinlichkeit zum richtigen Ausdrucke
gebracht erscheint.
Nach dieser allgemeinen Bemerkung über die freie Behandlung-
der Lotusblüthe in der orriecliischen Kunst kehren v^iv zur Betrachtuno-
•*) Z. B. an den attischen Simen, Ant. Denkm. 1. Taf. 50. — Vgl. uns. Fig. 98.
^) Römische Mitth. 1888. Taf. VI. S. 161.
Riegl, Stilfragen. 1"
194
B. Das Pflanzenornaiiu'ut in der uriochischeii Kunst.
der vegetabilischen Bordüventbrmen zurück und verweilen noch bei
der ersten, bisher g'enannten: beim Bogenfries. Eine leliendigere Varin-
tion desselben, die auch die assyrische Kunst (S. 97), dann die kypri-
sche (^S. löOi kannte, wurde erzielt, sobald man ZAvei Bogenfriese
einander überschneiden Hess. Eine Beigabe in s}tecitisch griechischem
Geiste waren ferner die Bogenlinien. die man — namentlich an blossen
Fi-. 90. FiK. i'l-
Gemalte griecliisehe Vasüiiornaineuto.
Knosiienfriesen (Fig. DO)'') — von Spitze zu Spitze lauten licss, so dass
sie der entgegen gesetzten Bogenreihe des Frieses die Wage hielten und
die einseitige K'ielituiig (Icssclbcn ;inf]iol)cii.
Ein zweite Art vnn st i-cifeu förmiger Verbindung vegetal)ilisclier
.Alotive geht aus vom Fleelnl)an(l (Fig. 91)"). Das Schema tritt uns
fV-rtig schon an den Sarkopliagcn von Klazomenä cntgt-gcn (,Fig. 92)^);
Fig. ;»2.
Von einem klazonienischen Sarkoi)hag.
i)i ii't/.ti-rcui i-'alli- ist aber (his Mcclitli.iiid die li.iupts.iclic, dir r,il
niettenfächer lilosse accessorische Zwickell'iilluiigen. In I'"ig. IM ist (bis
Flcchtband auf ein sehr Tlcringes zusammen g('scln"nin|iri : dif iiiiiilicn-
•') Es ist aber auch inii^i-iicli, dass die l'ün/cleleniente als l'.lütlicn gc-
daclit sind, deren scitliclic Krfinonl)lättcr nnniittf'n)ar in die v('rl)infli'nd('n
I»ogen übergehen-
'; Dieses P»eisiiiel ist ancli lelnrcich liir div N'arürung des Lolusia-olils.
'j Ant. Denkni. I. Taf. 1.".
7. Die Ausbildung- der Ranken-Bordüre. |95
motive sind die Hauptsache geworden und sollen nicht mehr Zwickel-
füllungen sein, was sich schon darin deutlich ausspricht, dass nicht
jeder äussere Z^vickel des Flechtbandes, sondern nur jeder zweite
durch eine Blüthe gefüllt erscheint. Das Aufsetzen eines Lotus oder
eines Palmettenfächers auf zwei Schlingen, anstatt auf einen Voluten-
kelch war ja auch sonst gebräuchlich, Avofür bloss auf die Fig. 83, 84
zurück gewiesen zu Averden braucht.
Fig. 93.
Gemaltes griechisches Vaseuornament.
Ein drittes JMedium zu friesartiger Aufreihung vegetal)iliscliei'
Einzelmotive bildete die einfache gerade Linie: also der Blätter ziveif].
In älterer Zeit Avaren es gewöhnlich ,,Epheublätter", späterhin, in der
naturalisirenden Periode, Lorbeerblätter, womit man den Zweig be-
setzte. Specifisch griechisch ist die häutig vorkommende Schwingung
der Blattstengel (Fig. 93).
Die vierte Art bildet die Wellenranke,, und zwar in der
schwarztigurigen Zeit vornehmlich die intermittirende Wellenranke.
Fig. y4. • Fig. 95.
Verzierungen einer etruslcischen Elfenbeinsitula aus Chiusi.
Die Kelche an den Intermissionsstellen fallen häutig hinweg, so dass
die ^lotive genau so unvermittelt an die Rankenstengel ansetzen wie zu
Mykenä (Fig. 52). Einer Verkümmerung der Blüthenformen (Fig. 94)-')
begegnen wir an der bekannten Elfenbeinsitula aus Chiusi: dass in
diesem Falle thatsächlich das intermittirende Schema zu Grunde liegt,
beweist Fig. 95, wo die zur Intermission verwendeten Blüthen deutlich
mit dem dreispaltigen Prolil charakterisirt erscheinen. Das Stück ist
übrigens so merkwürdig, dass es von ornamentgeschichtlicliem Stand-
punkt eine besondere Besprechung verdiente.
3j Mon. ined. X. 39 a.
13^
196
B. Das Prtanzononiament in der aTiechischen Kunst.
Ich seliliesse daran sofort eine Skizze der Fortentwicklung*
der Bluraenrankenfriese in der rotlii'igurigcn Zeit. söAveit
daran uiclit schon eine ausgesproclien naturalisirende Tendenz zu
Tage tritt. Diese Tendenz wird am nachdrückliclisten markirt durcii
das Aufkommen des Akanthus, das wir etAva um 430 — 450 w Clu-. an-
setzen können. Doch haben sich die strengeren stilisirten Formen
noch viel länger gehalten, insbesondere in den besäumenden l^ordürcn,
Fig. 96.
Gemaltes i^riechisches Vasonoinamonf.
deren knappe Enge einer freieren Beliamllung von vornherein nicht
günstig war.
An den rutlitigurigen Vasen, für deren Beurtlieiinng wir allo--
dings fast ausschliesslich auf das attische Troduktionsgebiet angewiesen
sind, begegnen Avir einer zunehmend spielenden Beliandlung, nicht
bloss der ül)erkommenen Motive, sondei-n aueli ihrer Verltindungen.
Dabei sind die Tyi)en selbst eigentlieii ;iuf wenige Ix'sclu'änkt. Die
fortlaufende AVellenranke kommt A\ie(hT in umfassenderen (4el»raueli:
Fig. 97.
Gemaltes griechisches Vascinirnamcnt.
ihre AN'iiiduiigen sind liöchst elegant, die angesetzten r.i]iiieii<ii folgen
densellte-n in einer sclirägen Projektion (Fig. HC»), die nni- durch JeA\ci-
lige entsprechende Anpassung der Eiuzelbhitter eiv.ielt Axerihii kann.
Dieselbe auf lehendigere Bewegung gericliiete 'l'cndeiiz ausser) sich
an der intcnnittirenden AVellenranke (Fig. It?) : die Palmetten sind
nicJit starr und steif nach (jben und unten gekehrt, scnkreciit zur UMeh-
tung des Frieses, wie seit dem melischen Beispiele Fig. 53 allezeit, soli-
dem scljräg wie sclmn in .Mykenii (Fig. 52).
8. Die Ausbildimo" der Eankon-Fülluns-.
197
Daneben kommen komplieirtere Formen vor, die aber sämmtlieli
aus spielenden Kombinationen der überlieferten Formen erklärt werden
können'^). So g'eht z. B. Fig. 98 auf das einseitige Lotus -Palmetteu-
Band zurück, unter spielender Vereinigung- des Bogenfrieses mit den
Schllngenkelchen und der Palmetten-Umschreibung.
Fig. 98.
Gemaltes trriechisches Vasenornameut.
8. Die Ausbildung der Eanken-Füllung.
Solange die Pflanzenranke sieh bloss in der Längenrichtung, in
Streifen- oder Friesform, entwickeln konnte, blieb ihr die volle Freiheit
der Bewegung versagt. Diese Avurde ihr erst dort gegeben, wo sie
sich nicht bloss nach der Länge, sondern auch nach der Breite ent-
falten konnte. An den Thongefässen, die hiefür leider so ziemlich
unser einziges Untersuchungsmaterial bilden, ist dies — wie schon
früher erwähnt wurd*- — im Wesentlichen bloss an und unter den
Henkeln geschehen. Immerhin lässt sich daran mit genügender Deut-
lichkeit der Weg verfolgen, welchen die Pflanzenranke genommen hat,
um beliebig begi-enzte Flächen mit vollkommener Freiheit und dennoch
unter Beobachtung der dekorativen Grundgesetze von Rhytlimus und
Symmetrie zu überziehen. Damit ist zugleich gesagt, dass wir dem
End- und Zielpunkte der ganzen Entwicklung zueilen.
Bevor war aber auf den Schlussprocess selbst eingehen, muss noch
einer eigenthümlichen Dekorationsweise gedacht werden, welche an-
scheinend mit dem vorgeschrittenen Stadium der Entwicklung, dem
wir uns nun nähern, wenig zu thun hat. Es ist dies die Art
der Grundmusterung auf den korinthischen Vasen. Diese Vasen sind
gTösstentheils mit figürlichen Darstellungen verziert. Zwischen den
Figuren bleibt viel Grund frei und da diese Vasengattung der Zeit
'") Es ist dies wenig-er in der attischen Kunst als in der italischen g-e-
schehen, vgl. z. B. die pränestinischen Cisten, Mon. iucd. VIII. Tat'. 7, 29, 30.
198 ^- Das PHaiiy-ononiament in der g-riecliischen Kunst.
inul Technik nach ziemlich arc-haischcn Charakters ist, so kcinn es uns
nicht überrascheu, zur Ausfüllung" des Grundes Streumuster verwendet
zu sehen, Avie sie der Dipyloustil in die Kunst auf griechischem Bod(Ui
gebracht hat, und in der Folg'c auch der melische, rhodische, frühattische
u. s. w. Stil besessen haben. Man wird inlblg'e dessen mit vollem Kin-ht
fragen dürfen, aus welcher \'eranlassung der korinthische Dekorations-
stil nicht in einem früheren Kapitel behandi-lt worden ist? Die Säumniss
war aber eine absichtliche und ist aus dem (irunde erfolgt, weil das
korinthische Streumuster in überaus lehrreicher und interessanter "Weise
die Tendenz zeigt, den Weg- zu einem zusammenhängenden Fli'u-hen-
muster zu linden.
Das Element des korinthischen Streumnsters ist die Rosette,
ebenso wie an assyrischen Kunstwerken"). Möglicherweise ist atich
eine Beeinflussung vom Oriente her dahinter zu vermuthen. "Wa.s aber
gcAviss nicht orientalisch ist, das ist die eigentliümliche \'(.'rwendiing,
die der korinthische Stil mit der Rosette vorgenonmien hat. Die
Rosetten sind da nämlich nicht bloss gemäss dem jeweilig auszufüllenden
Räume gi'össer oder kleiner gebildet — das ist in gewissem IMaasse
auch an den assyrischen Denkmälern der Fall — somlern ihre Kon-
turen schmiegen sich auch vielfach den Umrissen der menschlichen
Figuren, (Jeräthe u. s. w. an, denen sie unmittelbar benachbart sind.
Bei fortgesetzter Vervojlkummnung dieses Processes konnte es schliesslich
nicht ausbleiben, dass der Habitus einer Rosette an den Fidlmotiven
vollständig verloren ging und ganz eigenartig verzogene Kontigura-
tionen entstanden, dii- wir vergebens versuchen würden in dem vor-
handenen (inuimentalen l-'(irnienschatze uniei'/ultriiigeii. Es ist dies
aber auch gar nicht nothig, weil die Ornamente ihre Gestalt sozusagen
von den tigüriichen Darstellungen, zwischen denen sie eingespannt sind,
erhalten haben'-).
.Man nehme als Beispiel die Schale mit dem Reigentanz Fig. '.>'.>.
Das Streumuster erscheint hier auf die eben lieschi'iebene Weise dazu
venvendet, um eine beliebige gegebene l'Mäclie. nuter \'ei'nieidnug
fh'i- im I)i]iylon üblicli gewesemn langweiligen geonieirix'hcn Liiiieii-
f-.mbiuationen , möglichst vollständig auszufüllen. Darin liegt der Be-
nilirnng>i>nukt mit dei- Aufgabe, welche dem Raid<enornanH'Ute gestellt
wai- und «leren Lösung wir im Begritte stehen xu verf<ilg<n. Ilin/.ii-
"j Z. B. Lavar«! 1. l.il. IM.
'*) Masner, die Saunniung antiker Vasen und Trnacitteii im k. k. iistcrr.
Museum, S. 9, Fig. <^l; hicuacli unsere Fii,^ J>9.
8. Die Ausbildung' der lianlcen-Füllun";.
199
j2:efügt darf noch werden , dass die korinthische Vasengattung eine
derjenigen ist, auf denen sich am allerfrühesten eine entschiedene
Neigung kundgieht, überwiegend figürlichen, gegenständlichen Schmuck
anzubringen. In diesem Lichte begreift sich auch, warum die korinthi-
schen Vasenmaler nicht bei der Rosette als blossem Streumuster nach
assyrischer Weise stehen geblieben sind'^).
Nun Avenden wir uns dem Pflanzenrankcnornament selbst zu und
untersuchen, in welcher Weise dasselbe in der Umgebung der Vasen-
henkel sich entfaltet hat.
Auf die Verwendung der Ranke unterliall» des Henkels kann die
Stilisirung der Henkelattaclie in Form <'incr Palnictte von E^inÜuss
Fig. ay.
Korinthische Sfliale.
gewesen sein: aber diesen Einfluss als so sicher liinzustellcn Avie es
gewöhnlich zu geschehen pflegt, halte ich nicht für gerechtfertigt.
Zweifellos liegt der Palmette, avo sie als Henkelattache vorkommt, die
gleiche Empfindung, das gleiche Postulat zu Grunde, Avie den unter-
schiedlichen lotusmässig stilisirten Angriffspunkten an egyptischen
(S. 65) und assyrischen (S. 99 Amn. 62) Geräthen u. s. av. Sie findet sich
auch frühzeitig auf griechischen Vasen (aber nicht auf der mykenischen
Kriegervase) in der Gegend der Henkel aufgemalt, aber seltsamermaassen
nicht als Umfassung, Markirung des Ansatzpunktes der Henkel, sondern in
'^) Eine ähnliche Tendenz nach Ausfüllung des Grundes ZAvischen den
Ornament-Ranken befolgten die attischen Vasenmaler vom Ende des 5. Jahrb.:
die Stelle der Rosette vertrat hier aber die tropfenförmige ZAvickelfüllung,
die dann oft nach Bedarf kleksartig verbreitert erscheint.
'JQO B. Das Pflaiizeiiovnamont in der g-riechischen Kunst.
dt-r Mitte z-*\-iseh('n bt'idcn Ansatzpunkten: so aufBöhlnirs ..trüliattisclicr"
Vaso. Arch. Jahrb. 1887, Taf. 4. Allerding-s fehlt es aus scliAvarzfigurio-er
( und rothtiiatrig'«'!' I Zeit auch nicht an Beispielen, avo die Pahnett(> tliat-
sächlich als ornanicntalc Verklcidunii' der Ansatzpunkte des Henkels
iirltt-n darf'*). An der ..kyn-nischen"' Schah» Fig-. 8'.) sind die Pal-
nn-tten von den Henkeln horizontal seitwärts g-erichtet. Sei dem aber
wie immer: das Entscheidende für uns ist, dass man bei der isolirten
Palmette nicht stehen grebliel^en ist, sondern die l'flanzeni'auke dazu in
^'erwendung- g:ezog'en hat.
Hierfür Avar bereits ein geeignetes ]Motiv vorgeVüldet. das nicht in
gestreckter Längenrichtung zu verlaufen brauchte, sondern in centralem
Sinne für sich abgeschlossen werden konnte. Es Avar dies das Ranken-
geschlinge, das wir auf S. 187 f. an der Hand des ehalkidischen Beispiels
rig. 100.
Ilenkcl-Ornainent von einer korinthischen Schale.
Fig. 88 diskutirt Jiaben. I'iid in der That hat dieses !\Ioti^• in seiner
♦'Trundconiposition den Ausgangspunkt Avenigstens für (Mne, allerdings
sehr verbreitete und maassgebende Art der Rankenverzierung gebildet,
wie sie sich unter und über den Vasenhenkeln in schwarzfiguriger Zeit
entfaltet und in rothfiguriger Zeit die freieste Ausbildung erlangt hat.
Fig. 100 ist entlehnt von einer korinthischen Schale im (^esterrei-
chischen Museum CKat. No. 107). Das Rankengesehliugc ist hiei- unter
dem Heid<el auf eine sein- einfache Form reducirt. Es ist eine l\aid<e
mit ..gegenständigem" Lotus und Palmette, der Lotus durchzogen vnn
einem zweiten l^ankenbande, das sich mit dem ersten verschlingt; die
Enflen der Ranken sind spiralig eingerollt.
ScliAvarzfigurig ist auch No. 227 im Oesterr. Museum, wovon Fig. l(i]
entleinit ist. Deutlieh tritt noch die centrale Anordnung her\ or, streng
nach symmetrischer \eitlieilung, xüllig im leiste des ehalkidischen
") Die Sammlung antiker V^asen etc. im k. k. iistcrr. Museum Xo. -JIT,
Taf. II an <li n llori/fintallicnUeln anstatt der l'alnicttcn IJosotten.
8. Die Ausbilduno- der Ranken-Fülh\n2,-,
201
Fig. 101.
Henkel-Ornament von einer
griechischen Amphora.
Fig. 102.
Henkel-Ornament von einer Amphora.
Fig. 103.
Henkel-Ornament von einer Amphora.
202
B. Das PHan/.eiiornanKMit in der üTiochischeu Kunst.
Rankeiigeschlinges Fig. 88, aber unter weit feinerer und eleganterer
Behandlung der Details, sowohl tler subtil gezeichneten Blütlien. als
der langen dünnen Kanken.
Fig. 10-2 staniuit von einer Vase'-'), an welcher seliwar/.liguriger
(am Halse) und rothtiguriger (am Bauche) Stil sieh vermengen. Das
Geschlinge trägt noch deutlich den Typus von Fig. 100 zur Schau.
Dagegen tritt uns mit dem noch von einer spät-schAvarzhgurigen
Vase (der Nikosthenes- Gruppe)"^) stannnendeh Beispiel Fig. 103. ein
wesentlich Neues entgegen. Der centrale Bezug ist unti'rdriiekt. die
Fig. 104.
nenkel-Ornamcnt von einem Sfauinos.
Symmetrie keineswegs i)einlich beobachtet. Eine einzige Ranke ist es,
die hin und herläuft und .jedesmal drei KinrollungcMi aufweist: (hnon
zweigen zwei Spiralrankcii nnd drei Lotusblüthen ali, diese letztei-en
an reich geschwungenen Stengeln. AVo zwischen den lieiden ;iussei-ste)i
Kinrollnngen links etwas melir fii'iiiid frei l)lieli. crsrlicini ein llicuiiidci-
Vog(d eingesetzt.
Das ist viel des Neuen ;inf fiiim.'d und \ri-dieiit näher betr,ieliii't
zn wei'den. Das Autlalligste ist das Ileraussitri ngen ;ius derSyni-
'^) Masner, Sarimihm;,'- ant. Vasen etc. im österr. .Mus. Nn. 319, (Dikc ini<i
Aflikia).
••■; K)).-nfla No. 2:51.
8. Die Ausbilduiio- der Ranken-Fülluno-.
20^
metrie. Dies bat man sicherlich — niclit liloss zu Xikostliciies' Zeit,
sondern auch später — als Durchbrechung- der künstlerischen Schranken
angesehen, denn eine Nachfolge in so entschiedener Richtung lässt sich
selbst in vorgeschrittener rothfiguriger Zeit nur vereinzelt beobachten.
Aber bezeichnend ist der Versuch immerhin für die Tendenz, die zu Jener
Zeit geherrscht hat, — die Tendenz, die ererliten Fesseln zu sprengen,
das Rankenornament frei zu entfalten. Nur
ist der Vasenmaler von Fig. 103 darin für
seine Zeit entschieden zu weit gegangen.
Das Resultat, wie es in Fig. 103 vor-
liegt, ist auch kein sonderlich l)efriedigen-
des. Besser haben die Aufga1)e die roth-
ligurigen Vasenmaler gelöst, die den Ran-
kenzweig kranzartig um den Henkel her-
umgelegt haben (Fig. 104) '"). Selbst die
sogen, nolanischen Vasen mit den einzelnen
Zweigen unter jedem Henkel nehmen mehr
Rücksicht auf die Symmetrie. In einem
Falle '^) fassen die beiden Zweige — je einer
unter jedem Henkel — das Vasenbild in
der Mitte ein, so dass im Allgemeinen eine
Symmetrie wenigstens zwischen den beiden
Zweigen unter einander herrscht. In einem
a)ideren Falle (Fig. 105)'-') spaltet sich der
Zweig oben in zwei Ranken, die wiederum
den zwischen ihnen liegenden Henkel sym-
metrisch flankiren. Im Uebrigen stehen
diese nolanischen Vasen in der Tliat in
ihrer asymmetrischen Erscheinung dem
Schema von Fig. 103 sehr nahe , bilden
zusammen mit diesem und mit den min-
der seltenen Beispielen gleich Fig. 104 eine Ausnalnne, und lassen
sich ebenfalls als eine — vom Standpunkte griechischer Kunstempfin-
dung — zu weitgehende Befreiung von den Fesseln der dekorativen
Komposition erklären. Dass uns übrigens Fig. 103 an einer Vase aus
LJiiMPJ^^
Fig. 105.
][enkel-Orn;unent von einer
nolaiiischeu Vase.
") Masner, Die Sammlung- antiker Vasen etc. im österr. Mus. No. 339.
'«) Brunn-Lau XXV. 2, 2a.
'9) Ebenda No. 3.
204
B. Das Priauzonornament in der a-viochischon Knust.
drill Kreise des Xikostlii-ncs cntgvg-cntritt. kann lii-radc hei diesem nielir
AVnnder iielimen, wo wir ja gewohnt sind, mitunter den seltsamsten
Kumbinatioiieii von Motiven zu begegiKm. Kleinere, minder anflfällige
Durchbrechungen der strengen Symmetrie im Henkel-Eankenornament
sind aber in rothfiguriger Zeit sehr häutig gewesen (z. B. Fig. lOG) '-'").
Der an Fig. 93 beobachtete Yersucli lag also sozusagen in der T.nft:
in der outrirten Fassung, die ihm der Xikosthenes-Kreis gegebin. reizte
er nicht zur Xaeliahmung, aber in maassvollerer Anwendung wurde er
offenbar als jiikant und gefallsam empiunden.
]'lg. lOG.
IleakelOrnainent vnn eiuer :ittisclien \'ase.
P^ntsprach schon das gelegentliche Verlassen der streng synnne-
ti-iselien Anordnung einer Forderung der Zeit, so Avar dies nueli uniso-
melir (lr|- I-\-d] liinsichtlieli der überwundenen eentrabn Anoril-
nung. Das Oi-nament ent\viej-;e|i sieh \oii iinn au zwar \nii einem be-
stimmten Pnnkte .-ins, (h r ahiT keinesAVegs den I\litti'liinid<t zn liildeii
l.r.inrhi. /n dem alles reliri^c in konceiitrisclier Bt'ziehnng steht. Die
■"/ Im kaiserl. Münz- und Antikeii-Cabinct in Wien, bn.-No. GOS. Die
Blütlie, Avelche unten die S.vmnietrie dui-eliluicht , ist auch benierkensworth
we;^en der Vcrbindun;^' fies l-ntusinetils mit dem gescidossenen rahnetten-
taclier, die uns daran entgegciitiitt : also ein cgyiitischer l'lconnsiniis. alier
unter g-nechischer Foringebun;r.
8. Die Ausbildung der Ranken-Füllung-. 205
Rankeil entfalten sich vielmehr symmetriscti rechts und links von dem
erwähnten Punkte in freier Weise , auf- oder absteigend, wie es eben
der zur Verfügung* stehende, mit Ornamenten auszufüllende Raum er-
heischte. Fig. 106 bietet ein Beispiel hiefür; die strenge Symmetrie
erscheint gleich in diesem Falle unten kapriciöser Weise durchbrochen
durch eine abzweigende Blüthe-'}.
Das dritte Neue, das uns an Fig. 103 üljerraschend entgegentritt,
ist der eingestreute fliegende Vogel. Die Thierwelt war zwar der
archaischen Dekoration keineswegs fremd , weder Vierfüssler noch
Vögel. Aber die spielende Einstreuung eines Vogels in das Rankeii-
gezweig Avar ein neuer überaus fruchtbarer Gedanke, der bekanntlieh
in der Folgezeit in der dekorativen Kunst die grösste Verlireitung ge-
funden hat. Völlig neu kann man gieicliAvolil die Verbindung des vege-
tabilischen Ornaments mit Thierfiguren in der Zeit des Nikosthcnes auch
nicht nennen. Es findet sich schon in der archaischen Zeit: auf me-
lischen^^)^ früliattischen-^) und chalkidischen'^*) Vasen. In beiden
letzteren Fällen tritt es aber in dem steifen „orientalischen" Schema
der absolut symmetrischen Gegenüberstellung (Wappenstil) auf; auf der
melischen Vase steht der Vogel auf der Zwickelfüllung eines einzelnen
Rankenzweigs. Gefällig und wahrhaft fruchtbar wurde die Vereinigung
erst, sobald die Thierfiguren in eine grössere Komposition des Ranken-
ornaments eingesetzt wurden. Vielleicht eines der frühesten Beispiele
-') Für die Entwicklung der Palmettenranken unter den Henkeln der
attischen Schalen hat F. Winter kürzlich im Jahrbuch des kaiserl. deutsch,
ai-chäol. Instituts VII. 2 (Die Henkelpalmette auf attischen Schalen, S. 105 bis
117) eine Reihe aufgestellt, die nicht vom centralen Geschlinge, sondern von
den zwei losen Palmettenzweigen der sogen. Kleinmeister -Schalen ausgeht,
deren je einer sich an jedem Henkelansatz befindet. Diese zwei getrennten
Palmetten werden dann in der Folge mittels einer Ranke untereinander ver-
bunden. Mit fortlaufender Entwicklung Avird die Rankenver))indung' eine
immer reichere, freiere, schwungvollere, völlig gemäss dem Processe, den Avir
an unserer Entwicklungsreihe (Fig. 100—108) beobachten konnten. — Leider
kam die erwähnte Arbeit von F. Winter zu spät, um noch eine eingehendere
Berücksichtigung in diesem Kapitel erfahi'en zu können. Sie behandelt das
Palmettenranken-Ornament auf räumlich und zeitlich sehr beschränktem Ge-
biet und zeigt deutlich die wesentlichen Vortheile, die eine sorgfältige und
genaue Beachtung des rein ornamentalen Beiwerks auch für Bestimmung und
Datirung der Vasen im Gefolge haben kann.
22) Conze Taf. IV.
23) Arch. Jahrb. 1887, Taf. 3.
2^) Fig. 88.
2n6
B. Das PHaiizenornamrnt in der a-riochischi'u Knnst.
hii'tilr-^) bietet Fig'. 107, ciitlcliiit mii einer \';ise liei Brmin-Lau XI. 1.
Schon die Komjtosition des Rankenornanicnts ist hier benierkeiiswcrth
lind für sclnvarzhgurig:e Zeit überraselicnd: allerdiuiis entfaltet es sich
nicht anf (b-ni besehränkten Kannir nnter den Henkebi. sondern am
Halse ciniT Amphora. In das vegetabilische Ornament sind nun gleich-
sam zwickelfüllend zwei Hasen eingestreut, die überdies einander nicht
einmal völlig s\ nnuetrist-h entspi-ei'hen.
Das Einstreuen anima lise her Wesen in das K'a nkenorna -
ment hat dann in rothtigiiriger Zeit entschiedene und bedeutsame Xach-
folg:e g-efunden. Fig. 108, nach ArcliäoL Zeitung ISSO Taf. XI. zeigt
das Scliultei'dni.iiueiii einer nocii dem 5. .lalii'liuiuleri aiiü'eli("irenden
Fig. 107.
Griochiselies Vascnornument.
attischen Lek\th(is: ein li.inkenzweig irnift herum und wird \ on einem
schAveliendi-n Kröten mit d<n n;in(hii g'efasst, der in s])ielen(h'r ^Veise
in die Ranke hineingesetzt erscheint. Zu voller l-aitfaltung und um-
fassender Anwendung gelangte das M<ni\ erst in hellenistisehei' Zeit
(z. B. am Ilildesheimer Silberkrater). Die ei'sien Ansätze dazu waren
wir aber im Stande, iioeh l)is in die .irehaische Zeit znnickzu\'erfnlgen
und alicll die liewee-endell 'i'endell/en k l;i T/U h '<iCI 1 , welche .lUreille
-■') Was ziigcni liisst, das Beispiel ohne Weilci-es in die Keiiie an iler
iliiii durch die Technik anii-ewicseiicn Sttdh- aulV.unelinien. sind (He mcln-lachen
daran zu Tage tretenden Singularitäten, worül)er aucdi brunn im Text S. 21
sicli geäussert liat. Die von Letzterem geg'cbenc Erklärung für die Durch-
brechung der Symmetrie durch die Hasen glaube ich durch diejenige ersetzen
zu sollen, clie sich aus dem fledankengauge »ler obigen Untersuchung von
selbst ergiebt.
8. Die Aiisbildimg- der Ranken-Fülluno".
207
solche Entwicklung hinarbeiteten, — Tendenzen, die im Wesen der
griechischen Dekorationskimst seit my kenischer Zeit begründet lagen.
Soweit das einseitige Material , das uns zur Beurtheilung des
Ganges der älteren griechischen Ornamentik zur Verfügung steht, einen
allgemeineren Seliluss zulässt , Avar man in der Beherrschung des
Ptianzenrankenornaments etwa in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts an
das erstrebte Ziel gekommen: man war im Stande, eine jede gegebene
Fläche mit dem Rankenornament in gefälliger Weise zu überziehen,
Avobei die einzige Schranke in der Beobachtung der Symmetrie im
Fig. 108.
Schulterornament von einer attischen I>ekythos.
Allgemeinen bestand. Daneben waren kleine AbAveichungen \-on der
strengen Symmetrie nicht bloss gestattet, sondern sogar gern angelu-acht,
Aveil sie den Reiz erhöhten, das Gefühl der LangeAveile nicht aufkommen
Hessen, und dennoch den harmonischen dekorativen Gesammteftekt,
der eben die Symmetrie im Allgemeinen forderte, nicht l^eeinträchtigten.
Immerhin blieb der Raum, auf dem sich das Rankenornament in voller
Freiheit hätte entfalten können, nocli ein sehr beschränkter. An den
Vasen war es, Avie wir gesehen haben, die Umgebung der Henkel, um
die sich das Rankenwerk herumschlängelte. Die grossen Flächen blieben
noch immer den figürlichen Darstellungen vorbehalten. So lange der
Process der aufsteio-enden EntAviekluno- insbesondere in der Plastik
208 ß- Das Ptianzenornamont iu der gTiochischeu Kxiiist.
nicht Yolleudet war, so lange man noch nicht zu Typen gelangt war,
Avelche den Zeitgenossen als unübertrefflicher Ausdruck für die Gestalten
der heroischen und der Göttersage erschienen, musste das blosse Orna-
ment nothgedrungeiiormaassen in der Beaclitnui;- zuriii-kstclicii . auf
untergeordnete Stellen, auf Säume, auf Henkel. Füsse u. dgl. l)rseliräukt
bleiben. Auf die verhältnissmässig geringe Anfnierksandveit. welche
Phidias dem Ornament zugcAvendet liat . wurde ja schon öfter hinge-
AAiesen. Als aber die Höhe erreicht war. da drängte sich Aviederum die
Schmuckfreudigkeit hervor, um nun auch zu ihrem Rechte zu gelangen.
Es äusserte sich dies erstens in der VerAvendung der geschattenen tigilr-
liehen Typen zu rein dekorativen Zwecken, wie es für die p(nnp(?.ja-
nische Dekoration vor Allem charakteristisch erscheint, ferner in der
Verwendung blosser Ornamente, höchstens tinter spielender Einstreuung
tigürlichen Beiwerks, zur Verzierung ausgedehnter Flächen, was in der
Zeit Aor und bis auf Phidias als zu nichtssagend befunden Avorden
Aväre. Dies war der Moment, da die Pflanzenranke zur vollen Entfal-
tung der ihr inneAvohnenden Qualitäten gelangen konnte. Dass sie die
Befähigung dazu schon aus der Zeit vor dem 4. Jahrliundert \-. ('lii\
mitgebracht liatte, glaube ieli im \'i)rstelienden genügend 1)e\\iesen zu
liaben.
Die Ptianzeiwaiike tritt vuii nun an in iiu'er \(')llig freien \'erwen-
dung auf in Begleitung von ^lutiven. die dei- griechischen Dekorations-
kunst, soAveit Avir sie bis Jetzt betrachtet h;il)en, ansi-heinend fremd ge-
Aveseii sind. Es Avurde nun ZA\,ir schdu w ieihThoit erklärt, dass es
imu-rlialb der vorliegenden, (hr Entfaltung des lMi;tnzenranl;enonKinient>-
im Allgemeinen gewidnu-ten Untersuchung zu Aveit führen Avünle, Aveiin
Avir zugleich auch die; EntAvicklungsgeschichte jedes einzebieu vegeta-
bilischen Motivs der antiken Ornamentik An-rfolgen Avollieu. im vor-
liegenden Falle handelt es sich aber um d.is Aufkommen eines Motivs,
das in der Geschichte der Pflanzenorn.inientik hi Jedi-r B<-ziehuu:4- als
epochemachend bezeichnet AVerden muss, und der Process, der d.izu ge-
fühlt hat, läuft S(j ]»ar;dlel deuijenigen, der die freie f'.nl f.ill iing der
Hanken zur endlichen Folge gehabt hat, dass wir der Entslehungsge-
-chichte dieses Af.itivs ,.in besonderes Kapitel zu widmen bemüssigt sind.
'•>. Das AiitUoimiieii des AUaiithiis-Ornaineuts.
Die dreisjiältige J^utushlülhe in l'rolil und die P.dmeite sind >"
ziemlich die einzigen veg('ta])ilischen Motive gcAvesen. mit denen die
Giiechen der ;ii-ehMiselien Zeit und l>i> lieml» zu den i'ersei-kiMegen im
9. Das Auftommen des Akanthus-Ornaments. 209
Wesentlichen ihre Dekoration bestritten Iiaben. Eine untergeordnete
Kolle haben daneben einige weitere — gleichfalls im antiken Orient
nachweisbare — Motive gespielt, die wir als Lotusknospe, Epheublatt
und Granatapfel zu bezeichnen pflegen. Natürlich bedingte dieses Ver-
harren bei einer kleinen Auswahl von Motiven nicht auch ein starres
Stillehalten bei bestimmten Typen im Einzelnen. Jedes der genannten
Motive hat in der Zeit vom 7. bis zum 5. Jahrh. v. Ch. seine eigene
Geschichte gehabt, und Avenn das Material, das uns heute vorliegt, nicht
ausreichend sein sollte, um diese Geschichte in allen Einzelheiten auf-
zuhellen und sicher zu stellen, so würde es doch meines Erachtens ge-
nügen, um einen diesbezüglichen Versuch zu rechtfertigen. Im Rahmen
dieser der Pflanzenranke gCAvidmeten Untersuchung muss ich mich
darauf beschränken , mit allgemeinen Worten die Tendenz zu kenn-
zeichnen, welche die Fortbildung der Lotus- und Palmetten-Typen in
älterer griechischer Zeit augenscheinlich geleitet hat. Wir vermögen
als das Treibende, Gestaltende lediglich die auf das Form-Schöne ge-
richtete Absicht zu erkennen. Die zwei Grundformeln — der dreispal-
tige, spitzblättrige Kelch und der Fächer über dem Volutenkelch —
waren gegeben, ihre Ausgestaltung erfolgte in derjenigen Weise wie sie
dem Künstler jeweilig als die gefälligste dünkte. In dieser Tendenz war
ein leise naturalisireuder Zug bereits eingeschlossen, da dieselbe die
steife geometrische Zeichnung der Vorbilder nicht Avohl vertrug und
nach einer schwungvolleren Belebung verlangte.
Das weitaus wichtigste dekorative Blütlu^nmotiv wurde im Laufe
der Zeit die Palmette. In der rothfigurig<m Vasenklasse hat sie die
übrigen aus älterer Zeit stammenden Motive nahezu verdrängt. Die
Geschiclite der griecliischen Palmette würde allein ein Buch füllen.
Einzehn-n ihrer Entwicklungsphasen haben bisher Furtwängler-'^) und
Brückner-') ausführlichere Erörterungen gewidmet. Die einzelnen Be-
standtheile, aus denen sich die griechische Palmette zusammensetzt, sind
bis in das 5. Jahrhundert die gleichen geblieben, die wir schon als Kom-
ponenten der altegyptischen Palmette kennen gelernt haben: der Vo-
lutenkelch, der zwickelfüllende Zapfen und der krönende Fächer. In
der Behandlung der einzelnen Theile und in ihrem Verhältnisse zu ein-
ander hat freilich die griechische Kunst einschneidende Veränderungen
vorgenommen. In der zweiten Hälfte des .5. .Jahrh. nun niaciit sich die
26) Samml. Sabouroff, Ein!, zu den Skulpt. S. 6 ff".
-^ Ornament und Form der attischen Gi-abstelen S. 4 ff.
Riegl, Stilfragen. 14
ojQ B. Das l'lianzenornaincnt in der griechischen Kunst.
naturalisireude Tendenz, welche die freie Entfaltung" der Pllanzenrauke
so mächtig- gefördert hat, auch an den vegetabilischen Einzelmotiven
geltend. Es drückt sich dies aus erstens in gewissen Uml»ildungen der
Palniette. die als solche von Niemandem verkannt werden können und
auch — soweit mir bekannt — allseits als solche aufgefasst worden sind:
zweitens in dem Aufkommen eines ornamentalen Typus von ausge-
sprochen vegetabilischem Habitus, den man als unmittelbare Nachbildung*
einer leibhaftigen botanischen Species, des Akanthus (Bärenklau) zu be-
trachten sich längst allgemein gewöhnt hat.
Die Umbildungen der Palniette in der 2. Hallte des .">. .lalirli.
betreflTen sowohl den bekrönenden Fächer, als auch die unteren Theile:
Volutenkt'leh und Zapfen. Diese letzteren beiden werden nänilieli ent-
weder unmittelbar akanthisirend gegliedert, (Fig. 110), oder sie treten
in Verbindung mit dem Akantlius, weshalb sie iiire Besprechtmg besser
im Zusammenhange mit der Erörterung des Akanthus selbst linden
werden. Der Fächer ti<M' Palmette liingegen behält im Allgemeinen
die Selbständigkeit der einzelnen langen und selnnalen Blätter, aus
denen er sich zusammensetzt, bei: aber die Kichtung dieser Blätter
die an den egyi»tischen Vorbildern eine streng radiant-eentraje igh-ieh
dem Ausschnitt einer Rosette) gewesen Avar, Avurde mm nllmälig eine
schwungvollere. Die Blattspitzen starren nicht melir streng radiaiit in
die Höhe, sondern wiegen sich in leiser Wellenlinie empur und neigen
die Spitzen sanft seitwärts, die <'inen nach reelits, die amleren nach
links von dem senkrechten Mittelhlatte 'Fig. 109^-); wir wollen diese
l')ildung die überfallende Palmefte nennen. Xoeh charakteristischer für die
zu (Irunde liegende Tendenz, weil nicht sn in der n.itiirlichen Eni-
Avieklungslinie liegend, ist die f/esprerigte Palmette (Fig. 110--'), an welcher
die Blätter der Fächers in wellenförmigem Schwünge mit den Spitzen
gegen die Mitte des Fächers gekehrt sind.
Diese zAveite Fonn, die mit ihrer gescliweiften Spitze (hi- Ansgangs-
punkt für spätere bed<'Utnngsvolle Fortl>iklungen im ()sten des Mittel-
meeres gcAvorden ist, scheint erst im 4. Jaiirhnndert zn häutigerei' An-
■') Von der Iiiiinlciste dos Partlienon-Giobels. Die Anfänge dieser Ge-
staltung des Blattf'äcliers gehen aber bis in die Zeit vor den Perserkriegen
zurück. Vergl. u. a. Ant. Denkm. I. Taf. 88, A 2.
•"^) Bekrönung einc^r Grabstelo, nach Quast Krechtheion II. 17. 3. Unter
Hinweglassung des grossen unteren Akanthuskeichs. — Das Beispiel zählt
nidit zu flcn frühesten und soll nur ii;i/,u ibencn . ilas reife, Produkt zu
vcranscliauliclieii.
9. Das Aufkommen des Akauthiis-Oniaments.
211
Wendung- gelangt zu sein. Sie stellt sieh im Grunde g-enommen dar
als eine Zerlegung' der orientalischen Palmette in zwei Halbpalmetten.
Die Zusammensetzung der Palmette nach dem herkömmlichen, im Orient
geschaflFenen Typus liatte etwas an sich, das den geometrischen sche-
matischen Charakter niemals ganz verwinden konnte. Der eingerollte
Volutenkelch blieb immer eine Doppelspirale, in deren Zwickel der
Zapfen mit dem Fächer bloss äusserlich eingriff. Die gesprengte Pal-
mette hebt sowohl den Volutenkelch als den geschlossenen Fächer auf
und bringt zugleich beide in organische Verbindung zu einander. Die
gesprengte Palmette zerfällt nicht mehr in ein Oben und Unten (Fächer
und Kelch), sondern in ein Rechts und Links (zAvei Halbpalmetten).
Fig. 109.
Ueberfallende Palmette
vom Parthenon.
Fig. HO.
Gesprengte Palmette,
von einer attischen Grabstele.
Beiderseits bemerken wir eine Art Gabelranke: von unten steigen
zwei Stengel (als solche meist vegetabilisch charakterisirt) auf, gabeln
sich jeder alsbald in zwei Ranken, wovon die äussere seitwärts spiralig
sich einrollt, die innere in Wellenschwingung aufwärts strebt und liiebei
die Form der den Fächer zusammensetzenden langen und schmalen
Blätter annimmt. Aehnlich geschwungene, gegen unten entsprechend
kleiner Averdende Blätter bilden so zu sagen die Zwickelfüllung zwischen
beiden Ausläufern der Gabelranke. Mit ihrem symmetrischen Gegen-
über bildet nun die Gabelranke die gesprengte Palmette.
Es soll ZAvar nicht behauptet werden, dass der Process, der zu
der Schaffung dieses Motivs geführt hat, in der That in bewusster
Weise und in direkter Linie gemäss der eben gegebenen Erklärung
sich vollzogen hat; aber dass das Motiv der Rankengabelung den ent-
14*
25^2 B- Das Pflanzenornaiiu'nt in der o-nechischen Kunst.
scheidendeu Einfluss dabei g'eüln haben (Uirt'tc, wird man kanni be-
streiten können anü'esielits der grnndb-ii'enden Bedeutunii', die gerade
die Gabelung" innerlialb der grieehiselien l^ankenornamentik geliabt
bcit. Diu'ch die Gabelung charakterisirt sicli ja schon die niykenische
fortlaufende Wellenranke (Fig. 50) eben als Ranke und niclit mehr als
egyptisirende geometrische Spirale 3°).
Noch Aveit Avichtiger aber als die bisher geschilderten l'mbil-
dnngen der Palmette Avar das Aufkommen des Akanthns. Insbe-
sondere Avenn man gemäss der allgemein herrschenden INIeinung die
Entstehung des Akanthusomaments in der That auf die bewusste Nach-
ahmung eines natürlichen PflanzenA'orbildes zurückführt, wird man sich
gezAvungen sehen, den Moment, in AA'elchem der Akanthus zum ersten
^lale aufgetreten ist, seiner Bedeutung nach unmittelbar neben den-
jenigen zu stellen, in AA'elchem die Lotustypen der altegyptischen Kunst
geschaften AA'orden sind. Und selbst Avenn AA'ir — das Resultat der nach-
folgenden Untersuchung A'orAA'egnehmend — den Akanthus nicht als
ein auf Grund der Naturnachahmung neu geschaffenes Dekorations-
motiA^ sondern als Produkt eines ornamentgeschichtlichen Fortbildnngs-
processes ansehen, werden AA-ir den ^Foment nicht geringschätzen AVdllen.
in AA'elchem das seiihii- ;ilh/<it weitaus zur grössten Bedeutung gelangte
A'egetabilische M<)ti\- in die AVeli geknuinien ist.
Tn der Ueberlieferung der Alten ist ^\^■y Akanthus auf's Engste
A'erknüpft mit der Kntstehting des korinthischen Kapitals. Dies
geht Avenigstens aus der Erzählung herA-or, AA'orin uns \'itruA' (I^'. Is, lo)
schildert, Avie sich seine Zeitgenossen die Entstehung des korinthischen
Kapitals dachten. Hienach soll die zufällige Kombination eines Korbes
und einer unter demselben dem Boden entsprossenen Akanthusptlanze
und die AVahriKlimung des zierlichen l'tfrkts dieser Kond)inatioii iliirch
den Bildhauer Kallimachos in Kurinth die \'eranlassnng zur Sehatlüug
des korinthischen Kapitals gegeben haben. Die begleitenden Umstände
der Erzählung sind so bekannt, dass ich sie mir eliciiso Avie die ("iti-
rung der ganzen Sieljc in extenso ersparen kann. l)<'r ganzen Er-
zählung i.st der .Steni|iel des KaV»ulir<'ns — eines, Avie man zugestehen
•"■"y Audi im VasciKirnanient des 1. Jahrli., das im Wesontiiclieii bei der
ursprüngliclKMi orieiitaiisirendeu Form der Palmctte, mit mehr oder mindtM-
überfallenden Biattfächern, stehen geblieben ist, äussert sich eine un\('i-
kennbare \cigun;r. 'üe im IlankeuAverk vorstrcuton rahriotton in Halli-
paimetten zu •/erlegen.
9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
21^
kann, ül^rigens nicht der Grazie entbehrenden Fabulirens — in völlig
unverkennbarer Weise aufgedrückt, und ich glaube kaum, dass es
irgend ein Forscher in neuerer Zeit unternommen haben möchte, ihre
Stichhaltigkeit ernsthaft zu vertreten. Furtwängler hat auch schon
(a. a. 0. S. 9) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das erste Auf-
treten des Akanthus nachweislich au Palmetten-Akroterien erfolgt ist,
Fig. lU.
Korinthisches Kapital vom Lysikrates-Deiikmal. Nach Jacobsthal.
ZU einer Zeit, da ein korinthisches Kapital bisher noch nicht nach-
gewiesen werden konnte. Brückner scheint der gleichen Meinung zu
sein, da er (a. a. 0. 82) sogar die Gründe nennen zu können glaubt,
welche dazu geführt hätten , den Akanthus an den Akroterien der
Grabstelen anzubringen. Dass aber das eigentliümliche ausgezackte
vegetabilische Motiv, das ein so charakteristisches Merkmal des korin-
thischen Kapitals ist, in der That gemäss Vitruv's Berichte auf eine
unmittelbare Nachahmung der Acanthus spinosa zurückgeht, daran hat
in4
B. Das PHanzenornaniont in der o-viechischen Kunst.
— so viel ich weiss — bis heute noch Niemand 2') zu zweifeln gewagt.
Die leidige Folge davon ist, dass über die keineswegs so sonnenklare
früheste Entwicklungsgeschichte des Akanthus es vollständig an Vor-
arbeiten gebricht. Es liegt mir natürlich fern, dieses Kapitel hier in
erschöpfender "Weise erörtern zu wollen, schon um der aitsserhalb meiner
Berufssphäre liegenden philologischen Untersuchung Avillen, die parallel
mit derjenigen der Denkmäler einhergehen müsste. Ich kann und
will mich auf den Gegenstand nur insoweit einlassen, als es für den
Fig. 112.
JÜatt (kr -Acantlius spinosa. Nach Owen Jones.
allgemeinen Gang unserer Untersuchungen ül)er das antike l'tlanzen-
ranken- Ornament nothwendig ist. "Was sich daraus zweifellos er-
gelM-n wird, das ist die dringende Notliwendigkeit. das Ka])itel von
der P^ntstehung des Ak;intiius«.rn;inienls einni;il einei- gi-iin<lliein'n i'e-
arl>eitung zu tmterzielieii. b-h hoffe aber auch wenigstens einen 'I'IhmI
<l"-r F^eli'/e Motten d;iliiii /ji iil)erzcu<ren , dass dei" Aknnthus nicht im
^'; Audi Boetticlier (Tektonik ilcr Hellenen H44) niclit, tref/ der Skepsis
die (;r der Anekdote Vitru\s sonst ent.ye<ienl)rini:t. ^■on einer Stackelberg
hctreffenden Aiisualniie wird weiter unten die Hede sein.
9. Das Aiifkomuien des Akanthus-Ornainents.
215
Wege der unmittelbaren Nachbildung eines Naturvorbildes, sondern in-
folge eines völlig künstlerischen, ornamentgeschichtlichen Entwicklungs-
processes entstanden ist.
Der Akanthus als plastisches Ornament, wie er sich z. B. am
Lysikrates-Monument (Fig. 111) und auch schon an Grabstelen- Akro-
terien früherer Decennien des 4. Jahrb. darstellt, zeigt eine unläugbare
Aehnlichkeit mit dem Blatte der Acanthus spinosa (Fig. 112). Charak-
teristisch für beide ist die Gliederung in einzelne Vorsprünge, deren
jeder seinerseits in eine Anzahl scharfer ausspringender Zacken ge-
gliedert ist; zwischen je zwei Vorsprüngen ist immer eine tiefe rund-
Fig. 113.
Halsverzierung eines Kapitals von der nördlichen Vorhalle des Erechtheion.
liehe Einziehung (die „Pfeifen'' des plastischen Akantlius). Gerade
diese Gliederung vermissen wir aber an den frühesten Bei-
spielen von Akanthusornamenten.
Betrachten wir Fig. 113 von einem Kapital des Erechtheions"-).
Die einzelnen Rippen, in welche sich hier das stets im Profil gesehene
Akanthusblatt gliedert, liegen gleichwerthig nebeneinander wie die
radianten Blätter einer Palmette. Als Stelen-Bekrönung aufLekythen
aufgemalt, also in flacher Projektion (Fig. 114), erscheint das Blatt aus-
geschnitten und mit spitzen Zacken besetzt, etwa wie ein Cactus- oder
^-) Nach Qviast I. 7, 2. Auf Grund des Vergleiches mit Gipsabg-üssen
erschien mir die alte Quast'sche Reproduktion völlig genaii und zutreffend.
■216
B. Das Pflanzenornament in der s'viecliischen Kunst.
Aloeblatt. Avie es eben durch die zeichnerische Projektion bedingt ist.
In keinem Falle aber gewahren wii* eine Gliedemug' der Konturen,
Avie sie der Acantlius spinosa entsprechen Avürde. Und Avährend die
vorspringenden Glieder des Akanthusblattes längs einer Mittelrii>pe
alternirend abzAveigen (Fig. 11'2), gehen dieselben an Fig. 113 sämnitlioh
von einer gemeinsamen unteren Basis aus, sind also parallel koordinirt
mit dem Mittelblatte, ZAveigen nicht von dem letzteren ab.
Fig. 114.
Gemälde von einer attischen Lekytliop, nacli l'.enndorf Tal'. W
Dies sind zwei wesentliche (" iit c r schiede ZAvi sehen dem Ha-
bitus derAcanthus spinosa iiiid der ty]>ischen Stilisirung des
Akanthusornauients, wie e> ini> an den ;iltcst<'n eiii.dtciicii l)rnk-
mäleni dieser Art entgegentritt. Es wird sich noch reidilich (ielegen-
heit geben, die Abweichungen im Einzelnen zu err>rtern. Es genüge
vorläufig, dieselben festgestellt zu haben. Die Schlusstblgerungen, die
wir daraus ziehen können, sind zweierhi An. I'jii weder Avir halten an
der Identität des Akanthnsornannnt-. mii d.-i- Acantlius s]>inosa fest, und
9. Das Aufkommen des Akanthus-Oniaments. 217
erklären uns das von der Natur aliweichende ^Vussehen der ältesten
Beispiele durch Unbehilfliehkeit, weitgehende Stilisirung o. dgl., oder
wir geben die Vorbildlichkeit der Acanthus spinosa preis und suchen
nach einer anderen Entstehungsursache, einem anderen Ausgangspunkte
für die Ausbildung des Akanthusornaments.
Fassen wir zuerst kurz die erstere Möglichkeit in's Auge. Wem
der Buchstabe der Ueberlieferung über Alles gilt, dem wird es viel-
leicht nicht sehr schwer fallen, einen solchen Erklärungsgrund für die
in zwei wesentlichen Punkten von der Natur abweichende Stilisirung
des Akanthusornaments gelten zu lassen. Der Künstler müsste hienacli
sozusagen ein abbreviirtes Akanthusblatt geschaffen haben, bei dem
nicht bloss die einzelnen vorspringenden Glieder in Wegfall gekommen
sind, sondern auch die scharf ausgezackten Konturen unterdrückt
wurden. Denn diese scharf ausgezackten Konturen wie sie z. B. an
Fig. 114 zu bemerken sind, Avaren an den frühesten plastischen Akan-
thus- Darstellungen, wie wir noch im Besonderen sehen werden, gar
nicht vorhanden, und machen sich bloss an den Abbildungen geltend,
was mit der zeichnerischen Projektion zusammenhängt. Der gemalte
Akanthus der attischen Lekythen (Fig. 114) zeigt daher die spitzen
Zacken am schärfsten ausgeprägt; man vergleiche damit den plastischen
Akanthus, Fig. 113, wo die spitzen Zacken als solche gar niclit her-
vortreten, die einzelnen Glieder "oder „Rippen" rundlicli endigen, und
nur durch die eingekerbten Furchen zwisclien je zwei Rippen in der
Perspektive des Beschauers eine Spitze im Kontur des Blattes entsteht.
Die Kelchblätter der Lotusblüthe links in Fig. 113 machen dies an-
schaulich^^). Unten endigen sie in halbrunden Konturen, oben da-
gegen, wo sie sich überschlagen, zeigen sie in der Perspektive spitze
Zacken, wie die seitlichen Blätter an Fig. 114.
Die Stilisirung der AkanthuspÜanze wäre hienach mindestens in
einer eigenthünilichen, von den naturalisirenden Neigungen jener Zeit
wenig berührten Weise dm'chgeführt worden. Erst allmälich wäre man
auf die Wahrnehmung der charakteristischen Eigenschaften der Acan-
thus spinosa gelangt und hätte dieselben im bezüglichen Ornament zum
Ausdrucke gebracht. Zuerst hätten die „Rippen" ihre plastische Gestalt
verloren, wären zu Hohlkehlen geworden, zwischen denen die trennen-
den Grate (nicht mehr Furchen) in spitzen Zacken vorsprangen. Dann
wäre man vollends daran gegangen, diese einzelnen spitzen Zacken
"^) Noch besser der perspektivische Blattkelch in Fig. IKi.
2lS B- Das Pflanzenornament in der g'riechischen Kuiisr.
zu vielzackigen A'orsprüugen auszug'ostalton , womit man endlich der
natürlichen Erscheinung der Acanthus spinosa nahegekommen ^väre.
Das treibende Moment in diesem ganzen Processe könnte man in der
Avachsenden Tendenz anf Xatnralismns erblicken. In dem angedenteten
Entwicklungsgänge läge auch durchaus nichts Unwahrseheinlielies; das
Bedenkliche daran bleibt immer der Ausgangspunkt. Bevor man sieh
daher einer sagenliaften Tradition zuliebe zu einer solchen Annahme
entschliesst, wird es geboten sein, alle übrigen begh'it enden Um-
stände Avohl zu erwägen, und nach etwaigen anderen Erklärungs-
gründen Umscliau zu halten.
AVas erstlich diese beghntenden Umstände der Tradition \on der
Xachahmung des natürlichen Akanthus in der griechischen Kunst des
5. Jahrhunderts betrifft, so wäre eine Untersuchung dersell)en zum
grösseren Theile Sache der philologisch-historischen Forschung. Eine
erschöpfende Erörterung dieser Umstände wäre ich ausser Stande zu
liefern und will mich daher darauf beschränken, meine diesbezüglichen
Bedenken in kurzen "Worten am Schlüsse des ganzen Kapitels voi'zu-
bringen.
Dagegen will ich ungesäumt daran gehen , meine Ansehauung
darüber zu entwickeln, Avie das Akantlmsornament — Aveitab von jeg-
licher unmittelbarer Xaturnaehaliinnng — aus rein ornamentalen Mo-
tiven heraus, Avenn auch unter dein l-jutiusse naturalisirender Tendenz
- entstand«'!! sein (lin'tie.
Das Akant lüisdi'üanient ist meines Erachtens urspi-fing-
lich nichts anderes als eine in's ])lastiselie Rund werk liiie!'-
tragene Palmette, luziehungsAA-eise Halbpalmetle: in Fig. ll.'l und
114 sind es durclnveg llalbpalmetten. Die einzelnen Blatte!-, die den
Fächer l)ilden, entAAÜckeln sich in Fig. 11.". iiiclii längs einei' !\Iittel!'i|ipe.
Avie an der Acanthus spinosa, sondern von eiiiei- geuieiiisainen nntei-eii
Basis Avie an der Palmette; sie siml an der A\'nr/el selmial und ycv-
l)i'<'iteiMi sieii gegen das JMide, avo sie rnnillicli aliselijiessen : alles w ie
am PaliiK-ttentäclie!". AVas an dem Akanthusblall gegeniil)er deni llaclien
Palmeltenfächer eigeiitliiimlicli erscheint, ist <ler elasliselie ScliAvung der
nach ausAA'ärts gekrüniniien Spitze. Dies ist eben an der llach proji-
cirten l'almette niclit \v«ihl möglich: inAviefei-ne es denndi'li weiiigsleiis
Andeutung gefunden hat. wei'den wir weiter unten l)ei Betraehtung
<h-s Kankenornaments in heHenislischer Zeit sehen. Uebrigcms erscheint
auch die iierkiijiindiclii- geradlii;ittri;;<' ralnieiic ieU\a nach dem l'ai--
tlieiionschema; an (irabsteh-n mit illiei'liängenilei- Spiize nach \'iiai ge-
9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments. 219
krümmt, weil es in soleliem Falle die plastische Ausführung- ermöglichte,
und die allgemeine Kunsttendenz es erforderte. Dieselbe Xeigung zur
schwungvollen Ausbiegung der Spitzen liegt übrigens auch der ge-
sprengten Palmette zu Grunde, und hiemit haben wir meines Erachtens
der Berührungspunkte genug, die das Gekrümmtsein des Akanthus-
ornaments bei der versuchten Ableitung von der Palmette erklären.
Parallel mit Vollpalmetten und Halbpalmetten lassen sich Akan-
thusvollblätter und Akanthushalbblätter unterscheiden. In
Fig. 113 haben wir es bloss mit letzteren zu thun. Sind dieselben
nichts Anderes als plastisch-vegetabilische Umbildungen von Halbpal-
metten, so werden wir sie auch an der gleichen Stelle, in der gleichen
Function innerhalb des Eankenornaments angebracht erwarten müssen.
Und dies ist in der That der Fall. Man fasse einmal in Fig. 113 die
Eanke in's Auge die links von der grossen Palmette sich wellenförmig
in die Höhe windet. Ueberall wo eine Gabelung statthat — und nur
dort — erscheint ein Akanthushalbblatt eingezeichnet. Xur befindet es
sich nicht gleich dem Halbpalmettenfächer in dem Zwickel zwischen den
beiden sich gabelnden Ranken, sondern noch unmittelbar vor der Gabe-
lung um den Eankenstengel herum geschlagen. Es handelte sich eben
um eine Umsetzung des Palmettenfächers in ein plastisch-vegetabilisches
Gebilde. Die lebendig spriessende Pllanzennatur kennt aber kein Postulat
der Zwickelfülluug. Man muste daher darauf bedacht sein, den im
Flachornament zwickelfüllenden Fächer nunmehr bei der Umsetzung
in's Plastisch-Vegetabilische auf eine andere, dem Pflanzenhabitus natür-
lichere Weise anzubringen, als im ^Vege einer Einschiebung zwischen
die beiden Ranken. Und in der That kann man sich kaum eine bessere
und glücklichere Lösung denken, als die Verhülsung, wodurch sowohl
ein durch die künstlerische Tradition gleichsam kanonisch gewordenes
Ornamentmotiv beibehalten, als aucli eine gefällige Gliederung der
Ranke selbst herbeigeführt erscheint. Schon am Erechtheion wurde dann
diese Verhülsung mittels Akanthushalbblattes an Stellen übertragen, wo
eine ausgesprochene Rankengabelung nicht statthatte: so unten an den
S-Spiralen sowie an den Kelchblättern der Lotusblütlie in Fig. 113.
Zum Wesen einer Palmette gehört nebst dem Fächer auch der
Zapfen und vor Allem der Volutenkelch. Ist der Akanthus in der
That ein Derivat von der Palmette, so werden Avir auch nach diesen
beiden Theilen zu fragen haben. Wie wurden dieselben in's Plastische
übertragen? Für den Volutenkelch weise ich hin auf die hülsenartige
Anschwelluno- der Rankenstengel an allen jenen Stellen, wo die Akan-
220
B. Das Ptianzonoi-nament in dex- üTiechisehen Kunst.
thusbalbblätter in Fig. llo ansetzen. Der Zapfen war lediiilicli Zwickel-
füllung: diese fiel in der plastischen Gestaltung" des (^nnn nicht mehr
flachen) Volutenkelches zu einem kreisförmigen (Aveil um den Ranken-
stengel umlaufenden) Kelche hinwi'g, und damit aiu-h die Veranlassung
zm' Einfügting eines Zapfens, l'nd auch die Hülsen der Akanthus-
blätter sind in der Folgezeit, als iln-e ursprüngliche Bedeutung in Ver-
gessenheit gerathen war, als unwesentlich in Wegfall gekommen.
"Wem die soeben gegebene Erklärung für den "Wegfall des Vo-
lutenkelches an der plastischen Palmette i'd. i. dem Akanthus) niclit
genügt, den verweise ich auf das Ornament an der Einfassung der be-
rühmten Thür des Erechtheions (Fig. 115). Hier erscheint die
plastische Palmette sozusagen wiederum inV FlaeJic üljcrtragcn. Xiomand
Fig. ii.-i.
Lotusblütlien-rahnetteu-Band in KarniesproJil, von uinem UebälkstUcke des Kvechtheiou.
wird daran zweitVhi kruim-ii. (l.iss uns hier ein Lotus-Palmetten-Baiul
vorliegt. An der Basis liegen S- Spiralen, die im Aneinanderstosscn
Kf'lche bilden: in diese Kelche sind alternirend dreispaltige Profil-Lotus-
blüthen und Palmetten als Füllungen eingesetzt. Al)er nur am An-
sätze der Lotusblütlien bilden die erwähnten Öpiralrankcn wirkliclic
Kelche: gerade an den Palmetten, für die der Volutenkclch ger.idczu
als wesentlich gilt, sind ihre Enden niclit kelehartig umgesehlagen,
sondern verlaufen unmittelbar in dif ."Miiicli-jiipc der l'aliucUe. Di«;
Erklärung dafür liefert eine nähere Betrachtung der Stilisiiung, welche
die Palmette in diesem Falle erfahren hat. Die eoncaviui Eiuliuehtungen
an der j'rriphei-ie belelirm uns, das wir es da mit einem Akanthus-
vollblatt zu thun hal)eu: nur wurde dasselbe hier sozusagen wiedi-r
ins Flache zurück übersetzt, genau wie es auf den Lekythen fFig. 114)
gemalt vorkommt. An diese malerische Art (hr Stili-iimig lial — wie
sehon angedeut'i wnrrle — die weitere Enlw ieklnng voriirhudich an-
9. Das Aufkommen des Akantluis-Ornaments. 221
geknüpft, wie es den zunehmend malerischen Tendenzen der griechi-
schen Skulptur der nachpcrikleischen Zeit vollkommen entspricht. Wii-
brauchten die Palmetten in Fig. 115 nur vom Grunde loszulösen und
frei sich krümmen zu lassen: dann müssten Avir sie schlankweg als
Akanthus bezeichnen. Im vorliegenden Falle sind sie aber Palmetten,
wie ihre Alternirung mit dem Lotus schlagend beweist. Und noch auf
eine lehrreiche Analogie sei bei dieser Gelegenheit hingewiesen. Die
damalige griechische Kunst hatte bereits ein Beispiel zu verzeichnen
für die Uebertragung eines — übrigens nächstverwandten — Hachen
Blumenornaments in die Plastik: nämlich den Eierstab als Reproduk-
tion des Lotusblüthen- Knospen -Bandes. Nun sehen wir Aehnliches,
wenngleich auf Umwegen, sich vollziehen mit dem Lotus -Palmetten-
Bande.
Ich habe die Palmetten in Fig. 115 als Uebertragung des Akanthus
in"s Flache bezeichnet. Es muss aber hinzugefügt werden, dass die
Palmetten in das Karniesprofll des Thürrahmens zu liegen kamen und
daher nicht in einer Ebene liegen, sondern einer geschwungenen, echt
akanthusmässigen Fläche sich anschmiegen. In dem erörterten Bande
waren es zum Unterschiede von Fig. 113, wo wir es bloss mit halben
Akanthus -Palmetten zu thun hatten, ganze Palmetten (Akanthusvoll-
blätter). Dieselbe Thür des Erechtheions zeigt übrigens am krönenden
Gebälke auch halbe Akanthus-Palmetten fAkanthushalbblätter) in der
gleichen Stilisirung.
Ist diese Stilisirung in der That, wie es allen Anschein hat und
wie u. a. die gemalten Lekythen beweisen, eine Rückübertragung der
plastischen Palmette in's Flache unter malerisch-perspektivischen Ge-
sichtspunkten, so ist sie jedenfalls später erfolgt, als das Aufkommen
des Akanthus, d. h. der plastischen Palmette selbst. Deshalb braucht
die Thür des Erechtlieions noch niclit jünger zu sein, als die nördliche
Säulenhalle, von welcher Fig. 118 stammt, da ja beide Arten eine Zeit-
lang neben einander hergehen konnten. Es ist überhaupt bezeichnend
für die Rührigkeit und die Schaffensfreudigkeit der griechischen Künstler
jener ganz einzigen Zeit, dass sie mit denselben Motiven die in ihrer
ursprünglichen Heimat durch Jahrtausende hindurch fast in einer un-
veränderten typischen Gestaltung belassen worden sind, in verhältniss-
mässig kurzer Zeit so Vieles, Verschiedenes und doch Bedeutungsvolles,
anzufangen gewusst hal)en. Diese Bewegungslust, die Neigung zum
freien Schalten und Gestalten mit dem Ueberlieferten und Anerworbenen,
ist auch seither ein Erbtheil der Avestlichen Angehörigen der INüttelmeer-
22'2 B. Das Prtanzenoniament in der g-riochischen Kunst.
kultur geblieben, während die orientalisclien Völker trotz der iiTünd-
lichen Durchsetzung mit dem Hellenisniiis im "Wesenlliehcn konservativ
geblieben sind, auch in ihrer Ornamentik.
In Fig. 115 erscheint der Akanthus vullkduiiuni glcichwcrtliig mit
der Palmette, als Palmette selbst verbraucht. Es ist dies eine Ausnahme
in unserem Denkmälervorrathe aus der frühesten Zeit des Akantlius. da
demselben fast in allen übrigen Fällen eine ganz bestimmte Funktion
als Akanthuslialbblatt zugewiesen ersclicint. In Fig. li;; sind die IT.iupt-
motive abwechselnd Lotusblütlien und llaciie Palmetten''): der Akan-
thus ist auf untergeordnete Stellen verAviesen, und bildet einerseits die
Füllung der Gabelranken, wovon schon früher die Rede war, andererseits
den Kelch der Lotusblüthen. Diejenigen, die irot/ allem Itislier Vor-
gebrachten an <ler Vorbildliehkeit der Acanthus spiiiosa lest hallen.
werden kaum in der Lage sein, irgend einen l^eweggrund zu nennen,
der die griechischen Künstler veranlasst liaben konnte, gerade den
Hanken- und Blüthen-Kelchen die Form des Akanthus zu geben. "Wir
haben Avenigstens für die Kankenki'lclie eine Erklärung in der Ana-
logie mit den zwickelfüllenden I[alb|i;ihiietten des Üaclieii Rankenorna-
ments der Vasen geboten. Für die akantliisiremle Bildung des Kelches
der Lotusblüthen hält es sclnverer einen unmittelbaren A"ernnlassungs-
gTmid namhaft zu machen, da seine beiden Blätter auch in der pla-
stischen Ausführung ebenso gut glatt l)elassen Averden konnten. Die
geschAA'ungene Linie der Kelchblätter eignete sich aber ganz besonders
für eine akanthisirende Proülirung, Aveit mehr als die steife volle Pal-
mette. Dies Avird auch der (rrund sein, Avariim volle l'alnietien in
akanthisirender Stilisirung uns in den ersten Stadien der JMitAvieklung
so selten begegnen. Als Akrotcn-itm der Grabstelen sind sie ZAvar mit
dem oberen Rande etAvas vorgeneigt; dieser ScIiAvung Avar aber offen-
bar ein viel zu sanfter, Avesliall) man selbst in vorgeschrittener Zeit
(4. Jahrh.) die Akroterien-Palmetten in der Regel in der llaelieii l'r"-
jektion beliess, und lediglich durch die gesprengte l-'onn tlcrsellien ileni
naturalisirenden Zuge der Zeit Rechnung trug. Ich lialte es daher in
di'r 'i'liat \'nv ;^-anz gut mri;^lieli. dass die ;ikaiit hisireiide r.ildiinu- der
plastischen Palmette niclit an einer vollen l'alniette, snndern an eiin^r
■") Der Zapfen tliescr letzteren ist plastisch nach Palnietlenlbrni geglie-
dert, mid die einzelnen Blätter des Fächers (jlien etwas ausladend heraus-
gearbeitet: also gleichfalls der strikte Uebergang von der Pahnette zum
Akanthus, bedinp't durch die ]ilastisclip Form, was .incli in der Ahhildunc:
P'ig. 113 zum Ausdrucke kommt.
9. Das Aufkommen des Akanthiis-Ornaments.
22^
halben, also kelchförmigeii, zuerst versucht worden ist. Es würde dies
mit den Wahrnehmungen Furtwängler's stimmen, der das früheste Auf-
treten des Akanthus an Grabstelen gleich der karystischen (Sammlung
Sabouroff, Skulpt. Taf. VI) und der venetianischen (ebenda S. 7) beob-
achtet haben will, — in beiden Fällen als Akanthuskelch genau in der
Weise wie an Fig. 113, d. li. als gerippter Kelch für übersteigende glatte
Kelche oder Blätter.
Die Ornamentik des Ereclitheion ist allem Anscheine nach für
die primitive Entwicklung des Akanthus von grösster Bedeutung ge-
Fig. IIG.
Von einem Pilasterkapitäl der östlichen Vorhalle des Erechtheions.
wesen. Wo dieser letztere auftritt, an den iSäulenhälsen am Architrav,
an den Thüreinrahmungen : überall zeigt er leise Variirungen, deren
jede eine gesonderte Besprechung verdiente, und die sich sämmtlich im
Sinne des Gesagten erklären lassen. Xur eine Variante (Fig. 116) ^■*)
will ich hier im Besonderen erwähnen, da dieselbe eine überaus be-
deutsame Erscheinung bildet. Die Lotusblüthe zeigt hier nicht nur
den akanthisirenden Profilkelch aus zwei Blättern. Avie in Fig. 113,
sondern unter diesem noch einen anderen aus drei Akanthusblättern
gebildeten perspektivischen Kelch. Die offenbar perspektivische
Projektion ist es, die das Motiv so bemerkensAvertli macht in der
-*) Quast, Erechtlieion I. 6, 1.
224 B- Das Pflanzenornament in der g-riechischen Kunst.
Zeit seines iiacliAveisbar ersten Anftretens; die Ertindung' war ül^'ig'ens
eine so gefällige, dass sie für alle Folgezeit beibehalten Avnrde und in
allen Renaissancen der Antike eine Rolle gespielt hat. Das mittlere
Blatt stellt sich dar als der reine . abwärts gekehrte Palmetten-
fächer. der mit dem Blatte der Acanthns spinosa (Fig. 11 -2) gar niclits
gemein hat. Die seitlichen Blätter sind dagegen nicht halbe Akan-
thus-Palmetten, Avie man erwarten möchte, sondern in perspektivischer
Verkürzung gebildete ganze Akanthus-Palnietten. Ilic^r findet sich auch
der deutliche Uebergang von Blatt zu Blatt mittels der rundlichen
„Pfeifen", wie sie am späteren entAvickelteren Akanthusblatt (Fig. 111)
den Uebergang zwischen den einzelnen ausspringenden Gliedern ver-
mitteln. Dass hierauf die r41iederung drr Aeanthus spinosa einen Ein-
fluss gehabt haben könnte. Avird man sclnverlich behaupten wollen:
der perspektivische Kelch in Fig. IIG trägt docli sonst nichts zur Scliau.
Avas mit der Aeanthus spinosa melir VcrAvandtschaft zeigen Avürde, als
Fig. 113 — 115, und darf als reines Produkt künstlerischer Erfindung,
allerdings unter Neigung zu grösserer Annäherung an die natürlichen
lebendigen Pflanzenformen im Allgemeinen, bezeichnet Averden.
AVir h;ilieii lils Jetzt l)]oss die ältesten Ak.intlius-Beispiele vom
Erechtheion (und ZAvei (irabstelen S. 223) in Erörterung gezogen: es
obliegt uns nun. darüber liinausgehend anderAveitige Denkmäler aus
dem r>. .Jahrh. lier.ni/uzielien und an densell)en die Stichhaltigkeit der
A-ersuchTcii Aldeitung des Akantliusornaments a'ou der plastischen Pal-
mette zu erproben. Dies gilt namentlich aou jenem Denkmal, das
bisher fast einstimmig als das älteste Beispiel eines korinthischen Kapi-
tals und A'ielfach aueli als Ausgangspunkt lür die EntAvicklung des
Akanthus angesehen Avorden ist: das Kapital von Pliigalia. Dieser
seiner Bedeutung hätte es — möchte es sclieinen - entsprochen, das-
selbe anstatt der Beispiele vom Erecliiheicii an die S])itze d<'r ganzen
Untersuchung zu stellen. Diese Unterlassung glaul)e icli altei" niil gutem
Grunde rechtfertigen zu können. Das korinthische Kajiitäl von Pliigalia
ist keineswegs eine so l)ekannie Grösse, dass man mit ihr so sicher
rechnen k'Wmte, wie es allerdings geAvTilmlicli zu geselielieu pllegt.
Das Original ist lieuK- anscheinend \'erschollen , zu Grunde gegangen.
Zur Zeit da es naeliAveislieh noch existirle. befand es sich bereits in
.-••lir zeisiörteni Zustande. Nicht einmal ein Gipsabguss daA'on scheint
bewahi't Avorden zu sein. AVir sind daher für seine Beurtheilung auf
die zeichnerischen Reproduktionen angcAviesen. Da fällt schon auf,
dass die Abbildungen in den A'erschiedcMien Ilamlltiichern sehr beträcht-
9. Das Aufkomiiien des Akantluis-Ornaments.
225
lieh von einander abweichen. Geht man aber der Ueberlieferung- nach,
so kommt man zu dem Resultate , dass alle Abbildungen im letzten
Grunde auf zwei Originalaufnahmen ztirückgehen, die eine von Dona Id-
son bei Stuart and Revett, anthiqu. of Athens, Taf. 9, Fig. o des Tempels
von Bassae. die andere von Stackeiberg in dessen „Apollotempel zu
Bassae" S. 44 (Fig. 117).
Die Aufnahme von Donaldson empfiehlt sich scheinbar als die
vertrauenswürdigere, da sie das Original in seinem verstümmelten Zu-
stande tale quäle wiedergiebt. Dagegen hat Stackeiberg dasselbe augen-
scheinlich in integrum restaurirt. Die beiden Aufnahmen weichen in
vielen Punkten wesentlich von einander ab: insbesondere der Akanthus
Fi^. 1)7.
Kapital vou Phigalia.
ist da und dort gründlich verschieden gebildet. Nähere Betrachtung
lehrt, dass die weiche lappige Bildung des Akanthus bei Donaldson
nur auf Rechnung einer flüchtigen skizzenhaften Zeichnung gesetzt
werden kann^^). Dagegen erscheinen die einzelnen Blätter bei Stackel-
berg (Fig. 117) völlig ebenso wie am Erechtheion gebildet. Und zwar
sind es hier Akanthusvollblätter, die um die Basis des Kapitals herum
gereiht sind, und auch die untere Parthie der aufsteigenden Voluten-
stengel verkleiden. Jedes einzelne Akanthusblatt zeigt hier den aus
plastisch gewölbten Blättchen zusammengesetzten Fächer. Ich möchte
^^) Daher möchte ich auch auf den zwickeltülleiiden Akanthus in dieser
Abbildung kein Gewicht legen, obzwar derselbe in seiner offenbaren Gleicli-
Averthigkeit mit der zwickelfüllenden Palmette so recht besonders geeignet
wäre, die nrsprüng-liche Identität von Palmettenfächer und Akanthtis zu be-
stätigen.
Riegl, Stilfragen. IfJ
99(3 B. Das PHanzenornameiit in der gTicchischen Kunst.
daher unbedingt dt^-r Stackell>erg-'schen Keiiroduktion den Vorzug geben.
zumal sich der Autor auch im Texte auf S. lO über die Form der
Blätter ausspricht und damit beweist, dass er sieh dieselben genau
angesehen hat: ..Die Blätter des Säulcnknaufs sind weder vom Oelbaum.
noch Akanthus, sondern vielmehr von einer konventionellen Form,
einer Wasserpflanze im Steinsinn nachgebildet". Es ist über-
raschend, wie nahe gerade dieser erste Beobachter und Beurtheiler
dieses Kapitals der Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gekonnncMi
ist. Selbst mit der Wasserpflanze trifft er, wenngleich wahrseheinlieh
unliewusst, das Richtige, da ja die Palmette auf den Lotus zurückgeht.
Der Zusatz ,.im Steinsinn" vcrrätli aber deutlich, wie Stackell)erg schon
intuitiv das i)lastische Moment als das formbereitende für die Stilisirnng
dieser „konventionellen Form" erkannt hat'^'"').
Am Kapital von Phigalia lialtcn wir es durchweg mit vollen
Akanthus-Palmetten zu thun. Der Akanthus kommt aber auf demsellien
Bauwerke auch in Kelchform wie am Erechtheion vor, für die Avir die
halbe Palmette als zu Grunde liegend erkannt haben. Stackelberg^')
giebt ein Simastück auf S. 40, einen Stirnziegel auf S. 101. Damit
stimmen die Aufnahmen von Donaldson^^) überein, worin wir wohl
einen neuerlichen Beweis dafür erblicken köniien, dass auch das Ka-
pital die gleiche Stilisirnng des Akanthus gezeigt haben wird. Beson-
ders dciitlieh ist der Stirnziegd a. a. O. Fig. -1 auf Taf. 5 gezeiehnol:
hier sieht man nändich mit vollster Deutlichkeit, dass die aussi>ringenden
spitzen Zacken der gezeichneten Konturen am plastischen Original in
der That eingekerbte, also zurückspringende Furchen bedeuten und dass
das Vorspringende in letzterem Falle die Blattripjien des Fächers sind.
Neben den architektonischen Ziergliedern und den Akroterien der
Grabstelen kommen für die älteste Geschichte des Akanthus hanptsäch-
licli <lie bemalten attischen Lek.\-ilien in Betrarht. Es hängt be-
kanntlich mit dem Sejmlkralchai'akter dieser ^'asengattung zusammen,
dass gewöhnlieji in der Mitte des — gleichfalls auf Bestattung und
Todtenkult bezüglichen — Bildes eine (!i-abstele sich lulindet. /ii deren
•'''; Die J{e|no(bditioncii naeh Donaldsoii liaben die ursjuiingliclie Gestalt
des Kapitals nocli inelir verballhornt. So sehen wir z. B. hei Durui, Baukunst
<ler Grieclifu. an der Basis eine dopiielte JJi'ihe von Akantliushiättcrn, die in
der vollkoiiuiieii ausge])ildeteii Weise des Lysikrates-Moinnnents stilisirt er-
seheinen.
''; Ajiollotein|iel zu Bassae.
^^) Stuart un<l Kevett, Taf. 4 und f».
9. Das Aufkommen des Akauthus-Ornaments. 921
Rechten und Linken die Handlung' sich entfaltet. Die (irabstelen sind
bekrönt mit Akroterien. Da ist es nun vor Allem schon merkwürdig-,
dass ein einfaches Palmettenakroterinm, wie an den erhaltenen Origi-
nalen in Stein, sich nur ausnahmsAveise vortindet, z. B. Benndorf, Griech.
und sieil. Yasenbilder Taf. 14. Es treten in der Regel neben Palmetten
Akanthusblätter auf, und zwar in einer solchen Vermehrung und An-
ordnung, Avie es an einem Grabstelen- Akroterium in Stein noch nicht
beobachtet worden ist. Deshall) glaubte man auch dieses Auftreten des
Akanthus auf den gemalten Grabstelen als „noch ganz unvermittelt
und ohne organische Verbindung' über, unter oder neben die nach alter
Weise gebildeten Voluten" bezeichnen zu sollen (Furtwängler a. a. 0.
S. 8).
Es scheint mir aber mindestens frag-lich, ob man für die Mehrzahl
dieser gemalten Stelen überhaupt die im Original erhaltenen viereckig-
tafelartigen Steinstelen mit Palmetten-Akroterien wird als vorlnldlicli
betrachten dürfen. Nach der convex nach oben ausgebauchten Linie
zu schliessen, in welcher die Simse (Fig. 114) und die um den Scliaft
der Stele herumgeschlungenen Tänien gezeichnet sind, wird man nicht
mehr an einen viereckigen tafelartigen Pfeiler, sondern an eine runde
Säule denken müssen"'-'). Wo dagegen ein viereckiger (irabpfeiler durch
die dreieckige Form des Akroterions als solcher gekennzeichnet ist,
sind die Simse ganz horizontal gezeichnet-'^): ein deutlicher Beweis,
dass sieh der Zeichner in dem ersteren Falle bei der krummen Führung
der Linie auch etwas gedacht hat, und dieses Etwas kann nichts an-
deres gewesen sein als die Voraussetzung eines runden Schaftes. Diese
Thatsache ist zu greifbar und unumstösslich, als dass man mit dem
blossen Hinweise darauf, dass sich cylindrische Grabstelen niclit im
Original erhalten hal)en, einfach darüber hinweggehen könnte*'). Haben
39) Vg-1. z. B. Benndorf a. a. 0. Taf. 25; Arcli. Zeit. ISSÖ, Taf. 3; Robert,
Thanatos Taf. 1.
*0) Z. B. Benndorf a. a. 0., Taf. 18—20.
■") Halbcylindrische Stelenschäfte sind übrigens aiisdrücklieli bezeugt ;
vg-l. Conze, Attische Grabreliefs No. 09, Text S. 20. — In diesem Zusammen-
hange darf ich auch auf die Darstellung- auf einer Lekythos verweisen, die
vor Kurzem aus dem Nachlasse weil, des Diplomaten und Orientreisenden
Grafen Prokeseh-r)sten in den Besitz des k. k. österr. Miiseums in Wien ge-
langt ist. Die Grabstele ist hier zwar viereckig gestaltet, mit geraden Simsen,
trägt aber oben einen Stuhl mit einem Korb darunter. Die Stele kann somit
unmöglich tafelartig gedacht gewesen sein, sondern es muss ein Pfeiler von
qiiad ratischem Grundriss dem Maler vorgeschwebt haben. Ob es nun solche
15*
2-2S
B. Das Pfianzenoniameiit iu der a,Tiecliischen Kunst.
vrii' aher einen Sänlenschaft vor uns. so ist seine Bekrönunu' niclit mehr
ein einseitiges Akroterium, sondern ein kreisrunder Kapitälknanf. Man
l)etrachte unter diesem Hinblick insl)Csondere die Stelenheknaiung"
Fig. 118 (nacli Tal". 3 der Areli. Zeit. 18851, wo die fünf beki'önenden
Fig. 118.
Von einem Gemälde auf einer .ittischen hekythos.
Motive scliDU in i\<'y iHi-s|icktivisclien An dfr Darstclliiiiü' das ilc'i'uin-
gereilitsein auf lialhkrcisnnidi'in < iniiidrisse ausser Zweilei gesetzt rv-
pfeilerartige Stelen in der Tiiat ii-('.i;-el)('ii liat oder uii'iit, diese Frage koimnt
im vorliegencleu Falle gar nicht in Betraelit: in der \orstellnng des
Malers haben si(^ cxistirt, diese Pfeiler mit vier Fronten; und das
Gleiche werden wir \<)ii den Stelen in c.vlindriseiier Säulenfonn annehmen
dürfen. — In K. Masners Katalog der SanniiInnL;' antiker Vasen etc. im
k. k. östeiT. Museum hatte die Lekythos nielil ineln- Aiifn.ilinie linden kiunien:
eine Publikation derselben von seilen des j^enainiten Autors i-i in Kürze zu
erwarten, Aveshalb ich darauf verzielitete, hier eine Abbildung' ilaxon zagebeii.
9. Das Aufkommen des Akantlms-Ornaments.
229
scheinen lassen. Dann erklärt sich aber auch die Vermehrung- und an-
scheinend unorganische Nebeneinandersetzung' der Akanthusblätter. Diese
Grabstelenkapitäle mit Akanthus auf den attischen Lekythen Avürden da-
durch zunächst herangerückt an das Kapital von Phigalia, und wären als
unerlässliche Hilfsglieder zur Feststellung der Anfänge des korinthischen
Kapitals überhaupt zu betrachten.
Wie so manclies Andere aus dem Darstellungsinhalte der Lekythos-
Malereien wird auch dieser Punkt von Seite der Specialforschung erst
noch seine vollständige Aufklärung finden müssen. Uns handelt es sich
aber im vorliegenden Falle bloss um die Klarstellung des Verhältnisses
zwischen Palmette und Akanthus. In Fig. 114 haben wir nur Akanthus-
blätter von der Seite gesehen (also Akantiiushalbblätter) und in der
Fig. 119.
Von einem Gemälde auf einer attischen Lekytlios.
Mitte eins in der Vorderansicht (Akanthusvollblatt). Fig. IIH (Benndorf
a. a. 0. XXII. 2) zeigt dagegen zwischen ZAvei Akanthushalbblättern
in der ]Mitte eine Palmette in der traditionellen Flachstilisirung. Aber
auch die seitlichen Halbblätter finden sich gelegentlich durch aus-
gesprochene flache Halbpalmetten ausgedrückt: vgl. Fig. 120, nach
Stackeiberg, Gräber der Hellenen, XLIV. 1^'-). Der Schluss hieraus
kann nicht anders lauten, als dass flache und Akanthus-Palmetten
als gleichwerthig gebraucht erscheinen, dass dieselben somit ur-
sprünglich gleichbedeutend und identisch gewesen sein müssen.
Schliesslich verweise ich noch einmal auf Fig. 118: in der Mitte eine
volle flache Pahnette in der Vorderansicht, ihr zu Seiten zwei gleich-
falls flache Palmetten, aber perspektivisch gedacht, daher nicht mehr
in der vollen Vorder-, aber auch noch nicht in der ausgesprochenen
■*'-) No. 2 auf derselben Tafel zeigt eine flache Palmette in einem drei-
blättrigen, iinbehiltlich perspektivisch gezeichneten Akanthnskelche steckend.
230
B. Das Ptlaiizeiinrnamt'nt in der aTiecliisclK'u Kunst.
Seitenausiclit, endlich zu äusserst an dt-n Flanken die r.ilnu'ttcn in rciniM-
Seitcnansii'ht, daher akanthisirend gebildet.
Auch die Betrachtung des gemalten Akantlius auf LckythfU seheint
also zu bcAveisen , dass derselbe zunächst mit lu'soiuh'i'er \'urlielie in
der Seitenansicht, in der Projektion der ll,illi]i;ihiiette zur Darstellung
gebracht Avurde. i^arallel mit der plastiselien Keli'liform an den ;ii-ehi-
tektoiiiselieii Ziergliedeni. Dass
die spitzen Si.kIicIu der Kontur<Mi
bloss diir(-h die luisiiektivisclie
Xachzeichiiung i\rv lOinkei'bnn-
geii hervorgeln'aelit sind tmd ur-
s|iriiuglich nicht i'iin'n s[)itz>taehe-
ligen Blattkontiir reproduciren
sollten. l)e-\Veist auell Flg. 1 11 ■'^) ,
wo die Auszackungen der iibi-i-
gens höclist skizzenhaft gezeich-
neten IMiltelpallllette keilU'SWCgS
die accentilirlen Stachelendigun-
gen vom Kontur (h'r SeiteiiMätti'r
aufweisen. !);i> K'e>ullat uiiseri'r
rnter>ueliiiiig des geUl.ilten Ak.lll-
ilms >tininii souiii viillig iibcri'in
Ulli Demjenigen. \\as sich un> aus
der Px'traeiitung der pl;i>ti>chen
Ak;iutliiis - Deiikin.-iler der tViihe-
>lell Zeit el-gelii'U |l.-||.
Ich gl;llllie im \'ol'>tellenilen
den Xaeliweis geliefert y.n haben.
^,. ,„„ dass es n-anz uiit iiiriulich ist.
Flg. 120. .-^ ^ .
Mal.Tci am Hauche einer attischen Lckytlios. die Eutstehuilg di> .\kanllm^ auf
dein AVege der iial iirliehen künst-
leriselien Entwickhing alizuhiten. ohne dass man zu der Annahnie
einer plötzliclM'U , in dei- griechischen Kun>i in so mncrmiiielici-
"\V('is<- bis dahin niehl dagewesenen Xaelibildiing einer naliirliehen
l'tlanzenspecies gi'ejfen müsste. AN'as tlie Kriiik ihr \'iirn\ianisclu'n
Erzählung überhaujit betriHt, so nmss — wie wiedeilioli intont wurde
— die endgihi^ie Ihit-i-heirbing lii<Tül)er insohoige \-eriagi wcr'len.
■■'; Vgl. Miicli lii'mMh.rl .1. .'1. n. Taf. 2")
9. Das Aufkommen des Akantlius-Onianients. 231
als nicht auch von philologischer Seite diesbezügliche Untersuchungen
ge[)flogen sein werden. Nur in allgemeinen Umrissen möchte ich an-
deuten, dass mir -wenigstens die Glanbwürdigki'it .jener Ucberlieferung
schon äusserlich wenig gestützt erscheint. Es sähe den Römern der
Altruvianischen Zeit — nach Analogie auf so vielen anderen Gebieten
— ganz ähnlich, wenn sie sich auch die Entstehung des Akanthus so-
zusagen in rationalistischer Weise zurecht gelegt hätten. Doch scheint
in der That die äusserliche Verwandtschaft des ausgebildeten Akanthus-
ornaments mit der Acanthus spinosa schon von den Griechen liemerkt
Avorden zu sein. Es würde auch für die ursprüngliche Auffassung der
Griechen vom Wesen des Akanthus noch sehr wenig besagen, wenn
Theokrit, also ein Dichter des 3. Jahrh. v. Chr., in der viel citirten Stelle
Jdyl. I. 55 in der That ein Ornament im Auge hätte, was mit Rücksicht
auf seine Bezeichnung des Akanthus als eines feuchten nicht zwingend
nöthig erscheint. Vor Allem aber werden wir fragen : welche seh wer-
Aviegende Ursache mochte es gewesen sein, die veranlasst hat,
gerade den Akanthus als Ornament in Stein nachzuahmen?
Denn so ist der aufkeimende Xaturalismus im griechischen Kunstsinn
nach der Zeit der Perserkriege nicht zu verstehen, dass man sich zu
unmittelbarer Imitation der Naturwesen gedrängt gefühlt haben sollte.
Die überlieferten Kunstformen galt es zu beleben, aber nicht lebendige
Xaturformen in lebloses Material umzusetzen. Es hätte also ein äusserer
Anstoss vorhanden gewesen sein müssen, der die Einführung der Akan-
thuspflanze in die Zahl der vegetabilischen Kunstformen herbeigeführt
hat, — ein Anstoss etwa gleich demjenigen, der die Egypter veranlasst
hat zur Schaffung ihrer Lotustypen.
Brückner ist der Einzige, der in offenbarer Erkenntniss der Noth-
Avendigkeit eines solchen Nachweises eine bestimmte Erklärung dafür
versucht hat. „Wie heute noch, wucherte um Tempel und Gräber der
Akanthus; für die Gräber bezeugen dies die Darstellungen der weiss-
grundigen Lekythoi (Benndorf II, Griech. und sicil. Vasenb. Tat". 14).
Wenn also die Plastik des 5. Jahrhunderts den alten Palmettenschemata
als belebendes Element den Akanthus hinzufügte, so trat die Stele mit
der Landschaft, die sie umgab, in engere Beziehung; sie verAvuchs
geradezu mit ihr^^)."
Ob nun dieser von Brückner angeführte Umstand ein ausreichender
Grund gewesen sein mochte, um daraufhin ein völlig neues, künstlerisch
■»^) Brückner a. a. Ö. 82.
232 !'*• ^'^'^ Pllauzenoriiament in der gTiechisclien Kunst.
überau!> lt^:-lU■m^^anK'^ Element in die Dekoration einzufülu'en , darüber
wird man mindestens verseliiedener Ansieht sein können. Aber die
Voranssetzunj:-. auf Avelclie Brückner seine "N'ernuitluuiü' aufltaut. ist
naeliweisslieli eine unzutretlende: "Was Brückner als wuchernden
Akanthus auf den Lekythosmalereien ansieht, ist in der That ein
Akanthus-Ornamcn t, das zur ..t('l<t(>nisehen'' llervorlK'hung' des unteren
Säuleuansatzes dient ^*'). Diese Funktion entspricht dem auf Ö. (35 aus-
führlich erörterten Postulat, und ist völlig; identisch mit der Funktion des
Blattkelches am unteren Ansatz der Vasenkörper ^^''). Es iindet sich näm-
lich ausschliesslich an dieser Stelle (Fig. 118), oberhall» der Basis, und am
allerdeutlichsten an dem von Brückner citirten Beisi)ii'l Itei Bennderf
a. a. O. Tat". 14. Der Akanthus am unteren Säulenschafte ist da vell-
kommen gleichwerthig" mit dem krönenden auf den „Akroterien", d. h.
als blosses Ornament, nicht als Darstellung einer Plianze gemeint.
Damit soll nun keineswegs bestritten Averden, dass schon im ,">. Jalu'h.
der Akanthits um Tempel und Gräber gewuchert hat: al»er dass das
Vorhandensein dieses Unkrauts den Atlienern so sehr aufgefallen win-v,
dass sie es für würdig erachtet hätten, zur Dekoration ihrer Grabstelen
ausdrücklich herangezogen zu werden, das scheint durch die Lekythos-
jMalereien mit Nichten bewiesen. Auch in diesem Falle hat man moderne
Verhältnisse auf Vorgänge aus antiker Zeit zu übertragen versuelit:
die Suche nach „netten" Ornamenten in der natürlichen Flora ist ein
echtes Produkt modernster Kttnstemplindung, zum Theil attch modernei'
Kun>trathlosigkeit. Das ornamentale KunstseliatTen in der Antike ging
ganz andere, wesentlich künstlei'isehere "Wege, als ein mehr luler
minder geistloses Abschreiben der Natur.
Der entwickelte Akanthus mit fortgeschrittener Blatigliedernng
lässt sich also gerade auf den ältesten Denkmälern, die hier in Betracht
kommen, nirgends nachweisen. Was am Akanthus-Ornament Aeliidicli-
keit mit der Acanthus spinosa begründet, ist erst im Verlaui'e dei-
Aveiteren EntAvicklung dazu gekdunneii. l''i'eilicli hat sich diese Ent-
Avicklitng wie die Akroterien der Grabstelen Ijeweisen, verhidtnissmässig
rasch A'ollzogen , und zwar - Avas kaum zufällig sein w'wd — in der
Plastik und incht in der Malerei. Diesen Umstand hat auch l>i-ücknei-
""; Flaclio l'almetten der traditionellen Fiuin in der gleichen l'unktion
z.B. Mon, incd. VIII. 10. In Stein ]ilastiscli bei Perrot und Cliipic/. III. 79,
Fig. 28.
*"') Akanthus an einer ^'ase in gleicher Funktion (bezeiclnicndcrniaasscn
plastisch!) bei SteplL-ini, <'oiii|ptc reiidii bSSO, Tat'. IV. 8.
10. Das liellenistisclie und römische PHaiizenrankenornament. 233
bereits g-ebührend hervorgehoben: „Es ist bezeieljneud für die attische
Ornameiitmalerei und lässt sicli ül)ereinstinnnend an der Ornament-
malerei der attischen Thonvasen erweisen, dass die bloss gemalten
Muster, soweit sie erhalten sind, nur äusserst schüchtern den Akanthus
angeben".
10. Das hellenistische iiud römische Pflaiizenrankenoruanient.
Im Akanthus haben Avir das wichtigste vegetabilische Motiv kennen
gelernt, das eine neuaufgekommene naturalisirende Tendenz in der
griechischen Kunst, allem Anscheine nach nicht vor der Mitte des
5. Jahrhunderts, geschaffen hat. Auch mit der schematischen Profil-
blüthenform des Lotus hat man sich auf die Dauer nicht begnügt. Der
dreiblättrige Kelch erfuhr Umbildungen (z. B. in Glocken-, Dolden-,
Birnform), die sich vom ursprünglichen egyptischen Typus Aveiter ent-
fernten, als es die übrigen altorientalischen Stile sowie der archaiche
griechische jemals gethan haben. Auch anscheinend neue Blüthen-
formen kamen auf, die sich als unverkennbare Versuche perspektivischer
Projektion darstellen. Dass auch diese Motive auf ornamentgeschicht-
lichem Wege aus gegebenen Elementen heraus entstanden sind, lässt
sich bisher bloss vermuthen: einer Entscheidung hierüber müsste eine
besondere Untersuchung des Gegenstandes vorangehen. Das Material,
wofür die unteritalischen Vasen eine Haupte juelle bilden dürften*^), ist
leider daraufhin noch nicht einmal gesammelt und gesichtet, geschweige
denn bearbeitet. Das Interesse für die hellenistische Kunst datirt ja im
Wesentlichen erst seit den Ausgrabungen von Pergamon. Die Würdi-
gung des Dekorativen in dieser Kunst hat namentlich an Theodor
Schreiber einen verständnissvollen ttnd eifrigen Anwalt gefunden. Es
stünde lebhaft zu wünschen, dass die Lücke zwischen der attischen
Vasenornamentik des 4. Jahrh. itnd der pompejanischen Ornamentik
möglichst bald gründlich und systematisch ausgefüllt würde. Der Unter-
suchung, welche wir angestellt haben, erübrigt nur noch die Aufgabe
zu zeigen, wie die hellenistische Kunst, kraft ihrer vorwiegend dekora-
tiven Tendenzen, die griechische Rankenornamentik endlich an das Ziel
geführt hat, dem dieselbe seit Jahrhunderten beharrlich zugestrebt hatte.
*'") Die LTebei'setzung- von naturalisirenden Blumentypen in das ..Flach-
ornament", die Schaffung- vegetabilischer ,,Flachmuster''. die man g-ewöhnlich
für eine specifische Errmig-enschaft der mittelalterlichen Orientalen anzusehen
IDÜeg't, verdient in ihrer Dvirchführung- auf den Halsverzierung-en der unter-
italisclien Vasen allein schon eine Monog-raphie.
224 B- ^^^^ nianzeuoniainent in der g-riechischeii Kunst.
Sofern dieses Ziel die Ausgestalruuü- der an den Rankenlinien
haftenden pflanzlichen Einzelmotive l.etraf, war dasselbe spätestens in
perikleischer Zeit thatsächlieh erreicht. Der Akanthns bedeutet den
äussersten Punkt, bis zu welchem sich (bis l'tianzenornament der Xatur
nähern durfte, ohne in kopistenhafte Al)li;ini;-igkeit von dieser letzteren
zu gerathen.^'"') Die Veränderungen. Fort- und T'mbildungen, die uns
an den Blütlienmotiven des hellenistischen und römischen Ranken-
ornaments entgegentreten, sind nicht als Krönungen des vorangegangenen
Werdeprocesses, sondern als Keime, Ansätze für darauf folgende funda-
mentale Xengestaltungen anzusehen. Was der hellenistischeti Kunst
für die Vervollkommnung des Rankenornauieiits uoeh zti leisten übrig
blieb, das l:)etraf nicht die Behandlung der Einzelmotive, sondern das
Maass, die Ausdelniung des Verwendungsgebietes, das man der Raid-ce
überhaupt eiu/uräiinn'U hatte.
Die gleichsam physische Vorbedingung zu einer umfassenderen
Verwendung — die freie künstlerische Handhabung des Rankenorna-
ments — hatte eigentlich schon die schAvarzfigurige Vasenmalerei er-
füllt. Es handelte sich im Grunde nur mehr darum, dem Ranken-
ornamente den erforderlichen Raum ztir vollen Entfaltung
seiner Qualitäten zur Verfügung zti stellen. Dies geschah in
der hellenistischen Zeit. Nicht als ob es dieser Zeit um blosse Befrie-
digttng des Schnmckbedürfnisses, und nicht ancli um <lie Lr^sung hoher
künstlerischer Probleme zu thun gewesen wäre. Diese Probleme lagen
aber überwiegend auf dem Gebiete der Architektur: den monarcliisch-
orientalisirenden Gedanken der lianlierren der Diadochenzeit genügte
das einfach-edle Säulenhaus nicht mehr. Der Massenbau und die "Wöl-
bung beschäftigten die Pliantasie dieses Zeitalters, ganze Städte wurden
im Nu gegründet, und Prachtbauten gleich dem Sarapeion in Alexandrieii
aufgeführt, in denen der Skulptur tind Malerei die l)loss dienende Rolle
des Schmuckbereitens zukam. Die Ziele der Skulptur und Malerei
mussten daher vorwiegend dekorative werden, und damit Avar für die
gefällige schmiegsame Ranke die richtige Zeit gekommen.
Von den Prachtbauten und Dekorationen der Dindoehen hat sieh
*'■) In i»omi)cJHni,scher Zeit liat man .ilierdinii-s vei'ciuzelt auch Blumen in fast
völli;i' natürlicliein Habitus und zwai anseiicinend nicht ;ini einer g-egenständ-
liclien Bedeutung willen, sondern /u rein dekorativen Zwecken an die Wände
gemalt-, aber dies war aii;:ensclieinlicli bloss eine vorid)ergehende Episode: die
natürlidien Blnnienabl)ilduiigen verscliw andeu in der sj»äteren Kaiserzeit
wieder aus der I )eU(ii-af inn : I'aliin'tten und Akantlnis da^'eii'cn sind i:-eMirbcn.
10. Das hellenistische und römische Pfianzenrankeuoniament. 235
Fig. 121.
Silberne Amphora in der Eremitage.
236 ^- Das Prianzenornament in der griechischen Kunst.
leider so gut wie Nichts erhalten. Wir müssen die einzelnen Stücke
niühsttm zitsammensuchen, aus denen Avir uns die "S'ollenching' des Ent-
wicklung'sprocesses der griechischen Pflanzenranke zu rekonstruiren
vermögen. Ein vortreffliches Beispiel für die Dekoration des ganzen
Bauches einer Vase mittels des Rankenornaments bietet die Nikopol-
Yase in der Eremitage Fig. 1-21^'). Wir sehen hier nur eine Seite der
Vase: auf der anderen Seite ist die Dekoration eine völlig ähnliche.
Der Figurenfries der attisclien Vasen des 5. Jahrli. ist hier auf ein
schmales Schulterband beschränkt; den Avcitaus grössten Theil der Ober-
fläche füllt das Kankenwerk. Unten gewahren wir einen Kelch von
drei Akanthusblättern : einem vollen en face zwischen zwei lialben in
Profllansicht. Aus dem Kelche steigen zwei Rankenstengel em}>or und
verbreiten sich in symmetrischer Weise, indem sie in undulirender Be-
Avegung dem oberen Rande zustreben. Der Akanthus kommt auch an
den Ranken Aviederholt vor: als plastische Ilalbpalmette dient er da
zur Hülse der Rankengabelungen und zum Kelch der Lotusblüthen und
Palmetten: also in der schon am Erechtheion festgestellten Stilisirung
und Funktion. Neben den plastisch -perspektivischen Halbpalmetten
begegnen wir aber auch den traditionellen flach-abstrakten; sie sind
geschwungen und zum Theil von dem gesprengten Palmettentypus ent-
lehnt. Auch die Blüthenfonnen sind melirfach die alten flachen Pnl-
metten, zum Theil zeigen sie aber Neigung zu perspektiviscluT Bildung
und naturalisirenden Zuthaten. Dieses Nebeneinander von Hach-abstrak-
ten und plastisch-perspektivischen Formen scheint für die hellenistische
Ornamentik besonders charakteristisch gewesen zu sein, da es sich auch
an den Halsverzierungen der unteritalischen Vasen überaus häuflg beol)-
achten lässt. — An der Nikopol-Vase Avären ausserdem noch besonders
zu vennerken die eingestreuten Vögel, die als leichtsclnvebende Lebe-
wesen zu solchem Zwecke besonders geeignet Avaren, und mit liallient-
falteten Flügeln dargestellt erscheinen. Die elegante l^eAA'egung di-r
Ranken ist anscheinend völlig frei; die trotzdem eingehaltene Sym-
metrie macht sich dem Auge nicht vordringlich bemerkbar.
Die griechische Kunst halte aiier nicht umsonst Jalirliiiiiderte hin-
durch danach gestrebt, in der hric-lisleii Aufgabe aller SkuliJtiir und
Malerei, in der Darstellung tlrv nienschlichen Figur, das Vollkommenste
zu leisten. I)ie menschliche Figur avuixIc schliesslich .null in die De-
koration eingefiilirt. Es A\^ar eine der lielieiiistisclieii Künstler Avünlige
*') Nach Slej.liaui ('oiii]ptc iciidii isill. 'J";il. 1.
10. Das hellenistische und römische Ptlanzenrankenornament.
Aufgabe, die menschliche Figur mit dem Eankenornament in
geeignete Verbindung zu bringen. Einen Vorläufer hiefür aus
der attischen Kunst des 5. Jahrh. hatten wir schon in Fig. 108 kennen
gelernt. Verhältnissmässig einfach war die Lösung, sobald es sich um
bordürenartige Streifen, um eine Friesform handelte. Ein vortreffliches
Beispiel für hellenistische Behandlung einer solchen Aufgabe bietet das
Fig. 122.
(iolddiailein aus Eläa.
Diadem aus Eläa Fig. 122^^). Die zu beiden Seiten der Mittelpal-
mette sitzenden Jünglingsfiguren sind als geflügelte Eroten gestaltet:
die Dekorationsflora steht in der stilistischen Behandlung völlig nahe
der Nikopol-Vase. Lehrreich ist auch der Vergleich der das Diadem
umziehenden fortlaufenden Wellenranke mit Hallipalmettenfächer-Fül-
lungen, mit dem Saume von einem klazomenischen Sarkophag Fig. 7(j:
Fig. 123.
Golddiailem aus Abydos.
einerseits Identität des Grundschemas, anderseits Wandlung in der
Stilisirung der füllenden Halbpalmetten-Fächer infolge der inzwischen
zum Durchbruch gelangten Tendenz nach lebhafterer Bewegung.
Reichere Verwendung von menschlichen Figuren findet sich an
dem Diadem aus Abydos Fig. 123^^1: in der Mitte auf einem Doppel-
^^) Nach Archäol. Zeit. 1884, Taf. VII. 1.
«) Nach Blätter f. Kunstg-ew. V. 4, vg-l. auch Arch. Zeit. 1884, Sp. 93, 94.
238 ß- Das Prtanzenornainent in der gTiechiseheu Kunst.
kelch aus Akaiithus, Dionysos und Ariadne, beiderseits auf den Ranken-
Aviudung"en sitzend musicirende Figuren. Das Motiv, in welches die
Ranken an beiden Enden auslaufen, hat in der hellenistischen und später
in der orientalischen Kunst eine grosse Rolle gespielt. Es ist wohl das-
selbe, das JacobsthaP^) mit einer in Griechenland liciniisclien Pflanze,
dem Dracnnculus vulgaris, identiticirt hat. Abgesehen von principiellen
Bedenken scheint mir die Verbreitung des ^lotivs, namentlich über
orientalischen Kunstboden, gegen jene ZuAveisung zu sprechen. Aehn-
liche Motive, augenscheinlich als Palmen gedacht, finden sich schon in
der egyptischen Kunst der Pharaonenzeit dargestellt. Ich gebe als Bei-
spiel Fig. 1-24: nach Lepsius III. 09, vgl. ebenda III. 95. An Fig. 123 giebt
sich das Mutiv als gleichsam zwickcltüllender Abschluss der Ranke. Man
sieht, dass in der Friesform eine Combination von Figui'en und Ranken-
windungen verhältnissmässig leicht gefunden Avar. Das (ileiche gilt
Fi-, l'.'l.
Stilisiitu üauiiikroiien. Altegyptisch.
von Pilasterfüllungen, wofür eines der glänzendsten B('isi>iel(' in der
Villa Hadriana (Canina \l. 172) gefunden wurde. Schwieriger gestaltete
sich die Lösung, sobald es sich um die Einstreuung von Figuren in
eine grössere mit K'ankenwei-k libei-zogene Fläclie handelte. Ein vol-
lendetes Beispiel hiefür liefert iler Ilildesheimcr 8in)erkrater''')
Als Figuren sind Putten gewälilt, olfenbar ob ihi'er sclnvebenden Leich-
tigkeit und Possirlichkeit, wodnrcli sie sicli bessei" als Ei'\\aclis(MU' zu
den heiteren spielenden Z\\(^cken der Dekoi'ation eigneten. Dazu d.is
kleine Seegethiei-, die Krebse, Seepferdchen, 1^'iselie. .lur \\cl('lie ein
'IMieil der Putten mit Poseidons Dreizack .Jagd macht, wälii-eud .nulere
sich behaglieh in (h.'n K'nnkeneinrollungen wiegen. 1 )ie Einstellung des
Mildeslieimer Silberkraters wird \(ni Einigen in riwnist-he Zeit verlegt.
Selbst Avenn dem so wäre, wird mau nicht zweifeln krmneii. dass der
seiner Dekoration zu Grunde liegende Gedanke die freie K'.inken-
-•) An-h. Zeil. I.ssl, S|.. 70.
■'') Holzer. der llildcsheinicr aiitiUe Siii)ertiuid, Tat'. III. 1.
10. Das hellenistisclie und römische Pflanzenrankenornament. 239
entfaltung- mit eingestreuten Kinderfiguren — auf hellenistische Ein-
gebungen zurückgeht. Tritt uns doch das System in der ersten römi-
schen Kaiserzeit (Pompeji, Farnesina) allzu vollendet und ausgeprägt
entgegen, als dass es zu dieser Zeit nicht schon seine Entstehungs-
stadien lange hinter sich gehabt haben müsste.
Mit Werken, Avie der Hildesheimer Krater, war die Leistungsfähig-
keit der dekorativen PÜanzenranke aufs Höchste gesteigert, der Kreislauf
erschöpft. Auch unsere Eingangs gestellte Aufgabe, die Entwicklung des
Pflanzenrankenornaments von seinen frühesten Anfängen in der mykeni-
schen Kunst bis zur reifsten Ausbildung zu verfolgen, erscheint damit ge-
löst und wir könnten hiemit füglich dieses Kapitel abschliessen. Es wurde
aber schon angedeutet, dass in der Detailbehandluug der Ranke und
der Stilisirung ihrer anhaftenden Blüthen- und Blättermotive Avährend
der hellenistischen und der römischen Kaiserzeit gewisse Veränderungen
und Fortbildungen sich vollzogen haben, die man nicht so sehr für
Vollendungen des Entwicklungsganges in vorperikleischer Zeit, als viel-
mehr für die Vorboten und Ausgangspunkte einer künftigen,
wesentlich verschiedenen Zielen zustrebenden Stilweise an-
zusehen hat. Es wird sich daher empfehlen, der hellenistischen Ranken-
ornamentik nach der angedeuteten Richtung noch einige Betrachttingen
zu widmen, um für den Augenblick, da wir an die Erörterung des
byzantinischen und saracenischen Rankenornaments schreiten werden,
den Anknüpfungspunkt sichergestellt und bereit zu haben.
Im Verlaufe des EntAvicklungsprocesses der griechischen Ranken-
ornamentik hatte unter allen hiebei in Betracht kommenden Einzel-
motiven die Palmette allmälich die grösste Wichtigkeit erlangt. Der
Palmettenfächer war es eben, der sich weitaus am besten dazu eignete,
genau nach Maassgabe des jeweiligen Bedürfnisses in die Zwickel der
Rankengabelungen eingesetzt zu werden. Traten zwei Rankenendigungen
in spiraligen Einrollungen zu einem Kelche zusammen, so erhob sich
darüber als Füllung der Fächer einer vollen Palmette. Handelte es
sich nur um die Abzweigung eines Schösslings vom Hauptstamme der
Ranke, so Avar mit diesem Schössling bloss eine spiralige Einrollung,
die Hälfte eines Kelches gegeben, über welchem dann als Füllung bloss
ein halber Palmettenfächer nothwendig war. Geschah endlich die
Rankengabelung unter sehr spitzem Winkel, so genügte ein kleiner
('/^ — 1/3) Ausschnitt aus dem Fächer einer vollen Palmette.
Als im Laufe des 5. Jahrhunderts eine lebhaftere Bewegung, ein
240 B- Das PHanzenornament in der g-iiechiseheu Kunst.
ersichtliches Bestreben iiacli Verlebendiguiiii- in die D.u'stcllniig- des
Pflanzenornameuts gekommen war, knüpften die -wichtigsten und ent-
scheidendsten Versuche nach dieser Richtung- an die Palniette an. Es
erfuhren zwar auch die Profil-Blütheutypen naturalisirende Verände-
rungen; dauernd und klassisch erwiesen sich aber eigentlich bloss
diejenigen, die sich an der Palmette vollzogen.
Als die nächste dieser Veränderungen haben wir das Aufkonnnen
der gesprengten Palmette kennen gelernt. Die dauernde Bedeutung,
die dieses Motiv für die spätere Entwicklung gewonnen hat, beruht in
der daran vollzogenen Zweitheilung des Palmettenfächers. Das Postulat
der Zwickelfüllung hatte bereits — wie wir gesehen haben — das
Motiv der Halbpalmette nothwendigermaassen in die Welt gebracht, das
nun alsbald seiner ganzen Funktion nach als das wichtigere, verwend-
barere und daher auch zukunftsreichere gegenüber der vollen Palmette
erscheinen musste. Die gesprengte Palmette trägt diesem Umstände
volle Pechnung, indem sie den einheitlichen Fäclier preisgiel)t und sich
unzweideutig als Produkt der symmetrischen Zusammensetzung zweier
Halbpalmetten kundgiebt.
Der nächste und entscheidende Schritt geschah mit der Schaffung-
eines plastisch -perspektivischen Palmettentypus, der uns im sogen.
Akanthus vorliegt. Und zwar haben wir auch hier zu unterscheiden
z-vYischen dem Akanthusblatt, das der vollen Palmette ents]>ric'lit, und
der sogen. Akanthusranke, die aber nichts anderes ist als das längs einer
Ranke dahinlantcnde Akanthusblatt in halber, d. h. in Protilansicht.
und die daher als plastische llalltpalmette erklärt werden darf. Wir
liaben (S. 219) das erstere Motiv -.üa A/x'a)tt/iit.'<v<)II/>hitf. das /cwriie als .l/.i//'-
thushalbblatt bezeichnet.
Vom Ende des 5. Jahriiuiiderts an laufen l>eide Pro-
Jf'ktionen, die flach - abstrakte und die plastisch - perspek-
tivische, neben einander her. So begegneten sie uns gemeinsam
auf der Nikopolvase, und dass das Gleiche auf den unteritalischen Vasen
des 4. und .".. .jalirli. zu heohaehten ist, wurde auch schon erwälmi.
Ein weiteres Beis]>iel lial)en wir in einem Diadem aus Eläa (Fig. 1-J2)
kennen gelernt. Gleichwohl finden sich noch Jahrhunderte lang nach
dem Aufkommen des Akanthus Verzierungen, die ])loss von der flach-
stilisirten Palmettenrankc bestritten sind , muX zwar bezeichnciidei--
inaassen unter den Henkeln der Vasen, wu ja das reine Ornament seit
j<'her seine Zufluehtstätte hatte, während auf den Ilals zum Theil sich
di<; figürlichen Darstellungen erstrecken, mindestens ein niensehlieher
10. Das hellenistische und römische Ptianzenrankenornament. 241
Kopf, häufig aber auch eine ganze Figur den Mittelpunkt der Deko-
ration bildet, wodurch sich dann auch die Heranziehung des plastisch-
perspektivischen Akanthus rechtfertigt. Untersuchen wir nun vorerst
einmal
a. Die flache Palmetten-Eanke.
Was uns an Fig. 125'''-) entgegentritt, ist im Grunde nichts anderes,
als ein von den attischen Vasen des 5. Jahrh. her wohlbekanntes
System von Palmettengeranke: unten eine grosse Palmette, umschrieben
von zwei Rankenlinien, die sich über dem Scheitel der Palmette in
wellenförmigen Schwingungen nach rechts und links symmetriscli aus-
breiten, die zahlreichen, hierdurch entstehenden Zwickel gefüllt mit
ganzen Palmetten, Halb]»almetten und Fächer-Ausschnitten. Und doch
lassen sich bei näherem Zusehen einige Eigenthümlichkeiten beobachten,
die den attischen Palmettenranken des 5. Jahrh. theils gar nicht,
thcils nur in weit minderem Grade eigen gewesen sind.
Für's Erste die sorgfältige Raumausfüllung. Die Einzelmotivc
erscheinen so nahe an einander gerückt, dass es unmöglich ist zu ver-
kennen, dass der Vasenmaler möglichst wenig scliAvarzen Grund frei-
lassen wollte. Den attischen Vasen mindestens der Zeit vor dem
peloponnesischen Kriege war ein solcher Horror vacui fremd. Wie
haben wir uns diese neue Erscheinung zu erklären? Offenbar aus dem
gleichen Grunde, der die analoge Erscheinung im Dipylonstil u. s. w.
zur Folge gehabt hat. Ein neuerliches, vermehrtes Schmuckbedürfniss,
ein langsam, aber mit Macht vordrängender dekorativer Zug verräth
sich augenscheinlich in dieser Sucht, den Griind möglichst ausgiebig
mit Zierformen zu mustern. Dies entspricht denn auch dem allgemeinen
Charakter der hellenistischen Kunst. Der Zug zur Darstellung des
Gegenständlichen, der die griechische Kunst etwa bis in die perikleische
Zeit charakterisirt, das überwiegende Streben nach Bemeisterung der
menschlichen Körperformen, nach Versinnlichung der das Hellenen-
thum bewegenden religiösen, sittlichen und politischen Ideen: damit
war man im letzten Drittel des 5. .Jahrh. auf einen ßöhepunkt ge-
langt, von dem aus es kaum mehr eine Steigerung gab. Nun regte
sich wieder die Schmuckfreudigkeit, drängte es wieder nach dem
anderen der beiden Pole, zwischen denen sich alles Kunstschaffen be-
wegt. Der hohen und erhabenen Tyjjen waren genug geschaffen, um
Herz und Auge daran zu erfreuen. Die pompejanische Innendekoration
32) Nach Owen Jones, Taf. XIX. 7.
Riegl, Stilfragen. lö
242
B. Das Pflanzenovnament in der o-ricchischeii Kmisr.
erscheint geradezu cliarakterisirt durch die spielende Verwendung, die
sie mit den von der vorangegangenen grossen Kunstperiode geschaöenen
Typen der heroischen und der (röttersage vorgenommen hat. Xatürlich
bedurfte eine solche Zeit eines ganz anderen Apparates au reinen
Schmuckfornien. als es dei-Jenige gewesen war, mit dem sieli die ülter-
Fig. 125.
(Jcmaltos griccliisclies Jlankenoniamcnt.
wiegend mit ligürlieli-uionuiiient.ilni l'rohhMiH'U licsohäftigte griechische
Kunst des (>. und ."). .I;dirh. liattc })egnügen krunien. Mit einem Schlage
war aber ein solcher .\]>p;ir,it nicht zu beschauen: dei' nächste Sehritt
bestand daher in cim-r reiclilichercn, üpitigereu Verwendung (h-i- ülu-r-
kommenen Zierformen. Dieses Stadium sehen wir n. A. in I-'ig. 1 •.».')
verkfirpert. Hatte sich der attisclie Vasenm.ilei' ei\\;i der 1. Hälfte des
.'). Jahrh. mitunter bloss mit einem einzigen li'.m kenzweige begnügt,
10. Das hellenistische und römische Pflanzenrfinkenornament. 243
den er unter die Henkel hinwarf, so erscheint nunmehr der ganze von
den Henkeln einerseits, der figürlichen Darstellung- auf dem Bauche
der Vase anderseits freigelassene Raum möglichst mit der Palmetten-
ranke ausgefüllt.
Der eben gekennzeichnete Unterschied von Fig. 125 gegenüber
der älteren attischen Weise betrifft die Anwendung des Ranken-
ornaments im Allgemeinen. Die besprochene Erscheinung ist auch
mehr als Symptom für den sich nunmehr anbahnenden Tendenzwechsel
zu verzeichnen, und nicht so sehr als typisches Beispiel von einer fest-
stehenden Regel. Der grosse Zug in der Führung des Rankenornaments,
dem die griechische Kunst seit mykenischer Zeit augenscheinlicli zu-
strebte, verräth sich auch noch — und Dank den gesteigerten Mitteln
da erst besonders — an gewissen Kunsterzeugnissen der hellenistischen
Zeit, wie an der Nikopol-Vase oder am Hildesheimer Silberkrater. Diese
letzteren betrachten wir daher auch als die Repräsentanten der Voll-
endung des bisherigen Entwicklungsprocesses, während in Zusammcn-
schiebungen des Rankenornaments gleich Fig. 1-25 sich ein künftiger,
anderen Zielen zugcAvandter Kunstgeist ankündigt.
An dem gegebenen Beispiel treten aber noch einige Eigenthümlich-
keiten zu Tage, die das Detail, die pflanzlichen Einzelmotive
betreffen. Da wäre einmal die Verdickung zu vermerken, die den
Ausläufern der Ranken verliehen erscheint. Man war augenscheinlich
bestrebt, diesen Ausläufern gegenüber den feinen spiraligen Einrollungen
ein körperliches Aussehen zu geben. Man beachte namentlich die Aus-
läufer der unteren Ranken, die gegen die Mitte zu nach aufwärts ver-
laufen: einerseits eine Rankenspirale, anderseits das verdickte, nackt-
schneckenartige Ende, dazwischen drei füllende Blätter eines Fächer-
ausschnitts. Der verdickte Ausläufer sollte offenbar nicht zur blossen
Kelchbildung, gleich der Spiralranke, dienen, was dazu auffordert, in
dem ganzen Motiv eine frei auslaufende Halbpalmette zu erkennen.
Das „freie Auslaufen" dieser Halbpalmette wurde absichtlich
betont, weil uns in Fig. 125 auch mehrfache Halbpalmetten ent-
gegentreten, die sich nicht als freie Endigungen darstellen,
sondern von deren Scheiteln die Ranken weiterlaufen. Darin
beruht eine dritte wesentliche Eigenthümlichkeit , die wir an dem in
Rede stehenden Rankenornament zu verzeichnen haben. Verfolgen wir
z. B. die Rankenlinie, die an der unteren centralen Palmette rechts
hinaufläuft. Ueber dem Scheitel der besagten Palmette — wo sie mit
der von links herankommenden Rankenlinie einen Kelch bildet, über
16*
244 B- I^^s Pflanzenornament in der g-nechischen Kunst.
dem sieh dann die obere centrale Palmette erhebt — wendet sie sich
nach rechts und biegt nach abwärts um, indem sie zugleich einen
Spiralschössling entsendet. In den Zwickel zwischen dem letzteren und
der Hauptranke selbst ist der Fächer ehier Halbpalmette eingezeichnet,
deren (hall)en) Kelch eben der erwähnte Spiralschössling bildet. Gewiss
Ist die ursprüngliche Bedeutung dieses Halbpalmettenfächers bloss die-
jenige einer accessorischen Zwickelfiillung gewesen. Aber im vorliegen-
den Falle ist das Verhältniss zwischen Spiralkelch und Fächer bereits ein
so entsprechend gewähltes, drängt sich die Konfiguration einer Halb-
palmette dem Auge bereits so zwingend atif, dass wir unmöglich an-
nehmen können, es Aväre dies dem Vasenmaler entgangen und von ihm
nicht beabsichtigt geAvesen. Aber verfolgen wir die Fortsetzung: die
Kanke läuft von der Spitze (dem Scheitel) der eben konstatirten llallv
palmette Aveiter. biegt Avieder nach aufwärts um, bildet zuerst eine
neuerliche Halbpalmette, umschreibt daini eine volle Palmette und
endigt in eine freie Halbpalmette mit verdicktem und energisch aus-
wärts gekrümmten Scheitel.
ZAveierlei haben yviv aus dem Gesagten besonders zu vermrrken.
Erstlich den Umstand, dass so augenscheinliche, vegetabilische Blüthen-
oder Blattmotive Avie die Halbpalmetten an eine Kanke in der Weise
angesetzt Averden, dass sie nicht die freien Endigungen bilden, sondern
von ihren Spitzen oder Scheiteln die Kanken weiterlaufen. Darin be-
kundet sich ein entschiedenes AbAvcichen A'on einem Grund-
gesetze der Natur, nach welchem die Blätter und Blüthen regel-
mässig die Bekrönung der Stiele bilden. ZAveifellos hat die Ornamentik
das Recht zu solchen AbMcielmngen, aber es ist doch überaus a\ ichtig
zu beobachten, Avann und in Avelcher Weise dies zuerst geschehen ist.
Ein rein künstlerischer Process ist es augenscheinlich gcAvesen, der
dazu geführt liat. Wir l),i])cii das Maass der Berücksichtigung des
Postulats der Zwickelfüllung bei allen antiken Künsten, A^on (\vv
egyi)tischen Kunst angefangen, verfolgt, und es kann keinen Zweifel
leiden, dass dieses Postulat allmälig zur Herausbildung der itvfreien
Halbpalmette, Avie Avir sie nennen wollen, geführt hat. Ich glaube auch
nicht, dass der Vasenmaler von Fig. 12;') sich den Sachverhalt so ge-
dacht hat, dass in der That die Spitze, das Scheitelende der Halb-
palmette den Ausgangspunkt liir die Aveiterlaufende Kanke bilden sollte.
Den strikten BeAveis hiefür Averden Avir an der Hand der plastisch-
perspektivischen Halbpalmette, d. i. des Akantlmsliall. Malis führen
können, das ursprünglich geradezu dai'aul'iiin stilisirl \\ur<h'n ist, um
10. Das hellenistische und römische Pllanzenrankenornament. 945
nicht als iu der Eanke aufgehend, als ^infrei zu erscheinen. Was aber
das gegebene Beispiel für die künftige Entwicklung so überaus wichtig
macht, das ist der Umstand, dass daran in der zeichnerischen
Projektion Formen vorliegen, aus denen eine spätere, dem Naturalismus
abgekehrte und die ursprüngliche vegetabilische Bedeutung des Orna-
ments absichtlich verkennende Kunst ein mehr oder minder abstraktes
Gebilde schaffen konnte und in der That geschaffen hat, mochte auch
der griechische Maler dieser Vase noch gar nicht daran gedacht haben,
dass er mit seiner Stilisirung ein die Natur vergewaltigendes, ein anti-
naturalististisches Schema von Pflanzendekoration geschaffen hat.
Ferner ist noch einmal hinzuweisen
auf die Scheiteleuden der freien Halb-
palmetten, deren verdickte körperliehe
Form bereits an früherer Stelle Erörte-
rung gefunden hatte. Es erübrigt uns
daran noch die starke Krümmung nach
Aussen in's Auge zu fassen. Diese Krüm-
mung konnte sich naturgemäss bloss an
den freien Halbpalmetten so energisch
äussern; es ist aber wichtig zu ver-
merken, dass auch die unfreien Halb-
palmetten die Neigung zeigen , den
Scheitel umzubiegen. Es ist der Geist
der gesprengten Palmette, der sich darin
ausdrückt, und dem allerdings an der
unfreien Halbpalmette schon durch die undulirende Bewegung der
Ranke Vorschub geleistet wurde. Ein sehr lehrreiches Beispiel für die
Tendenz der Halbpalmetten nach einer Krümmung ihrer Scheitelspitzen
nach Aussen bietet auch Fig. 126^^), wo übrigens der Fächer der
mittleren Halbpalmetten durch Unterdrückung der einzelnen Blätter zu
einem sphärischen Dreieck zusammengezogen und dadurch fast arabesk
geometrisirt erscheint.
Die Wichtigkeit die wir der Gestaltung des Palmettenrankenorna-
ments, wie sie uns in Fig. 125 entgegentritt, nach dem Gesagten bei-
messen müssen, dürfte es rechtfertigen, wenn in Fig. 127^^) noch ein
Fig. 126.
Gemaltes griechisches liankenornaraent.
^^) Nach Owen Jones XX. 1.
^■') Von einer attischen Lekythos im k. k. Österreich. Museum f. Kunst u.
Inclust., Kat. No. 370. — Die Redaction dieses Kataloges durch Dr. K. Masner
(Die Sammlung antiker Vasen und Terrakotten im k. k. österr. Museum, Wien
246
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
Beispiel hiefür gegeben wird. Das Schema ist im Grunde das gleiche
wie in Fig. 125, aber entsprechend der geringeren zur A'erziernng ge-
gebeneu Fläche minder reich entwickelt. Dieselbe peinliche Ausfül-
lung des Grundes, die gleiche Aufreihung von unfreien und Endigung
in freie Halbpalmetten. An der inneren Windung war aber für einen
wirklichen Halbpalmettenfächer kein Eaum, die Stilisirung der Zwickel-
füllung läuft liier vielmehr ganz i)arallel der an dem mykenischen
Beispiel Fig. 64 ])eobachteten. Die freie llalbpalmette mit verdicktem
und gekrümmtem Ausläufer zeigt anstatt des Blattfächers das si>härische
rig-. 127.
Gemalte.s Itaiikcnoniameiit von einer attisclicn Lekvthos des 1. Jalu-li.
Dreieck wie Fig. rji). Dass der Blattfächer in dieser geometrisirten
Form thatsächlich latent vorhanden ist, beweist Fig. 128"), wo die llalb-
palmette von einer geraden T'mrisslinic umzogen und abgcselilusscn
ersclieint, iinu-rliaH) deren sieh aiier der Blaltfächer ausdrücklieli ein-
L^ezr-ichnet findi't.
I>i92; hat sich uiir Itei der g-loichzeitigen Abfassunü- dieses Kajiitels üher das
antike P/Ianzcnrankenornamcnt vielfach fördernd und anregend erwiesen,
was ausdrücklich hervorzuheben ich meinem genannten Anitskollcgen gegen-
über als angenehme Pflicht empfinde.
") Nach Stephani Compte rendxi ]yHÜ, \'. I.
10. Das hellenistische und römische Ptianzenrankenornament.
24'
]Mit Eilcksicht auf den Umstand, dass wir den Fortentwicklungs-
process des flachen Palmettenrankenornaments in hellenistischer Zeit
hauptsächlich bloss an der Hand unteritalischer Vasen zu verfolgen im
Stande sind, ist es bedeutsam zu erwähnen, dass die Lekythos, von
welcher Fig. 127 entlehnt ist, aus Athen stammt, worauf mich Dr. Masner
aufmerksam macht: bedeutsam deshalb, w'eil sich hieraus ergiebt, dass
die erwähnten Besonderheiten nicht einen blossen unteritalischen Provin-
cialismus repräsentiren, sondern als weitreichende, weil ort'enl)ar organi-
sche Fortentwicklung angesehen werden müssen.
Das flache Palmettenornament ist auch Avährend der römischen
Kaiserzeit stets in Anwendung gekommen, wenngleich nur in beschei-
denem Maasse. Xamentlich im römischen Westen dagegen hat das
s^^^^mni^
Fig. 128.
Gemaites grlecbisches liankenornaraent.
plastischperspektivische Palmettenornament des sogen. Akanthus allmälig
das entschiedene üebergewicht erlangt. Aber selbst hier finden Avir
vereinzelt noch in der spätesten Zeit (Spalato) gesprengte Palmetten von
flacher Stilisirung an einer und derselben Ranke alternirend mit akan-
thisirenden Palmetten. Auch die spiralige Wellenranke ohne alle vege-
tabilischen Ansätze und Zwickelfüllungen, völlig im nackten Schema
des mykenischen Beispiels Fig. 50, ist bis in die späteste Zeit des
Römerweltreichs im Gebrauch geblieben ^"^'i. Ja im Osten des Mittel-
meeres scheinen die flachen Typen aus der Zeit der ausgehenden
attischen Kunsthegemonie, zu welcher Zeit sich eben die künstlerische
Eroberung des Orients vollzogen hatte, in konservativer Weise stets
bewahrt und mit Vorliebe gebraucht worden zu sein, zum l)ezeiclniendeu
^'') So tritt uns anscheinend die Wellenranke auf dem schönen hellenisti-
schen Diadem aus Abydos (Fig-. 123) entg'egen, doch zeigen die kurzen Seiten-
schösslinge an der ersten Windung rechts und links von der ]Mitte akanthi-
sirende Stilisirung. Es liegt somit eine Akanthusranke vor, an der nur die
buschigen Blätter zu Gunsten der in die Windungen hineingesetzten musi-
cirenden Fio-nven unterdrückt sind.
248 B. Das Pflanzenornameut in dei* gTiechischeu Kunst.
Unterschiede von dm überwiegend naturalisirenden Neigungen, denen
sich der "Westen liingegeben hat.
Der Mittelpunkt der künstlerischen Bewegung, und daher auch
der ornamentalen EntAvicklung lag zunächst nicht im Orient, sondern
im "Westen. ZAveifellos hat das BekanntAverden mit orientalischen Mo-
numentalwerkeu vielfach fördernd und befruchtend auf die Ausbildung
der hellenistischen Kunst eingewirkt. Aber der entscheidende, der
formgebende Faktor war der Avestliche, der griechische. Haben wir in
der Tliat, wie Theodor Schreiber avüI, den wichtigsten Schaui)latz dei-
Heranbildung der hellenistischen Dekorationskunst in Alexandrien zu
suchen, so bietet gerade diese Stadt die augenfälligsten Parallelen zu
der Kunst, die daselbst ihre Heimstätte gefunden haben soll: eine
griechische Gründung auf orientalischem Boden, bewohnt von griechi-
schen Bürgern, regiert von Griechen, aber nach orientalisch-monarchi-
schen Principien. Darin erkennen wir das Spiegelbild der hellenistiseli-
alexandrinischen Kunst: grosse monarchische Bauherrengedanken iSe-
rapeion), unter Anwendung prunkvollen und kostbaren Materials, küline
technische Proceduren (Wölbung), aber unter Beobachtung griechi>clier
Einzelformen und wohl auch el)enmässig abwägenden griecliiselieu
Kunstgefühls.
Der Schluss, der sich aus dieser allgemeinen Betrachtung auf den
EntAvieklungsgang des Ptlanzenrankenornaments ergiebt, lautet dahin,
dass die naturalisirende Tendenz, deren mächtiges Anwachsen wir
schon in den letzten Jahrzehnten attischer Kunsthegemonie Avahrnelnnen
konnten, auch in der Kunst an den orientalisirenden Diadochenhöfen
sich geltend gemacht haben muss. "Wir Averden daher erwarten, dass das
hellenistische Rankenornament der plastisch-perspektivischen Palmette,
d.i. dem Akanthus, breiten Eingang gewährt hat. Und zwar handelt
es sich hiebei nicht s(j sehr um das Akanthusvollblatt, wie es um den
Calathus des korinthischen Kapitals herum gereiht erscheint, sundern
um das mit der foi'tlaufenden Kankenlinie fest verwachsene Akantlius-
halbblatt oder die sog. Akanthusranke.
b. Die Ak a u t h usi'a u ke.
Nichts ist bezt-ichnender lür die An und Weise w'w man, l>eein-
Husst dm'ch Vitruvs Erzählung jede bessere Einsicht in das walii-e AVesen
des Akanthusoriuimcnts gcAvaltsam in sich nicderg<'Uänii>ft hat, als der
Umstand, dass Juan längst ganz klar erkannt hat, dass die Akanthusranke
in AVirkliehkeit nicht exisliiM und eine lihisse ilrlinduiii;' (h's oi-nainen-
10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornanicnt.
249
talen Schaffensgeistes der Griechen gewesen ist, und dass man trotzdem
an der Vorbildlichkeit der Akanthusptlanze keine Zweifel hat auf-
kommen lassen wollen.
Ist aber der Akanthus gemäss unseren Ausführungen auf S. 218 ff.
nichts anderes als die Palmette in plastisch-perspektivischer Projektion,
so werden wir ihn sofort auch im Kankenornament an die Stelle der Haeh
projicirten Palmette treten sehen müssen. Vor Allem kommt hier die
fortlaufende Wellenranke in Betracht, deren Schema es ja schon mit
sich bringt, dass von der Hatiptranke fortAvährend Seitenschösslinge ab-
zweigen und dadurch spitzwinklige Zwickel entstehen, deren Ausfüllung
durch Halbpalmetten -Fächer der griechische Kunstsinn gebieterisch
rig. 120.
Von einer getriebenen Goldplatte in der Eremitage.
forderte. In zweiter Linie werden wir das Auftreten des Akanthus m
der intermittirenden Wellenranke in Untersuchung zu ziehen haben.
Frühzeitig erfolgte die Uebertragung des Akanthus auf die
fortlaufende Wellenranke auf plastisch verzierten Kunstwerken.
Fig. 129 giebt ein Bordürenfragment von einer in Gold getriebenen
Arbeit des 4. Jahrhunderts, die Stephani im Compte rendu 1864 Taf. IV
publicirt hat. Von den zwei Streifen, in welche die Bordüre zerfällt,
interessirt uns hier zunächst der obere^^). Derselbe enthält eine fort-
laufende Wellenranke, deren spiralig eingerollte Seitenschösslinge in
je eine naturalisirende Blüthe auslaufen. Jede Rankengabelung, d. i. der
Punkt, an welchem ein Seitenschössling abzweigt, ist mit einer Hülse
") Auf den unteren Streifen werden Avir bei Besprechung- der inter-
mittirenden Akanthusranke zurückkommen.
250
B. Das Pflauzenornament in der aTiechischen Kunst.
aus zwei Akantliuslialljblätteni ausgestattet. Gemäss unseren Aus-
führungen auf S. Olli haben wir darin nichts andei'es zu erblicken als
Halbpalmetten in iilastisch-perspektivischer Projektion. Gleichwie an
Fig. 125 erscheinen die Öclieitelenden der Palmetten verdickt und nach
auswärts gekrümmt ; die Eankenabzweigung, deren Zwickel sie zu füllen
hciben, läuft unterhall) der gekrümmten Scheitelspitze hhiAveg. Diese
energische AusAvärtskrümmung ist zugleich ein Beweis dafür, dass die
griechischen Kunsthandwerker der hellenistischen Zeit nicht daran
dachten, dem vegetabilischen Element der Halbpalmette unnatürlichen
Zwang anzuthun, woraus wir avoIü berechtigt sind die entsprechenden
Rückschlüsse auch auf die Hache, sch('inl)ar unfreie Ilall»palniette
i.is^^La: i:;j.:. 'i'V'i '-^^'■'^,lt!^:^.^k^Z..:!^J.:,mBSS[
Fig. 130.
steinerner Itclict'fries aus Pompeji.
'S. •244; zu ziehen, an welcher wir di'r cigi-nthümlichen Projektion Ik-iUht
über die eigentlichen Absichten des Vasenmalers im Unklaren geblieben
Avaren.
Als Beispiel römischer l'x'liandlnng der fortlaufenden Akantiius-
ranke diene Fig. 1;jO vom Isiisiiciligtlnini zu l'oni}teji''*^). Der nhnische
Akanthus ist zwar in dt-i- Kegel sciiwcnr und üppiger, und lässt nicht
so viel von den Kanki-nstengeln frei. Aber das gegebene Beispiel aus
einer frühen Z<'it der bezüglichen Entwicklung eignet sich gerade seiner
verhältnissmässig mageren Behandlung halber l)esser zu dem Zwecke,
die Zusammensetzung der rümi>chen Akanthusranke im lunzelneii auf-
zuzeigen. Die Ausführung ist eine plastisehe in Stein, wiewohl zur
gleichen Zeit die AV.indmalerei bereits den reichlichsten (Jel)rauch von
der Akantlinsranke gemacht liat, wovon gleiclifalls aus d<'ni lsi>lieilig-
Tlinm geradezu klassische Beispiele vorliegen^'').
j Nach Nicoliiii. teiupio d'Isidc X.
'■'^) PubHeirt bei Xicolini, <)\ven Jones u. A.
10. Das hellenistische und römische Pfl.inzenrankenornament. 251
Zunächst einig-e Worte über die Behandlung des Akunthusblattes
als solchen. Diesbezüglich muss an Fig. 130 gegenüber dem typischen
griechischen Akanthus vom Lysikratesdenkmal (Fig. 111) die Aveichere,
rundlichere Stilisirung der einzelnen ausspringenden Zacken auffallen.
Auch hiefür hat man eine Erklärung gefunden, die an Einfachheit nichts
zu Avünschen übrig Hesse, wenn sie nur nicht so ganz und gar unkünst-
lerisch wäre. Man hat nämlich diese verschiedene Behandlung des
Akanthus im Osten und im Westen — spitzzackig in Athen, rundzackig
in Italien — auf eine Verschiedenheit der natürlichen Vorbilder zurück-
führen wollen, die da und dort dem Künstler zu Gebote standen. Man
fand, dass von der Familie der Akanthusptlanzen in Griechenland die
Species Acanthus spinosa, in Italien dagegen Acantlius mollis besonders
heimisch wäre. Was natürlicher, als dass die Griechen ihren heimischen
dornigen Akanthus, die Italiener dagegen ihren weichblättrigen kopirt
und auf die Denkmäler gebracht hätten? Erschien es uns nun schon
höchst bedenklich anzunehmen, dass die Athener den auf den Kirch-
höfen wuchernden Akanthus auf ihre Grabstelen gebracht haben sollten,
so werden wir vollends den Kopf schütteln müssen ob der Zumuthung,
dass die italischen Steinmetzen dem Beispiele der griechischen folgend
sich ihr heimisches Akanthus-Unkraut mit Lust und Sorgfalt abkonterfeit
hätten. Der weicheren Bildung des Akanthus in römischer Zeit liegt
vielmehr eine Stilwandlung zu Grunde, die nicht bloss auf Italien be-
schränkt geblieben ist, sondern sich auch auf die übrigen kunstschattenden
Gebiete des römischen Weltreichs erstreckt hat, wie sich insbesondere
an kleinasiatischen Denkmälern monumental erAveisen lässt ^^). Aehnliche
Wandlungen haben sich, Avie wir noch sehen werden, mit dem Akanthus
am Ausgange der spätantiken Zeit vollzogen, und gleichermaassen lässt
sich der Akanthus der Hochrenaissance von demjenigen des Louis XIV
und des Empire streng unterscheiden.
Unterziehen wir nun an Fig. 130 die Wellenranke selbst einer Be-
trachtung. Wo Seitenschösslinge von der Ilauptranke abzAveigen, ist
jedesmal ein Akanthushalbblatt angebracht, und ZAvar nur ein Blatt,
nicht die Verdoppelung zu einem Kelche Avie an Fig. 129. Dagegen
sind die Rankenstengel an anderen Stellen von mehr oder minder
akanthisirenden Kelchen unterbrochen. Von besonderer Wichtigkeit ist
aber der Umstand, dass die Akanthushalbblätter sich auch an
*^°) Z. B. in Sillyon und Aspendos, bei Lanckoronski, Städte in Pamphy-
licn und Pisidien.
252 B. Das PÜauzenornament in der griechischen Kunst.
solchen Stellen finden, wo keine Rankengabelnng statt hat.
Dieser Pnnkt ist geradezu charakteristisch für die römische Akanthus-
ranke: die Blätter nehmen immer zu an Zahl, die Stellen wo die Ranken-
stengel frei sichtbar bleiben, schrumpfen immer mehr zusannnen. bis
in spätrömischer Zeit von ihnen fast gar nichts mehr ersichtlich ist.
Bis in die späteste Zeit ist aber regelmässig das Spitzende des Akan-
thushalbblattes in der bestimmtesten Weise nach auswärts
gekrümmt. Das Blatt ist also nicht mit der Ranke verwachsen, son-
dern soll sich von der letzteren selbständig plastisch al)liehen.
So viel von der fortlaufenden Akanthusranke. Wir haben nun-
mehr zti untersuchen, in welcher Weise der Akanthus in das Schema
der intermittirenden Wellenranke Eingang gefunden hat. Hier war
es weniger die Hall)palniette, als die Palmette, an der sich die Um-
setzung in den Akanthus zu vollziehen hatte. Das Material, das uns für
die Verfolgung des bezüglichen Processes zm* Verfügung steht, stammt
fast ausschliesslich erst aus der römischen Kaiserzeit. Doch Averden
Avir kaum fehlgehen wenn Avir auf Grund der Beobachtung pompe-
janischer Beispiele annehmen, dass die Umsetzung der Lotusblüthen
und Palmetten mit ihren tiachcn ungegliederten Fächern in akanthi-
sirende Blattgebilde sich schon in hellenistischer Zeit angebahnt, wo
nicht vollzogen haben muss. Gleichwohl scheint auch liier die Um-
liildung znerst niit der Hall)palmctte oder dem Akanthushallihhitt vor-
gegangen zu sein. Der Beweis liegt vor am unteren Streifen der Gold-
platte Fig. 12'.». Die alternirenden Lotusblüthen und Palmetten sind
zwar nicht nach entgegengesetzten Richtungen gekehrt Avie das Schema
eigentlich erfordern Avürde, sondern wie am Bogenfries neben einander
gereiht. Aber die Kelche, aus dem-n sich die Blüthen erheben, sind
durch S-förmig geschAvungene Rankenlinien gebildet, und dieser Um-
stand mag es im vorliegenden Falle rechtfertigen, denselben mit (h'r
intermittirenden Wellenranke in Vcrl)in(lung zu bringen.
Der Akanthus tritt nun im unteren Streifen A'on l"'ig. r.".' Iiluss
an den Palmetten auf. und zwai- als zAvickelfüllendes Ak.inlliu^luilh-
blatt ZAvischen dem \'oIutcnkcleli und di^m Fächer. Es ist im (iriindc
dieselbe schüchterne VerAvendung des Ak^inthus, wie Avir sie am An-
fange der ganzen EntAvieklung, am Erechtheion (Fig. IKJ) angetroflen
haben.
Bevor Avir uns zur Betrachtung der ausgebildeten intermittirenden
Akanthusranke der römischen Zeit Avenden, erscheint es ZAveckmiissig
die besondere Bedeutung, die wir diesem Motiv für die Aveilere Eni-
10. Das hellenistische und römische Pfianzenrankenornament. 253
Wicklung- der Kankenoraamentik beizumessen hal)en, mit einigen Worten
in das gebührende Licht zu setzen. Weit strenger als die fort-
laufende Wellenranke hat die intermittirende an dem ur-
sprüngliclien Grundschema der archaischen Kunst, und an
den ursprünglichen flachstilisirten Blüthentypen festgehalten.
Noch weniger als für die fortlaufende ist nämlich für die intermittirende
Wellenranke ein unmittelbares Vorbild in der Natur anzutreffen. Epluni
und Eebe Hessen sich im Gefolge der naturalisirenden Kunstströmung
in das fortlaufende Schema übersetzen, wie insbesondere zahlreiche
pompejanische Wanddekorationen bezeugen ; auch anderes, Avahrschein-
lich von der künstlerischen Phantasie entAvorfenes, aber dem natürlichen
Pflanzenhabitus sehr nahe kommendes Gezweig findet sich wellenranken-
artig eingerollt. Zu solcher weitgehender Annäherung an natürliche
Blumengewinde war d;is intermittirende Schema, als ein reines Produkt
künstlerischer Phantasie, von vornherein nicht geeignet. Nur figürliche
Fig. 131.
Gesimsornaraent vom Oktogontempel zu .Spalato.
Motive, Delphine, Füllhörner und dgl. fanden vereinzelt spielende Ein-
streuung in dieses Schema ; was aber die Blüthenmotive betrifft, so haben
sich hier die alten stilisirten Formen, flacher und perspektivischer Lotus,
bis in die späteste Zeit fast ausschliesslich behauptet. Es liegt auf der
Hand, dass in der frühmittelalterlichen Folgezeit, da abermals eine
geometrisirende Tendenz die naturalisirende der hellenistisch-römischen
Antike abgelöst hatte, die intermittirende Wellenranke mit ihrem stren-
geren Ductus und ihren verhältnissmässig konservativ gebliebenen jMo-
tiven es sein wird, die besondere Verwendung finden und dement-
sprechend unsere hervorragende Beachtung fordern wird.
Gerade an der intermittirenden Wellenranke haben sich, wie ge-
sagt, die uralten flach stilisirten Palmettenmotive am längsten erhalten,
— weit länger als an der fortlaufenden Ranke. In der Pegel ist es die
gesprengte Palmette, die uns d;i entgegentritt: doch werden wir auch
die Palmette mit dem urabkömmlichen radianten Fächer noch an Werken
der Kaiserzeit (Fig. 135) antreffen. Beispiele für die Verwendung der
reinen Ranke mit flachen Palmettcn bieten: aus der früheren Kaiserzeit
254
B. Das Ptlanzenornament in der griechischen Kunst.
das Theater von Aspendos, aus der späteren der sog. Jupitertt-nipel
zu Spalato (Fig. 131) 6<).
Daneben gab es aber -- wie sclion erwähnt, gewiss seit helle-
nistischer Zeit — auch akantliisirend gebildete, d. h. plastisch-perspek-
tivisch stilisirte Palmetten. Fig. 132, gleichfalls vom Jupiter-Oktogon zu
Spalato entlehnt'-), zeigt flach stilisirte gesprengte Palmetten, alternirend
mit Palmetten von dem Typus mit vber/aUenden Blättern i'S. 210), welch
Vis- 1-^--
Gosims(ini:imcnt vom Oktogoutumpel zu Spalato.
letztere aljer bereits nit-lit mehr Harh und geometrisch wie an der ge-
sprengten Palmette, sondern akanthisirend gebildet sind. Die verljin-
denden Rankenlinien hinwiederum zeigen keinerlei vegetabilische Zusätze,
geben sich also noch als reine, so zu sagen geometrisirte Rankenlinien.
Einen recht entscheidenden und folgensclnveren Schritt sehen wir
vollzogen in Fig. 133 '"■3) vom sogen. Aeskulaptempel zu Spalato. Die
Bltithenmotive zeigen den überfallenden Typus, abwechselnd flach und
akanthisirend; d;igegen hnt sieh :\n den Aerl)indend('n R.inkcnsclnvin-
i-iü'. 13a.
(Icsinisoniainent vom sogen. Aesculaptompel zu Spalato.
gungcn eine höchst bemerkenswerthe Veränderung vollzogen. Diese
Rankenverbindungen geben sich nämlich nicht mehr als bloss
geometrisiriMide Linien, sondern als Ak;i nthusji.ilbbliitter'^-').
'■') Nacli Ailaui, l.'niiis of tlic iialacc ol' tlie eniperor Dioclctian at Sj^alato,
Taf. 37.
") Adaiii u. a. O. Taf. 30.
6') Adam a. a. O. Taf. 46.
•"'') Ein KIcinasiatischos ßcis))icl liierfür hietot «las Nyniplienni zu Asiu'ii-
dos bei Lanckoronski, Städte Pampliyliens und Pisidiens I. lÜO.
10. Das hellenistische und römische PHanzenrankenornament. 255
Und zwar vermissen wir an denselben die auswärts gekrümmten Scliei-
telenden, (S. 252), so dass das Blatt beiderseits, nicht bloss vom Ansatz
sondern auch von dem spitzen Ende weg- rankenmässig weiter zu laufen
scheint, um schliesslich umzubiegen und den Kelch für die benachbarte
Palmette zu bilden. Wir sehen hier somit vollzogen, was uns schon
am flachen Halbpalmetten-Ornament der hellenistischen Zeit (Fig. li.").
127) entgegen zu treten schien, aber in der plastisch-perspektivischen
Eankenomamentik durch Umstülpen der Halbl)latt-Enden bisher stets
wieder verneint und beseitigt wurde: das Akanthushalbblatt wird
unfrei, es verwächst mit der Ranke, wird selbst zur Kanke
indem es deren verbindende Funktion erfüllt. Da letztere
Funktion in der Natur nicht den Blättern, sondern den Stielen zukommt,
erscheint hiedurch ein antinaturalistischer Zug in der Ornamentik zum
unzweideutigen Ausdruck gebracht. Was in der geometrisirenden flachen
Fig. 134.
Gesimsornament vom Oktogonteiupel zu Spatato.
Palmetten-Eankenornamentik der hellenistischen Zeit schon angebahnt
und wenigstens schematisch begründet worden ist, das sehen wir nun
in spätrömischer Zeit, unter dem befruchtenden Einflüsse einer allmälig
zur Geltung gelangten Reaction nach der geometrischen Seite hin
greifbar plastische Formen annehmen.
Betrachten wir noch Fig. 134, abermals vom Jupitertempel zu
Spalato^^). Es ist dies im Wesentlichen eine Wiederholung von
Fig. 133: die gleichen Motive *^'^), und die verbindenden Ranken zu
Akanthushalbblättern umgestaltet. Diese verbindenden Halbl)lätter
schwingen sich nicht in gleichmässiger Fiederung von einer Palniette
zur anderen, sondern sie gabeln sich in der Mitte. BemerkensAverth
^^) Adam a. a. 0. 36.
^^) Der Zug- in's Schnörkelhafte, der hier den Kelchblättern der gespreng-
ten Palmetten gegeben erscheint, kehrt am Akanthusornament der Diocletia-
nischen Bauten (z. B. an der Thür des Jupitertempels) öfter wieder. Es ist
wohl der gleiche Zug, der z. B. an einer Gruppe von Goldschmiedesachen
aus dem Fund von Nagw St. Miklos so charakteristisch entg-egentritt.
256 B- Das Pflauzenornament in der griechischen Kunst.
ist ferner die in der g'eringen Gliedernnü' dieser geg-abelten Akantlins-
halbblätter sich verrathende Neigung- zur Stilisirnng in's Flache, Geo-
nietrisch-Schematische.
Die gegebenen Beispiele stammen sänmitlieh von Bauten der s]);!-
teren römischen Kaiserzeit. Die vollständige Akanthisirung der inter-
mittirenden TVellenranke in ^Motiven und Verbindtmgslinien lässt sich
aber schon Aveit früher nachAveisen. Icli gebe zwei Beispiele vom
Forum des Xerva. Fig. 135^") zeigt von Motiven die alten Lotus-
blüthen und die Palmetten mit seitlich überfallenden Blättern, diese
letzteren in rhythmischer AbAvechslung entweder flach oder akanthisirt,
wobei allerdings selbst die flach stilisirten Blätter durch das lebendige
Umstülpen ihrer keulonartigen Enden eine unverkennbare Neigung
zur naturalistischen Bildung verratlien. Die Verbindung ist durchAveg
durch Akanthushalbblätter hergestellt, zwischen denen Rankenstengel
rig. 135.
Fries vom Xerva-Foruin.
gar nicht sichtbar werden. Das llatiptlilati zwar hat die für das
römische AkanthushalMilati tyiäsche Krümmung des Si)itzendes nach
Aussen aufzuAveisen , aber darunter läuft kein Stengel, sondern aber-
mals ein Akanthushall)l)latt hinweg, das im Ueberfallcn mit einem
zweiten seinesgleichen doi Kelch für das nächste r)lüth('inni>tiv bildet.
Sowohl aus dem Kelch Avie aus den Verbindungskurven sind die
linearen oder bandartigen Kankenstengel versclnvunden, und an ihre
Stelle die zu solcher Funktion von Natur aus ungeeigneten Akanthus-
]iall)blätter getreten.
Den Schlusspunkt der ganzen EntAAMcklung bietet Fig. IHd''^). Von
l>liitlien Aviederliolt sich anscheinend bloss ein ^MotiA^ eine Lotus-
bhitlic — mit altci'nircnden geringen Varianten. Die K'ichlung ist eine
einseitige, so dass es fast den Anschein iiat, als ob uns hier nni' ein
Bogenfries A'orläge. l'nd ddcli luviucht man nur (b'U N'crlaiif der
^^) Morcau, Fragments (l'arcliitccturc 'I"al'. 11, No. 3.
***) Moreau, ebenda, No. ;').
10. Das hellenistische und römische Ptlanzcnrankenornament.
257
schweren buschigen Akanthusranke zu verfolgen, um das zu Grunde
liegende intermittirende Schema zu erkennen.
An Fig. 136 sind nun folgende zwei Punkte von einer für die
Folgezeit geradezu fundamentalen Bedeutung: 1. Die obersten Kelch-
blätter fin Form von Akanthushalbblätternj jeder zweiten Lotusl)lüthe
schlagen oben um und laufen in undulirendem Schwünge, als Wellen-
ranke, abwärts, um unten wieder nach aufwärts zu streben und im
Ueberfallen den Kelch für die nächst benachbarte Lotusblüthe zu bilden.
Es ist zwar nicht bloss ein einziges Akanthushalbblatt, das jede dieser
Verbindungen herstellt, sondern eine Anzahl gleichsam ineinanderge-
schachtelter Blätter, deren Spitzen jeweilig sorgfältig nach Aussen ge-
krümmt sind, wie um damit laut darzuthun, dass sie nicht unfrei sind,
sondern eine selbständige Existenz für sich beanspruchen. Aber das
letzte Blatt bildet ganz unzweideutig den Kelch für die nächste Lotus-
Fig. 136.
Fries vom Xerva-Forum.
blüthe und damit erscheint das ganze Motiv — trotz des bemerk-
baren Sträubens gegen dieses Endresultat — in ein in der Natur nicht
begründetes und derselben zuwiderlaufendes Schema gebracht. —
2. Jede der eben erwähnten Verbindungen gabelt sich in der Mitte,
indem sie einen Blattschössling nach rückwärts aussendet; dieser
Schössling läuft aber nicht frei aus Avie an Fig. 134, sondern senkt sich
nach rückwärts Ins zum unteren Ansätze der Lotusblüthe, von deren
Scheitel die Verbindung ausgegangen ist und bildet daselbst mit
dem von der entgegengesetzten Seite herankommenden Schössling im
Ueberfallen einen Kelch. Auch in dieser Funktion erscheint das Akan-
thushalbblatt an Stelle eines Rankenstengels getreten, so dass wir in
solchem Falle bereits mit allem Rechte von einer Gabelranke sprechen
könnten. Dieselbe umschliesst, umschreibt*^'-') das eine Blüthenmotiv und
fi') Das seit archaischer Zeit bekannte Motiv der umschriebenen Pahnette
(S. 170) könnte thatsächlich von Einfluss gewesen sein auf das Aufkommen
Riegl , Stilfragen.
17
258 B- Das Pflanzeuornament in der gTiechischen Kunst.
dient gleichzeitig mit ilirem zweiten Arme znr gefälligen Verlnndung
mit den benachbarten Bliithen.
Den Zeiti>unkt, Avann sich die 1)ezüglielien znivunfisreiehen Ver-
äuderimgen zuerst vollzogen haben, genau zu tixiren, kann hier nicht
unsere Absicht sein. Erstlich mangelt es hiefür völlig an Vorarbeiten,
da die klassische Archäologie es bisher nahezu unter ihrer Würde be-
funden hat, sich mit der römischen Spätzeit zu befassen, und die For-
scher der altchristlichen und byzantinischen Kunstgeschichte einer ge-
naueren Bekanntschaft mit der Antike, zumal mit deren späteren
Phasen, zimieist cntrathen zu können glaubten. Es dürfte aber über-
haupt schon schwer sein, sicli über den sachlichen Punkt zu t-inigen.
wo das Neue l)egonnen hat, im Kunstwollen der spätantiken Zeit be-
wusste Beachtung und Anwendung zu finden. Die Ansätze liiefür
waren. Avie Avir gesehen haben, mindestens seit dem 4. Jahrh. v. Chr. ge-
Vig. 137.
Waüdborilo a>is bcmaltoni Stuck. Aus l'oinpeji.
geben. Xamentlieh die leichte und flüssige dekorative Wandmalerei
mag bereits Freiheiten in der angedetiteten Richtung sich erlaubt
haben, zu einer Zeit, da in der architektonischen Dekoration noch kein
Raum war für eine Verwendung des Pflanzenornaments nach einem
widernatürlichen Schema. A'or Allem Avären daraufliin die }>om]ie.iaui-
schen Dekorationen systematisch und an der Hand der Originaldenk-
raäler selbst durchzugehen. Soviel hat aber die vollzogenem l^ebersieht
ül)er die Entwicklung der Wellenranken -Friese in (U'r römischi'ii
Kaiserzeit Avohl zur Gewissheit dargethan. dass die l']ntn,itnralisirung
dieses gemeingebräuchlichsten Friesschemas etwa um loo n. < h. so weit
vorgeschritten war, dass dieselbe zum Atisgangspuid-;te einer selbstän-
digen Entwicklung werden konnte, s(il)ald einmal dureh eine erfulgle
politische Zerreissung des Ilniversalreichs ;mcli in ilie l'.inheii dei- rr)nii-
selicn T'iiiversalkunst Bresche gelegt Avar.
Kankcii wcitcrlauten y.n lassen. Als Zwisclion^-liecl gehe ich oVxmi (Fig. K57) eine
Stuckbordüre aus Pompeji, nach Nicolini Dcscriz, geucr. 4").
IV.
Die Arabeske.
Die Arabeske ist das Pt'Ianzenraiikenornament der sara-
ceni seilen Kunst, d. i. der Kunst des Orients im Mittelalter und in der
neueren Zeit. Der Gegenstand, den wir in diesem Schlusskapitel zu
behandeln gedenken, schliesst sich somit chronologisch wie entwick-
lungsgeschichtlich unmittelbar an denjenigen, der im vorhergehenden
Kapitel seine Erörterung gefunden hat. Ist nämlich unsere eingangs
gegebene Definition richtig, so drängt sich schon mit Eücksicht auf
das all waltende Cansalitätsgesetz die Vermuthuiig auf, es müsse
zwischen der saracenischen und der ihr zeitlich unmittelbar voraus-
gehenden antiken Ornamentranke ein genetische)' Zusammenhang ex-
istiren, Avelchen im Einzelnen genau und schrittweise nachzuweisen, im
Folgenden unsere Aufgabe Aväre. Es darf aber nicht verschwiegen
werden, dass die bezügliche Definition heutzutage noch keineswegs ein
ausgemachtes Gemeingut der kunstforschenden Kreise bildet. Dieser
Umstand lässt es empfehlenswerth erscheinen, vorerst einmal ein fer-
tiges, völlig ausgebildetes Beispiel einer Arabeske in Betrachtung zu
ziehen, und an der Hand desselben jene bestimmten Eigenthümlieh-
keiten zu enU'tern, welche den Pflanzenranken-Charakter daran trüben
und unterdrücken. Damit wird uns zugleich auch erwünselite Gelegen-
heit geboten sein, die wesentlichsten Einzelmotive des Arabeskenorna-
ments kennen zu lernen, und somit den Grandcharakter dieser be-
deutsamen Ornamentgattung scharf zu erfassen. l)evor wir an die
eigentliche Untersuchung der Frage nach ihrer historischen Abkunft
schreiten.
Da es also nun einmal durch die Umstände geboten erscheint, an
den Anfang das Ende zu stellen, so wählen wir gleich ein aller-
spätestes, halbmodernes Beispiel (Fig. lo8), eine dekorative "Wand-
IT*
260
Die Arabeske
Fig. 138.
.\rabeskc von ciuei- modernen Wandni.alerei, aus St.imbul.
maierei') aus des Sultans Alulul X/Xv. l'alaste von 'rsrlirr.i^Mn. Wir
},'ewalircn da «-in S|iic| v(^ii tv-iiim, s|iir;ili^- finj^-crollten oder doch l)og'en-
förmij^ verlaufenden Linien, an denen j^n-wisse Itrcitere Mnti\c li.ii'ten.
') Larchitccture ottomaiie. ix'intine.s innialc^ III.
Die Arabeske. 261
Die Kouturen dieser ^lotive bewegen sich gleichfalls in Kurven. Wir
unterscheiden darunter einige wenige Haupttypen, die in mehrfachen
Varianten-) immer wiederkehren:
a, b, ein zweispaltiges Motiv;
c, d, ein in seiner einfachsten Form fast tropfenähnliches, öfter
aber mit einem oder selbst mehreren Ansätzen versehenes Motiv, in
welch letztem Falle es sich in der Grundform dem Motiv a nähert:
e, f, g, reicher gegliederte Gebilde, zum Theil (f, g) streng sym-
metrisch. Das Motiv g erscheint im Allgemeinen als Verdoppelung
von d-^).
Welche Grundbedeutung haben wir den Motiven a-g beizumessen V
Naturalistische Nachbildungen realer Wesen oder Dinge sind es gcAviss
nicht: die Stüisirung giebt sich vielmehr als eine ausgesprochen und be-
wusst abstrakte. Dies geht aber doch wieder nicht so weit, dass wir
die Motive dem Bereiche des geometrischen Stils zuzählen dürften.
In solchem Falle wäre streng symmetrische Bildung oberstes Gesetz,
das wir aber bloss an f und g befolgt sehen. Der Schluss ist somit
unabweisbar, dass ein Bezug zu gewissen realen Dingen als Vorlnldern
dennoch obwalten muss.
Vergleichen Avir mit dem gegebenen Beispiel aus dem 11». Jahrb.
ein solches etAva aus der Mitte der Entwicklung. Fig. 139 giebt die
Randleiste eiaer Miniaturhandschrift^; wieder, die laut inschriftlicher
Datiiting im Jahre 1411 am Hofe eines der egyptischen ]\[ameluken-
Sultane vollendet Avorden ist. Die gescliAvungenen Linien, die hier
ebenso Avie in Fig. lo8 das Gerippe des Gesammtornaments bilden, sind
in diesem Falle etAA-as stärker gezeichnet. Die kreisföraiigen Ein-
-) Nur die Avichtigsten und am meisten charakteristischen unter diesen
Varianten finden sich oben in Zeichnung- reproditcirt. Die übrigen lassen sich
hiernach leicht feststellen.
•^) Die Kugeln, in welche die meisten Enden auslaufen, sind als solche
nur für das A^orliegende Beispiel charakteristisch. Sie sind entAveder als kleine
Spiralschösslinge oder als schematische Umschreibungen A'on kleinen Blatt-
fe ^
tig'uren in Vollansicht (auf das Dreiblatt reducirte Palmetten) oder in Profil
(Halbpalmetten) aufzufassen, Avie nebenstehende Beispiele aus einem kairenischen
Mamiskript A'om J. 1411 beweisen, AA'oraus auch unsere Fig. 139 mit den gleichen
kugeligen Rankenenden genommen ist.
^) Bourgoin, Precis de Tart arabe IV, 27.
'2ß2
Die Arabeske.
rolluug-eii treten zurüek und werden kaum bis zur Si virale gesteigert.
Die Bogeuform ist aber aueli hier in der Linien füln-un-:' durehau.- In-i-
behalten : dabei tritt eine Eigentliümlichkeit klar und deutlich /u Ta^-e.
die in Fig. 138 der sehwachen Zeichnung der Linien halber nur dem
mit dem Wesen dieser Ornamentik Vertrauten erkennbar ist. Wir >ehen
nämlich in Fig. 130 die Linien stellenweise zu anscheinend selbständigen
Konfigurationen zusammentreten, von denen die durch eine eigene
Fig. 13!'.
Arabeske in Miniaturmalerei, aus einer Uandsclirilt vnm .Jahre 1411. in Kairn
schwarze (ii-uiuliruiig ausgezeichnete besonders in die Augen tiilli. I )a
aber die Lini»-nfuhrung durcliAveg aus dem Hitgen heraus zu gex'heln'U
hat, so verlauten die Konturen dieser Konliguratioueu notliwemliger-
weise fortwährend nur in convexen und eoncaven Au>bueh-
tungeii'i, und wo zwei solche karniest'örmig gesehwuugeue Linien
unter einem .spitzen \Vinkel zusamnn'nireten , dort entsteht el.enr.dls
*) Die li('rzt"iniii;;'('n \'erscliliii;4'ung'en der Konturen tr;ii;-en im vcirlie;;'('n-
dcn Falle allerdings dazu hei, das ( Irundschenia in seiner eintaelisten IVinii
/,n verdunkeln
Die Arabeske. 26o
folgericlitig-ermaassen eine kielbog'enartig ausg'eseli weifte s[)itze
Ausladung'.
Fassen wir nun die Einzelniotive in"s Auge, die sieli an die das
Gerippe bildenden Linien ansetzen. Auch von diesen geben wir neben-
stehend die wichtigsten in besonderer Reproduktion, und versehen sie
mit den Xummern, Avelche wir den parallelen Motiven von Fig. 138
gegeben haben''').
"Worüber uns die in blossen Umrissen gezeichneten Motive in
Fig. 138 im Zweifei gelassen haben , dafür bieten uns diejenigen von
Fig. 139 infolge der ihnen verliehenen Modellirung willkommenen Auf-
schluss. Die blatt artig ausgezackten Linien, durch welche diese
Modellirung bewerkstelligt erscheint, stellen in zweifelloser Weise
die Verl)indung mit dem Pflanzenhabitus her. Stilisirte Blatt-
oder Blüthenformen sind es, die uns in Fig. 139 a-d entgegentreten;
daraus ergiebt sich aber zugleich mit Nothwendigkeit, dass wir berechtigt
sind die Linien, an welchen die bezüglichen Motive haften, schlankweg
als Eanken zu bezeichnen.
Die Motive a-d sind augenscheinlich sammtlich in Seitenansicht
gehalten. Bemerkenswert]! an und für sich und auch für die Profil-
richtung ist die volutenfr»rmig gekrümmte Linie, der IJalhkelch, der sich
an jedem einzelnen der Motive a-d unten am Ansätze eingezeichnet
findet. Innerhalb dieser Gemeinsamkeit lässt sich aber eine Zweithei-
lung vornehmen. Die Motive a und b stellen sich dar als Ga1)elungen
eines Motives in der Seitenansicht: wir wollen demgemäss hiefür die
Bezeichnung Gabelranke'') Avählen.
Die Motive c und d hingegen sind Einzelmotive; d nähert sich
seiner Gliederung halber dem Typus b. Da d augenscheinlich die
Hälfte von g darstellt, wollen wir vor der Fixirung einer Bezeichnung
für die Motive c, d, die übrigen drei in Betracht ziehen.
Die Motive e, f, g, bezeichnen pflanzliche Blüthenmotive in Voll-
ansicht. Als absolut war dieselbe allerdings schwerlich gemeint: dass
^) Nur hinsichtlich der Fig-. f obwaltet beiderseits keine unmittelbare
Analogie. — Die Ausläufer der Eanken sind zum Theil kugelförmig wie an
Fig. 138, (vgl. Amn. 3), zum Theil als spiralige Einrollungen deutUch
charakterisirt.
'') Früher (im Jahrbuch der kunsthistor. Samml. des österr. Kaiserhauses
Xin. 267 ff.) habe ich das Motiv als zn-iespältige Rankentheilung bezeichnet;
im Text zu der vom k. k. österr. Handelsmuseum herausgegebenen Publikation
über „Orientalische Teppiche" erscheint bereits die obige kürzere Bezeichnung
gebraucht.
264 ^^^ Arabeske.
ciber eiu puizes Blütlieniiiutiv vi'iiiri;t, beweisen sclioii allein die zwei
seitlichen volutenartig- gekrümmten Ausladung-en , worin wir wohl den
Volutenkelch zu erkennen haben. Dieses Element, dessen Wichtig-
keit und Bedeutsamkeit für die gesammte Geschichte der Ornamentik
bereits bei der Erwähnung seines ersten Auftretens in der egyptischen
Kunst (S. HO) gebührend hervorgeholien wurde, begegnet uns an Fig. e-g
nicht bloss wie an a-d als Ilalbkeleh eingezeichnet, sondern auch in
der Silhouette ausladend. Da der Volurenkelch in der antiken Plianzen-
ornamentik einen wesentlichen und charakteristischen Theil der Blume
in halber Vollansicht, der von uns sogen. Palmette ausgemacht hat, so
wollen wir das analoge Motiv in der Aralieskenornamentik — unljc-
."^chadet der vorzubdialtenden Frage nach einer etwaigen gegenständ-
lichen Bedeutung dieser Motive bei den saracenischen Kunstvölkern —
als .^(n-acenisc/ie Pahnette bezeichnen. Innerhalb des Grundschemas sind
je nach dem Eeichtluini der Gliederung zaldreiche A'arianten inOglirh:
die einfachste Form ist durch g repräsentirt, wofür Avir ihres ül)eraus
häutigen Wiederkehrens halber eine besondere Bezeichnung, als sara-
cenisches Dreiblatt festsetzen wollen.
Hieraus ergiebt sich unmittelbar aucli die Bezeichnung, die wir
für die Motive c, d zu wählen haben. Erscheint d als die Hälfte der
Palmette g, so werden wir das erstere als saracenische Nalbpalmctte be-
zeichnen ditrfen, umsomehr als auch für dieses Motiv ein entsprechend
Ijezeichnetes Analogon aus der Geschichte der antiken l'Hanzenorna-
mentik vorliegt.
Die gegebenen Bezeichnungen haben wir a orerst bloss festgesetzt,
um für Jedes der Einzelmotive, mit deren Geschichte Avir uns im Fol-
genden zu befassen haben, ein Verständigungsmittel zu scharten. Es
ist aber unausweichlich, dass dadurch schon von vornherein die Kieh-
lung gewiesen, die Neigung <'rweekt wird, die vorläufig bloss ntmii-
nellen Beziehungen zwischen der antiken und der saraceniselieii Tal-
metten- Ornamentik in sachlichem Sinne zu nelnnen. wozu \\\v die
Berechtigung erst werden erweisen müssen. Em nun die Betrachtung
der V>eiderseitigen Motive von rntwicklungsgescliieliilielieui (iesidUs-
punkte zu erleichtern und mögliche Missverständnisse zu vermeiden,
soll gleich hier Eingangs vorausgeschickt Averden, dass es nicht so
sehr die strenge griechisclie Palmette ist, deren nnniiiirlh.ncu .\1>-
kr.nnnlingen wir in <b'r Arabesken-Ornamentik Ix'gegnen \\ti<i(ii. son-
d<-ni deren naturalisii'te Fortbildungen aus der hcllenistisclMii und der
römischen Kunst. Der Akanthus ist es, der uns /.. B. in der ]\Io<lel-
Die Arabeske. 265
lirung- von c, d entgegentritt, und nicht der starre Fächer der strengen
griechischen Halbpalmette. Es braucht hiefür bloss an das Ergebniss
unserer früheren Untersuchungen über den Akanthus (S. 218 ft') erinnert
zu werden: das Akanthusblatt in Yollansicht ist ja selbst nichts an-
deres als die naturalisirte Palmette, das Akanthusblatt in der Profil-
ansicht (etwa in der Akanthusranke) nichts als die naturalisirte Halb-
palmette.
Damit soll aber nicht gesagt sein, dass das strenger stilisirte
griechische Kankenornament von der saracenischen Arabesken -Orna-
mentik grundsätzlich ausgeschlossen gewesen ist. So wie in der ganzen
römischen Kaiserzeit die griechischen Palmettenranken neben der
Akanthusranke in VerAvendung gestanden sind, liefen auch in der
saracenischen Kunst allezeit strenger stilisirte Rankenbildungen und
Blüthenmotive neben solchen eines mehr naturalisirenden Charakters
einher. Den Nachweis hiefür Averden wir späterhin an der Hand von
Denkmälern zu führen in der Lage sein; hier sei nur zur vorläufigen
Probe auf den augenfälligen Unterschied verwiesen, der in Fig. 130
zwischen d und g zu beobachten ist. Die Halbpalmette d ist akanthi-
sirend gebildet, gleichsam perspektivisch projicirt: die Vollpalmette g
dagegen ist reines „Flachornament", an welchem ein Bestreben, der
natürlichen ^Erscheinung in der zeichnerischen Wiedergabe greifbar
näher zu kommen, nicht ersichtlich ist.
Doch dei- genetische Zusammenhang der Arabeske mit der klas-
sisch-antiken Ranke ist ja dasjenige, was Avir erst bcAveisen wollen.
Als ausgemachte Voraussetzung dürfen Avir auf Grund unserer Erörte-
rung der Einzelmotive von Fig. lo9 bloss den Umstand ansehen, dass
die Arabeske als Pflanzenrankenornament aufzufassen ist. Versuchen
AAir es zuerst dasjenige festzustellen, Avas die saracenische Ranke von
der klassisch-antiken unterscheidet; auf diesem Wege AA'erden Avir am
raschesten dazu gelangen, ein genaues Bild von den Sondereigenthüm-
lichkeiten der Arabeske zu gcAvinnen. Diese Unterschiede betreffen
theils die das Gerippe bildenden Rankenlinien, theils die Behandlung
der BlüthenmotiA^e.
In der Führung der Ranke nlinien herrscht zAvischen dem
klaj^sisclien Rankenornament und der Arabeske der grundsätzliche
Unterschied, dass bei dem ersteren die einzelnen Ranken klar und
selbständig neben einander über den Grund hinAveggelegt erscheinen,
AA'ährend sie sich bei der Arabeske A'ielfach durchschneiden und
durchkreuzen. ZAvar verhält es sich aucli mit dieser Definition Avie
26(3 Die Arabeske.
mit fast allen anderen, die die obersten Trineiiiien einer jeweiligen
Ornamentik betreffen: absolute Geltung" schlechtweg- darf man ihr nii-ht
beimessen. Auch das antike Rankenornament kennt gcAvisse Dureh-
schneidungeu: 7Atm Beweise dessen braucht bloss auf das Ranken-
g'eschlinge i Fig. 83) rückverwiesen zu wei-den, von den natnralisirenden
Blumenranken der aitg'usteisehen Zeit g-anz zu gesehweigen^i. Ander-
seits werden wir Beispiele von Arabesken-Füllungen kennen lernen
(Fig. 11*7), an denen die Rankenlinien nicht minder Avie in der sti-engen
hellenischen Ornamentik klar und selbständig, ohne alle Dun-lischnei-
dungen, nebeneinander gelegt erseheinen. Aber in allen diesen Füllen
handelt es sich um Ausnahmen, denen gegenüber die weitaus ülier-
wiegende ^lehrzahl der Denkmäler unsere oben gegehene Deiinition
rechtfertigt.
;Mit der wechselseitigen Durchkreuzung der Ranki'ulinien hängt
die bereits vordem (S. 262) bei Besprechung von Fig. 1.'!'.' betonte Eigeu-
thümlichkeit der Arabeskenranken zusammen, innerlialb des Gesammt-
musters in regelmässiger Folge bestimmte a b g e s c h 1 o s s e n e K o m -
partimente in Form von sphärischen Polygonen zu bilden, die t'ür
den darin betindlichen Inhalt (natürlich ebenfalls Blumenranken)
gleichsam den Rahmen bilden. Eine solche Verwendung der Ranken-
linien hat zur Voraussetzung, dass denselben eine selbständige und
bedeutsame Stellung gegenüber den Blüthenmotiven eingeräumt Avurde.
Soll die Ranke vollständige KompartiuKnite bilden, so muss ihr •meh
von vornherein die IMöglichkeit gegeben sein, sich entsprechend zur
Geltung zu bringen. Nun haben Avir als LeitmotiA^ des Ausbildungs-
processes der klassisch -antiken Ranke das Bestreben gekennzeichnet,
die daran zu Tage tretenden Palmetten a'Ou Idossen ZAvickelfüllnugen
ZAvischen den Rankengabelungen zu Avirklichen und selbständigen
Blüthenmotiven zu emancipiren, d. h. die Bedeutung dieser letzteren
gegenüber der verbindenden Ranke zu stärken. Uns schien dieses
Bestreben offenbar zusannnen zu hängen mit der naturalisirenden Ten-
denz, die sich in der grieehixlien Plhanzeiiornanu'ntik mindesten> seit
d<-m .'i. .lahrli., vielleicht sogar schon s<'it viel frühei-er Zeil, üiienn.-ielitig
gelt<'nd gemnclii hat. AVenu wir nun au ijer .\ral>e>ke (his eiitgei;<'n-
') An fler tVirtlaut'cnden Weilenranke römischen (liarakters Fig. VM
ZAveigcn hinge blüthenbekrönte Rankenstengel ab, die die IlauptranUc mehr-
fach durchschneideii; dies g-e.schieht aber in freier, Ix'wusst iiaturahsti'-chcr,
AVfil a.synnnetrischer Weise, wogegen die Durchschneidungen der saracenisclien
liaiiken stets jiach einem streng .syujmetriscli-oniann'ntak'n Grundidaii erfolgen.
Die Arabeske. 267
gesetzte Bestreben walirnebmeii — ein Bestreben, das darauf gerichtet
war, die Eankenlinien, die das geometrische Element in dieser ganzen
Ornamentik bilden, Avieder zu raaassgebender Geltung zu bringen —
so liegt der Schluss auf der Hand, für dieses rückläutige Bestreiken
auch eine der hellenischen entgegengesetzte Grundtendenz in der
künstlerischen Auffassung des Pflanzenrankenornaraents verantwortlich
zu machen. War das Ziel der griechischen Künstler eine Ver-
lebendigung der Palmettenranken, so erscheint als dasjenige
der saracenischen Künstler umgekehrt die Schematisirung,
Geometrisirung, Abstraktion.
Der Ausgangspunkt der Pflanzenornamentik im Orient (Egypten)
war die geometrische Spirale (Fig. 25) , an welche sich die Blüthen-
motive als blosse accessorische ZAvickelfüllungen anschlössen. Die
Griechen gestalteten daraus die lebendige Eanke, an deren Schösslinge
und Enden sie schön gegliedert«- Blüthenmotive ansetzten. ]m saraceni-
schen Mittelalter kommt der (wie wir sehen werden, schon in spät-
antiker Zeit wieder angebahnte) orientalische Geist der Abstraktion
abermals zur Geltung, indem er die Ranke wiederum geometrisirt.
Zwar die fundamentalen Errungenschaften der Griechen — die rhyth-
mischen Wellenranken und der freie Schwung über grössere Flächen
hinweg — wurden nicht mehr preisgegeben, letzterer sogar nach be-
stimmter Richtung hin weiter entwickelt. Aber das geometrische Ele-
ment drängte sich allenthalben Avieder in den Vordergrund: in der
Führang der Rankenlinien drückt sich dies ganz besonders prägnant
aus eben durch die sphärisch-polygonalen Kompartimente, die ja zweifel-
los dem geometrischen Formenbereiche angehören.
■ Hier erscheint es mir zweckmässig einen Seitenblick einzuschalten
auf die so überaus reiche Entwicklung, Avelche die Bandverschlin-
gung in der saracenischen Kunst genommen hat. Den Ausgangspunkt
liiefür bildet das antik - orientalische Flechtband (Fig. 33). Von den
Griechen der klassischen Zeit wurde es immer maassvoll angewendet.
In Pompeji tritt es uns schon öfter entgegen, und zwar stets als einfassen-
des, bordirendes Element. An Mosaiken der späteren römischen Kaiserzeit
vermehren sich die zu je einem Flechtmuster vereinigten Bänder: in
Fig. 140^) sind sie bereits kaum mehr zu zählen, aber noch auf die
Bordüre beschränkt, in Fig. 141"') endlich ist das Bandornament
für würdig befunden ein Innenfeld zu schmücken.
3) Wilmowsky, Mosaiken von Trier Taf. III.
») Ebenda Taf. VIIT.
i>68
Die Arabeske.
Dies ist der eutscheideiide Ausgangspunkt für die gesamnite nach-
folgende EutAvicklung des Bandverflechtungsornaments im Morgen- -wie
im Abcndlande. Dieses im Grunde bedeutungslos-geometrische Element,
das die klassische Kunst bloss zu untergeordneten Einfassungszwecken
benützt hat. wird von der spätantiken Kunst, in welcher das Bedeu-
tungsvolle wiederum zurückgedrängt wird und der reine dekorative
Schmückungstrieb in den Vordergrund des Kunstschaffens tritt, als
voUgiltiges Hauptmotiv der Dekoration hingenonnnen. Daher rühren
die Bandverschlingungen auf den altchristlichen Sarkophagen und Am-
bonen, wovon sich so zahlreiche Trümmer in den Vorhallen und Kreuz-
gängen der altchristlichen Basiliken Konis eingemauert finden, daher
l'ig. 140.
EckstUck von der hordiirc eines
spät römischen Mosaikfussbodens.
l'ÜlluUo'>atÜck Voll uillClll Spill IMUlibchcU
Jlosaikfussboden.
die byzantinischen Entrelacs, welche selbst schon Buurgoin") als die
unmittelbaren Vorläufer der saracenischen Verschlingungeii und \er-
gitterungcn anerkannt hat.
Diese AbschAveifung auf das Gebiet des Entwiekliings])rocesses
i\i-v mittclalterliejien Bandverkreuzungen erschien iiMiliwciidig. um hier-
mit zugleich den ;nitin;itni';distiseli<'n . /um Absiti'.ikleii geneigten Zug
in der Stilisirung der Aralxskenranke anscliaulicher und verständlicher
zu machen. Man wii'd nun nicht mehr zwcileln können, dass es der-
selbe Zug gewesen ist, di-i' i'inei'sciis die geometrischen Bandvrrselilin-
gungen so reich und üj^iig ausgebihlct , .iiulcici-seiis die Ixaidcenlinien
der Arabeske zu wechselseitiger Durelixiineiilung und Durchkreuzung
gebracht hat. Damit erscheint zugleich eine Erklärung des Umstandcs,
") Lc8 arts arabes 24.
Die Arabeske. 269
wieso die Saracenen schliesslich zu einer von der klassisch -antiken
anscheinend so grundsätzlich abweichenden Behandlung- der Eanken-
führung* gekommen sind, aus dem Gesammtcharakter der saracenischen
Kunst heraus geliefert.
Betraf der besprochene erste Punkt, in dem sich die Arabeske
vom klassisch-antiken Bankenornament fundamental unterscheidet, die
Führung der Rankenlinien, so beruht der zweite, nicht minder Avesent-
liche Differenzpunkt in der Behandlung der an die Rankenlinien
angesetzten Blüthenmotive. Und zwar sind es niclit so sehr die
Motive selbst, die den wesentlichen Unterschied begründen: wir werden
im 14. Jahrh. Beispiele saracenischer Rankenmuster (Fig. 189 b, c)
kennen lernen, die den griechischen der besten Zeit überaus nahe
stehen; andererseits werden uns bereits im 5. Jahr. n. Chr., also noch
unter voller Herrscliaft der späten Antike, Blüthenformen von einer so
weitgediehenen Rückstilisirung in's Abstrakte (Fig. 143) begegnen, wie
sie auch an den gegebenen Beispielen aus dem 15. (Fig. 1.B9) und
19. Jahrh. (Fig. 138) nicht übertroffen erscheinen. Es ist vielmehr das
Verhältniss der Blume zu der Ranke, an welcher sie haftet, wodureli
sicli das Arabeskenornament vom klassiscli-antiken abermals in ganz
grundsätzlicher Weise unterscheidet.
In der antiken Rankenornamentik setzen die Blüthenraoti^-e der-
maassen an die Hauptranke an, dass von letzterer kleine Schösslinge
abzweigen, an deren Ende dann die Blume versetzt wird. Das Ver-
hältniss ist somit das gleiche wie in der Natur: der Stiel, der Schaft
ist das untere; die Blume ist die Bekrönung, die freie Endigung.
Betrachten Avir dagegen das Motiv a in Fig. 139 '2). Die beiden
Theile, in welche sich dieses ^lotiv von zweifellos vegetabilischer Be-
deutung gabelt, bilden nicht die freien Endigungen der ihnen zur Basis
dienenden Rankeneinrollung, sondern sie verdünnen sich gegen das
Ende zu in neuerliche Ranken: die eine endigt schliesslich in eine
Kugel, welcher, sei es eine kleine spiralige Einrollung, sei es ein frei
auslaufendes Drei- oder Halbblatt, zu Grunde liegt; die andere bildet
mit einem zweiten gleichfalls von einer Gabelranke herkommenden
Schössling einen Kielbogen, an den sich ein grösseres, die freie Eck-
lösung bildendes Dreiblatt ansetzt. Gemäss früheren Ausführungen
werden wir die Gabelranke a als uvfrei bezeichnen.
'2) An Fig-. 138 aus dem 19. Jahrh. ist das bezügliche Verhältniss natür-
lich nur ein womögUch noch entschiedeneres imd vorgeschritteneres.
270 Die Arabeske.
Das Gleiche gilt von der Ilalbpalmette c. Das spitz zulaufende
Ende derselben setzt sich fort in einer Kanke, aus der sicli im Aveiteren
Verlaufe eine Gabelranke entfaltet. Aber selbst auf die vollen Pal-
metten erstreckt sich diese eigentliümliclie Verijuickung" der Kanke mir
der Blüthe. In Fig. 13i) tritt diese zwar nicht besonders augenfällig zu
Tage, da die zAvei Gabelranken, die von dem mittleren Dreiblatt iu
dem schwarz grundirten sphärischen Polygon abzweigen, nicht an das
spitze Ende, sondern an die Seiten des kielV)ogenförmigen Blattes an-
setzen. Deutlicher ist es an Fig. KhS an dem Di'ciblatt etwas rechts
von der Mitte zu sehen '3).
()1> Avir uns nun unter tlen bezüglichen ^Motiven Blumen oder
Blätter oder Knospen vorzustellen haben: die Eigenthündielil<eit . von
der krönenden Spitze derselben die Ranken Aveiter laufen zu lassen,
verstösst in jedem Falle wider die Natur. Es offenbart sich darin
zweifellos Aviederum Jener ausgesprochen antinaturalistische Zug, den
Avir schon als für die Behandlung der Kankenlinien so Avesentlieli
maassgebend befunden haben. Die klassisch-antike Ornamentik hat
sich diese Freiheit anscheinend nielit erlaubt. An>elieinend, sofern
man nändich bloss die A'ollen und \\ irklichen Blunienmotive (Pal-
metten u. s. AA'.) im Auge hat. Frinnern Avir uns aber an den Selduss-
punkt unserer Betrachtungen über den Fnlwieklungsprocess des tlaeli
stilisirten griechischen Palmettenrankenornaments in liellenisiischer
Zeit, den Avir bereits ausdrücklich (S. 243 f.) als den Ausgangspunkt für
das Aufkoramen der unfreien llalbpalmetten bezeichnet hab(Mi : feiMier
an das Resultat unseiTi- rntiTsuehungen über die Al^autlmsranke in
römiseher Zeit (S. 'J.')5). an der w'w ijn febergreifen der gleiclum l\'n-
denz auf das plastisch-naturalistische b'aukeuornament feststellen konnten.
"Wenn wir dortselbst noch Bedenken gehabt liaben, ob die in der un-
freien Beliandlung der 1 1.illipalmetten zum Ausdruck gelangte anti-
naturalistiscJie Tendenz diii antiken Künstlern /.um klaren BcAVUsstscin
gekommen ist. so dürf«'ii \\\y die>e l'>e(lenk< n d<i- Aralyeske gegenüber
völlig fahren lassen. AVir haben daher die lieiretVendeii Moti\'e in
Fig. l.'>ll schlaid<weg als Kuruccninche Halb jHibiu't tan bezeichnet. Der Sache
und der Ilei-kunfl nach sind sie Tsowie die Gabelranken) nichts Anderes
als die Zwickelfülhuigen der klassisch-antiken Hanke. Den Febergangs-
process zwiselM-n beiden im lOinzelnen aufzuzeigen, wii-d den (Jegenstand
'"') D(M" Kankcnscln'issliiig', der rechts von der S])itzo dieses Dreiblattes ab-
zweigen soll, erscheint infolire eines Fehlers in ilcr Kopie initerhalb der Spitze
aiiffesetzt.
Die Arabeske. 271
der naclifolgeuclen Untersuchung bilden. Nur auf einen Umstand soll
noch gleich hier ausdrücklich hingewiesen Averden, da derselbe in be-
sonderem Maasse geeignet erscheint, das eben skizzirte Verhältniss
zwischen den antiken zwickelfüllenden Palmetten und den Blumen-
motiven der Arabeske verständlich zu machen : die der Natur zuwider-
laufende unfreie Behandlung der Blüthen findet sich in der Arabeske
in der Regel wohl an den Halbpalmetten und Gabelrauken, verhältniss-
mässig selten dagegen und erst in einem vorgeschritteneren Stadium
der Entwicklung an den vollen Palmetten.
Die Arabeske treflFen wir an in sämmtlichen Ländern, die sich
der Islam im Laufe der Jahrhunderte unterworfen hat. Hauptsächlich
kommen hier in Betracht: Nordafrika mit Unteregypten, Syrien, Klein-
asien, Mesopotamien und Persien, also im Allgemeinen jene Länder,
die einstmals zum grossen römischen Universalreiche gehört hatten,
und Avie die Denkmäler ausnahmslos beweisen, sich durchweg die
Formeusprache der hellenistisch - römischen Universalkunst angeeignet
hatten. In dieser Kunst spielte, Avie Avir gesehen haben, für die deko-
rativen Aufgaben das Pflanzenranken ornament die AA'citaus Avichtigste
und tonangebende Eolle. Sehen Avir nun im Mittelalter in den gleichen
geographischen Gebieten abermals ein Pflanzenrankenornament, Avenn
auch anscheinend von verschiedener Beschaffenheit, als maassgebendstes
Dekorationselement verAvendet, so erscheint — Avie schon auf S. 259 be-
tont Avurde — der Gedanke an eine genetische Abhängigkeit des zweiten
von dem ersteren unabAveislieh. Es möchte doch mindestens der Mühe
A'erlohnen, dem Aveehselseitigen Verhältnisse etAvas nachzugehen; — um
so unbegreiflicher und Avohl Aviedcr nur aus der unglückseligen kunst-
materialistischen BeAvegung mit allen ihren Konsequenzen zu erklären
bleibt der Umstand, dass man selbst von vielerfahrenen Kunstkennern
der heutigen Tage noch kurz aburtlieilen hört: ZAAäschen klassischer
Antike und orientalischer Arabeske gäbe es keinen Zusammenhang,
Aveil es — nun Aveil es eben ZAvischen Feuer und Wasser keinen solchen
geben könne.
Die bisher verschmähte Untersuchung des Verhältnisses ZAvischen
dem antiken und dem saracenischen Rankenornament Avollen nun wir
im Nachfolgenden anstellen. Was Avir unter Araljeske A^erstehen, was
den herA'orstechendsten Charakterzug dieses für die saracenische Kunst
typischen Ornaments bildet, haben AAir soeben einleitungSAA'eise ausein-
272 I^i*-^ Arabeske.
andergesetzt: wir kennen somit den Zielpunkt, auf den die Entwicklung
losstrebt. "Wir wenden uns nun zum Ausgangspunkte, und nehmen
damit die historische Betrachtung Avieder auf. Dieser Ausgangspunkt
liegt natürlich an der "Wende des Alterthums und des Mittelalters,
wofüi' man gemeiniglich das Jahr 470 n. Chr. als feste Grenze anzu-
nehmen pflegt. Bis zu diesem Zeitpunkte haben wir die Entwicklung
des Pflanzenrankenornaments im vorigen Kapitel durchgeführt. T'olge-
richtig müssen wir nunmehr mit demjenigen beginnen, das die Kunst-
systematiker nach dem Sturze des weströmischen Reiches ansetzen. Es
ist dies im Abendlande die reifere altchristliche, im oströmisehen Kelche
die byzantinische Kunst. Da wir bloss das "Werden der Arabeske im
Auge haben, können wir uns auf das Verfolgen des PHanzenornaments
in der oströmischen Kunst beschränken und von der abendländisch-
altchristlichen Rankenverwendung absehen, wenngleich die beider-
seitige Vergleichung nicht ohne Xntzm und Lehre anzustellen wäre.
1. Da?* PflaiizeDrankeiioruament in der byzantinischen Kunst.
Beginnt nicht schon mit der byzantinischen Kunst etwas völlig
Neues? Wenn man so die landläutigen Aeusserungen hört, möchte es
in der That danach scheinen. Ein historischer Zusammenhang mit der
Antike im Allgemeinen Avird zugegeben, aber im Einzelnen hört man
nur von dem und jenem, das so ganz anders geartet wäre als es in
der Antike der Fall gewesen ist. Dies hat allerdings seine — zwar
auch nur bedingte — Richtigkeit, Avenn man nnter Antike die griechische
Kunst des Phidias und Iktinos versteht. Aber Avie Aveit entl'ernt vom
attischen Architekturideal ist schon das Pantheon des Agrippal Und
doch Avird diesem Niemand die Zugehörigkeit zur klassischen Antike
abstreiten. Es gab einen EntAvicklungsgang in der antiken Kunst der
römischen Kaiserzeit und ZAvar auch einen aufsteigenden, nicht bloss
einen Niedergang Avie man allenthalben glauben machen Avill. Man
weist diesbezüglich gern hin auf die schAvachen zeitgenössischen
Reliefs des Konstantinljogens gegenül)er den A'om Trajanliogen ent-
lehnten, und vergisst dabei vollständig die bcAvunderungswürdige That-
sache, dass uns gerade aus der Zeit des spätrömischen Kaisers Kon-
stantin das erste Bei.spiel einer überAv<,ll,ten Basilika vorliegt! Das
Problem, das die ganze mittelalterliche Bankunst des Abendlandes in
Athem hielt, l)ereits vollendet auf dem monumentalsten Grundplan am
Anfange des I. .I.ilirli. n. < In. I
1. Das Pflauzenruiikenornament in der bvzantinisclien Kunst.
Z*ö
Die byzantinische Kunst ist zuuäclist niclits Anderes als
die spätantike Kunst im oströmischen Reiche. Es existirt kein
irgendwie ersichtlicher Grund, um mit der Erhebung- von Byzanz durcli
Kaiser Konstantin eine Epoche in der Kunstgeschichte anzusetzen.
Nehmen wir bloss die architektonischen Leistungen zum Maassstab.
Byziinz und, seinem Beispiele gemäss, fast das gesammte oströmische
Reich übernahm für das christliche Kulthaus den Centralbau. Das
Schema des griechischen Kreuzes mit centralem Wölbungsraum Avard
nicht erst im kaiserlichen Byzanz erfunden, sondern ist — offenbar als
Resultat hellenistischer Baubestrebungen — ^ schon im 2. Jahrh. n. Chr.
(Musmieh in Syrien) bezeugt. Die Ausbildung dieses fertigen Systems
tür die Zwecke des christlichen Kirchenbaues unterlag keinen wesent-
lichen Schwierigkeiten: in diesem Lichte betrachtet reicht die Hagia
Sophia in baugeschichtlieher Bedeutung an die Friedensbasilika des
Konstantin bei weitem nicht heran. Und was wir die Stagnation, die
„Erstarrung" in der byzantinischen Kunst nennen, das liegt zum grossen
Theile eben in jener Uebernahme eines fertigen, vollendeten Bausystems
begründet: wo keine neuen Wege zu suchen, keine Schwierigkeiten zu
überwinden waren, dort musste man schliesslich in Manier verfallen.
Wir loben die tadellose technische Ausführung byzantinischer Werke
und spenden ihren Künstlern Dank für die traditionelle Bewahrung
der tüchtigen römischen Technik: aber zu den schöpferischen Kunst-
stilen werden wir den byzantinischen niemals zählen, denn gerade
seine reifsten Hervorbringungen sind im Grunde nicht Leistungen der
Byzantiner, sondern die Hinterlassenschaft einer kunstregeren und
schafiTensfreudigeren — der hellenistischen — Zeit.
Noch einen Umstand müssen Avir sofort in der allgemeinen Cha-
rakteristik der byzantinischen Kunst herausheben, um dadurch die
Detailbetrachtung kürzer und verständlicher zu machen. Die Zeit, in
welcher die sogen, byzantinische Kunst anhebt, war trotz ihrer über-
wiegend dekorativen Neigungen zum fröhlich -fruchtbaren Erschaffen
neuer Formen in keiner Weise angethan. Es ging ein Zug nach Ein-
schränkung durch das ganze damalige Kunstschaffen, nach Preisgebung
des unerschöpflichen Reichthums an heiteren dekorativen Formen, den
die hellenistisclie und die frühere römische Kaiserzeit aufgehäuft hatte,
unter blosser Festhaltung Aveniger, der Architektur unentbehrlich ge-
bliebener Elemente.
Das richtige Verständniss für diese Erscheinung Avird am besten
ein Hinblick auf die Aufgaben, die der Skulptur und Malerei in jener
11 i e g 1 , Stilfragen, 18
274 L~>ie Arabeske.
Zeit gestellt ■waren, vermitteln. Eine neue religiöse Vorstellungswelt,
ein neuer Kultus hatten neue künstlerische Bedürfnisse und Aufgaben
geschaffen. Wie Avenig zwar dieselben ursprünglich ein Heraustreten
aus der klassisch-antiken Dekorationswelt nothwendig erscheinen Hessen,
wissen Avir sattsam aus der Katakombenkunst. Erst allmälig verliess
man die Orpheus- und Hermes-Typen und schuf sich selbständige, na-
türlich in klassisch-traditioneller Pose und Gewandung. Aber all dies
war zunächst nur sozusagen Nothbau, ermangelte der wahrhaft künstle-
rischen Dtu'chbildung und Behandhmg. I^s ist ein charakteristisches
Merkmal der altchristlichen Bildwerke, dass an ihnen gerade auf die
eigentlich künstlerischen Momente nur geringer Werth gelegt erscheint.
-Man suchte irgend eine testamentarische Figur, den Träger irgend
einer der neuen religiösen Ideen zti verkörpern: auf Schönheit, ^Vulll-
lattt, Ebenmaass wurde wenig GcAvicht gelegt. Die Form Avttrde vojn
der Idee todtgeschlagen, — soweit dies nämlich bei einem Künstler, der
Avenigstens äusserlieh nocli tmter dem Einflüsse der klassischen Tradition
stand, eben möglich war.
Freilich musste späterhin eine Zeit kommen, wo der unversieg-
bare Drang nach Pflege des Formschönen wieder rege Avurde und sieh
an den christlichen l^ihhverken und Malereien zu bethätigen suchte.
Auch dieser Drang Avurdc im byzantinischen Keiche nahezti im Keime
«■rstickt durch den Bildersturm. Und nachdem auch die letztere Be-
Avegung ausgetobt hatte, Avar doch soviel in der Stimmung der Ge-
müther zurückgeblieben, dass das Kunstsciiatfen auf religiösem Gebiete
dureh Regeln und Satzungen eng umgrenzt wurde. Wie Aveit sich da
Schönlieitsdrang und Avahrer Kunstschattenstrieb nocli beiiiäiigen konnten,
ist es geschehen: dass nicht viel Paiim hiezu übrig Idicb, lag in diT
Natur der Verhältnisse. Ja diese Wiederaufnahme der religiösen Kunst
wurde — von einem gcAvissen Gesichtspunkt betrachtet — sogar zum
Verhängnisse für die Byzantiner: das Hr)chste darin zu erstreben, wie
es die Abendländer thaten, verwehrten ihnen ihre Satztingcn, al)ei' da
doch figürlich-religiöse Darstellungen den Hauptgegenstand künsth:ri-
schen Schaffens bilden sollten, kam man .inderstMls ancii nicht dazu,
die Kunst entschieden auf rein dekorativen Boden, .lut'die i'x'friedigung
blosser menschliclier Schmuckfreudigkeit zu slelitu, welelien Schritt
bekanntlich die Saracenen zu ihrem Vortheile gethan haben. Sc liwan-
kend in der Mitte zwjsclien dem Kingen n.iili dem ilrielisten in iler
religiösen Kunst und dem Streben nach SchalVnng einer niogli» hsi v.di-
komineneii dekorativen .Augenblicks-Augenweide, lieid< s alxr inemals
1. Das Pflanzenrankenornamcnt in der byzantinischen Kunst. 275
erreichend, hat es die byzantinische Kunst zeitlebens nur zu liallien
Leistungen bringen können.
Also eine Reduction des Kunstformenschatzes war das Nächste,
das die Oströmer mit dem überreichen Erbe der klassischen Antike
vorgenommen haben. Das Eine muss man ihnen aber lassen, dass sie
eine gute Auswahl getroffen haben: so wie sie im Kirchenbau das
treffliche Centralsysteni übernahmen, an Stelle der römischen Basilika,
an deren Ungefügigkeit sich das ganze abendländische Mittelalter ab-
zumühen hatte, so behielten sie auch von den ornamentalen Formen
die schmiegsamsten und leistungsfähigsten bei: insbesondere die alten
typischen Wellenrankensysteme.
Indem wir uns nun der Betrachtung des Pflanzenranken-Orna-
ments in der byzantinischen Kunst im Einzelnen zuwenden, müssen
wir abermals die leidige Bemerkung vorausschicken, dass uns hiebei
keinerlei Vorarbeiten zu Statten kommen. Einzelne Details, etwa den
Schnitt des Akanthusblattes betreffend, sind wohl von den Schrift-
stellern, die sich vornehmlich mit den justinianischen Bauten beschäf-
tigt haben, erwähnt und hervorgehoben worden: die Leitmotive der
byzantinischen Dekoration, die grossen Gesichtspunkte, von denen jedes
einzelne Detail Zeugniss giebt, hat man bisher so gut wie ignorirt.
Wir haben an dieser Stelle nicht die Absicht, die diesbezüglich vor-
handene Lücke vollständig auszufüllen: unsere Aufgabe gebietet es,
uns auf das Pflanzenrankenornament zu beschränken. Nichtsdesto-
weniger Avird es die Knappheit der einschlägigen Literatur mehr als
einmal nöthig machen, über Dinge Worte zu verlieren, die längst in
einer allgemeineren Bearbeitung der byzantinischen Kunst ihre P'rledi-
gung gefunden haben sollten.
Als Ausgangspunkt wähle ich ein Denkmal, dessen Entsteh ungs-
zeit sichergestellt ist: die im .Jalire 463 n. Chr. erbaute Johannes-
kirche zu Konstantinopel. Fig. 142 giebt nach Salzenberg'*) ein
Kapital mit darauf liegendem Architrav, soweit derselbe für unseren
Gegenstand von Interesse ist.
Das Kapital gehört der sogen. Kompositform an. Den runden
korbartigen Kern umgeben Akanthusvollblätter, die in zw^ei Reihen
übereinander angeordnet sind. Die Behandlung der Akanthusblätter
■J) Altchristliche Baudenkmale von Konstantinopel IIL 1 ; diese Abbildung-
ist offenbar noch immer treuer als diejenige bei Pulgher, Les anciennes eglises
bvzautines de Constantinople I.
18*
276
Diu Arabeske,
Avar bisher ilasji'uige Moment, das im ^'ol•del•*^•^ulule des Interesses an
den Einzelo-liedern dieses Bauwerlces gestanden ist. Und /war liat man
die langen und spitzen Zacken, in ■welchen die Ränder geselniitten
sind, als eine bemerkenswerthe Nenernng gegenüber der Aveielien,
üppigeren Behandlungsweise der bezüglichen Details am römischen
Akanthus hingestellt '-'•). So auttalliMid die l'.ihlung der cin/elncu Zacken
z;^!
:j{ }Ui iui na IUI ])/c )Ui ^ui
F«f7.'
iil,vjn^:|all!i:,i|jl!]li
rig. 142.
Ka|>iliU imil fU-biUk.-.tl'R-k von der St. .lolianiiokirclie /.n lvonst,aiitiiiii]n'l.
nun i.st, so Ijihlet .sie d(jch nicht da.s eiitschiiiliMidc Mcrkm.d. !•;> wäre
auch unschwer nachzuweisen, dass dieser l'l.itixlmiti nniiiiitilli.ir aus
dem n'iniisehen schm;ilzackigcn lu',rk(immi, wie <t sich ;in so viihii Dcni;-
mäh'i'n n<'l)cii dem weidien'n, virlladi mit liillc des Hohrers skiz/.irlcn
'■') Am ausl'ülirliclisten .1. Str>cy;^'o\vski in den i\nttiieil. des deiit. areliäol.
Instit. zu Athen XIV. 2H0 ff. , wo sicli aucli eine verdienstiiclie Zusaniincn-
stellung des weitverstreuten, bislier ;;-r(isstciitlicils uulieaclitet i;-('l)iicl)ciicH
T'iitcrsucliiui^'suiatcrials findet.
1. Das Ptlanzeiu-aiikcnoniament in der bvzantiiiischen Kunst.
•li i
findet"^). Wäre es hloss hei der langen und spitzen Bildung- der
Eiiizelzacken geblieben, so hätten wir kaum einen genügenden Grund
von einem „byzantinischen'^ Akanthus zu reden.
Das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal für den byzantini-
schen Akanthus beruht in der Auflösung des früheren Gesammt-
blattes in einzelne kleinere Blätter. In Fig. 142 ist es am Kapital
noch nicht genügend ersichtlich, weil daselbst nach dem zwingenden
Vorbilde des römischen Kapitals bloss neben einander gereihte Akan-
thusvollblätter angebracht werden konnten''). Aber selbst an diesen
lässt sich der Umschwung bei näherem Zusehen beobachten: die ein-
zelnen Zackengruppen, die als grössere Zacke in der Peripherie der
Blätter ausladen, sind ungemein tief eingeschnitten. Wäre nicht der
Scheitel-Ueberfall eines jeden Vollblattes, so Avürde der Charakter eines
solchen schon sehr zurücktreten, gegenüber den einzelnen ausladenden
Zacken. Völlig deutlich veranschaulicht sehen wir das Endergebniss
dieses Processes an der fortlaufenden Akanthusranke, mit welcher der
Architrav in Fig. 142 verziert erscheint. ZAveifellos kommt das Blatt-
werk dieser Wellenranke von dem Akanthushalbblatt her, wofür l)loss
auf unsere Ausführungen über die Akanthusranke (S. 254 ff.) rückver-
wiesen zu werden braucht. Aber die vormals einheitlichen Halbblätter
sind aufgelöst in meist drei- , seltener vier- bis fünf-spältige Zacken,
wie sie sich von der Peripherie des Akanthusblattes abgetrennt haben.
Ja noch mehr: diese Drei- (Vier- und Mehr-) Blätter schmiegen sich
bereits den verschiedenen Konfigurationen des Paumes an, der auszu-
füllen ist, lassen sich in die mannigfaltigsten Richtungen und Projek-
tionen pressen.
Es kann nur zur Klärung des Sachverhaltes beitragen, wenn wir
an diesem entscheidenden Punkte einen flüchtigen aber übersichtlichen
Eückblick auf den Entwicklungslauf des Akanthus werfen. Ausgegangen
ist derselbe vom glatten Blattfächer der Palmette : bald knüpft sich
daran eine Gliederung der einzelnen Blätter des Fächers in mehr-
zackige Enden, wie wir sie z. B. am Lysikratesdenkmal bt'reits vor-
finden. Trotz dieser Gliederung bleiljt das Akanthusblatt, sowohl als
"') So z. B. am Hadriansthor zu Adalia. abg-ebildet in Laiickoronski's
Paiiiphylien.
") Am korinthischen Kapital hat sich denn auch das AkantlnisvoUblatt
am längsten bis in die ausgebildete saracenische Kunst erhalten; doch lässt
sich anderseits der Einfluss der Auflösung selbst schon an Kapitalen der
frühbyzantinischen Zeit feststellen (Salzenberg Taf. V).
278
Dir Arabeske.
volles wie als halbes, die ganze bcllenistiselu' und frühere römische
Kaiserzeit hindurch ein ungetheiltes Ganzes. Vorboten der kommenden
Auflösung lassen sich aber bereits an den Beispielen vom Xerva-Forum
(Fig. 135; 136) erkennen: das Uebergehen der einzelnen Ilalbblätter in
ver1:»indende Ranken, das Ineinanderschacliteln von Blättern erscheinen
als geeignete Zwischenglieder, um allmählich die ursiirüngliche Indivi-
dualität des Akanthusblattes zu verwischen. Nun im ">. Jahrh. sehen
wir den Process am Ende angelangt und die einzelnen mehrspaltigen
Zacken lösen sich vom ehemaligen Akanthusvoll- oder Hall)l)lntte ah
und bilden eigene Konfigurationen von selbständiger Bedeutung. Es
hat völlig den Anschein, als ob ein gerader Entwicklungsgang zu gar
keinem anderen Resultate hätte führen können. Der „byzantinische"
Akanthus erscheint hienach als reines Produkt eines von der besten
klassischen Zeit an zu verfolgenden Entwicklungsprocesses, und keines-
Fjg. 143.
Omameiitale Details von der Kirche der lill. Sergius ii. üacchiis zu Koiistantinopcl.
wegs als Schöpfung eines byzantinisclien genius loci oder als Resultat
der Beeinflussung Seitens einer unertiiidliehen „orientalischen" Original-
kunst.
Beispiele von selbständigen abgelösten Zacken des byzantinischen
Akanthus zeigt Fig. 143 aus St. Sergius und Bacchus'*^). Das Avichtigste
Beispiel darunter ist das in der Mitte befindliche sogen. Dreiblatt. Es
zeigt ungefähr die Stilisirung der heraldisehen Lilie. Späterhin ist es
nicht l)l(jss in (l<-r byzantinischen, sondern auch in der saracenisehen
Kunst von solcher Bedeutung gcAvesen, ein so vulgäres Element aller
Dekoration geworden, dass wir ihm an dieser Stelle einige Worte im
Besonderen ^\idm^ll müssen.
Das Dreiblatt ))estelit aus einem Volutenkelcli und krönendem
Blati darüber. Aeusserlich ist es somit fast identisch mii gewissen ab-
breviirtcn Lotusblüthen-Bildungen dei- altoi-ientalischen Künste (Fig. 20,
35). Der reducirti- \'oliiti'nki'h'h dt-r auch im .">. .lahrh. und (larül)er
'») Nach Pulghcr a. a. ( ). III. 2.
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. 279
hinaus immer noch bekannt gewesenen flachen — insbesondere der
gesprengten — Palmette mag- gewiss auf die Stilisirnng des Dreiblattes
Einfluss geübt haben. Dazu kommt aber noch ein Zweites von ganz
Avesentlicher, weil unmittell>arer Bedeutung: der Volutenkelch des by-
zantinischen Dreiblattes war schon an und für sich bedingt durch die
scharfe Einziehung zwischen den einzelnen ausgezackten
Gliedern, in welche eben das alte Akanthusblatt zu zerfallen im Begriffe
stand. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die Drei-
blätter, in welche die Akanthusranke auf dem Architrav in Fig. 142
aufgelöst ist.
Am Dreiblatt ist ferner die Kielbogenform des krönenden Blätt-
cliens zu vermerken. Diese Bogenform ist bekanntlich späterhin ganz
besonders charakteristisch für die saracenischc Stilweise geworden.
Ihr Auftreten in der oströmischen Kunst des 5. Jahrh. Avird uns aber
gleichfalls nicht völlig unerwartet kommen: hat doch das Akanthus-
halbblatt (sowie die gesprengte Palmette) in der ganzen römischen Zeit
und schon früher die ausgesprochene Tendenz nach Fülirung in aus-
wärts gekrümmten, ausgeschweiften Linien bekundet (S. 245.)
Man vergleiche alle die einschlägigen Kapitale aus den Publika-
tionen von Salzenberg und Pulgher, und man Avird sich alsbald davon
überzeugen, dass die Auflösung, die Zerpflückung des ursprünglichen
individuellen Akanthusblattes und die willkürliche Verwendung und
Zusammenstellung der einzelnen Theilglieder (Eig. 143) den wesent-
lichen Unterschied der justinianischen Ornamentik gegenüber der
griechisch-römischen begründen. Um so entschiedener muss eine Hypo-
these abgcAviesen werden, welche den vermeintlich so eigenartigen
Blattschnitt, d. h. die „fette und zackige" Bildung des Blattrandes,
wiederum mit der ostmittelländischen Acanthus sj)inosa, gegenüber der
italischen Acanthus mollis, in Verbindung bringen Avollte'-'). Die Stein-
metzen der Justinianischen Zeit hätten nach dieser Hypothese aber-
mals Blattstudien nach der Natur gemacht, wie dies heutzutage in
unseren Kunstgewerbeschulen zu geschehen pflegt; oder aber sollte die
Gewohnheit solchen Naturstudiums, überhaupt seit Kallimachos in un-
unterbrochener Uebung geblieben sein? Gerade die Auflösung des
ehemaligen Akanthusblattes in spätrömischer Zeit beweist die Unmög-
lichkeit einer solchen engen Anlehnung an bestimmte Naturvorbilder,
und liefert aufs Neue den Beweis, dass die ornamentale Kunst zu allen
9) Mitth. des deut. arch. Instit. zu Athen XIV. 280.
2SQ Die Arabeske.
Zeiten ganz andere, und zwar künstlcrisclicre Wege gegangou ist. als
diejenigen des Kopirens bestimmter botanischer 8pecies nach der Natur.
Bisher liaben "wir bloss von den Veränderungen im ornamentalen
Blattwerk gesprochen; dasselbe erscheint aber am Architrav in Fig. 14-2
in ein fortlaufendes Wellenschema gebraclit. P^.s obliegt uns daher noch
die Behandlung der Ranke auf diesem frühen byzantinischen Beispiele
zu erörtern.
Darf man im vorliegenden Falle übcrliaupt von einer fortlaufenden
Wellenranke sprechen? Vermissen wir doch für's Erste die Ranken-
stengel oder Linien selbst, ferner die Abzweigung der Sclu)sslinge in
dem charakteristischen, kreisfiu-migcn Schwünge nach rückwärts. Es
bedarf einer Erinnerung an den Entwicklungsgang, den das ganze
Motiv genommen hat, um auf dem Architrav in Fig. 142 eine fort-
laufende Wellenranke zu erkennen.
Ausgangspunkt war die blosse Ranke (Fig. 50); in die Zwickel
der spiraligen Al)zweigungen kamen füllende Halbpalmetten (Fig. 70).
In der natttralisirenden Zeit krümmten sich die Fächer der ITalbpal-
metten (Bordüre von Fig. 122) oder sie wurd<'u plastisch-ix'rspektivist'h
ausgeführt als Akanthushalbblätter (Fig. 129, 130). Diese letzteren
trugen aber immer noch Sorge, ihre Spitzenden auswärts zu krümmen,
damit an ihrer selbständigen Individualität kein Zweifel übrig bleibe;
die l\*anken selbst liefen unter den Enden der Halbpalmetleu hinweg
weiter. An mehrfachen Beispieh-n (Fig. 133 — 13G) konnten wir deut-
lich wahrnehmen, Avie die Rankenstengel zusehends scliwaiulcn und
ihre Function auf die Blätter selbst übertragen wurde Als nun das
Akantiiushal1)blatt seine Individualität schon darum verlor, weil es in
eine Anzahl Theilglieder aufgelöst wurde, fiel vollends Jeder weitere
Grund hinweg, an der Fiction eines selbständig abzweigenden l^attes
festzuhalten. Auf dem Architrav in l-'ig. 112 ist es sozusagen eine
einzige Ak.inthnsrii)pe, von welcher t«ii-ilaiifeii(l einzelne Zacken ,iit-
ZAveigen.
Die fortlaufende Wellenranke, die in Fig. 112 in eine i'>oi-(lüre ge-
bannt ist, dient an Fig. 144-'") dazu, ('ine grössere Fläche in tVeien
Schwingungen auszufüllen. Der hellenistischen und früheren imnisehen
Zeit wäre eine blosse Ranke"'), ohne eingestreutes figürliches n. ilgl.
•") Arkadenvcrzieiuiig aus der Jlagia Sophia, naeli Sal/enlx-rg Tat'. XV.
■-') Ebenso wie das Flechtband; vgl. 8.2(38. Es ist einer der entschei-
dendsten Punkte, in denen klassische und si)ätantik-inittelalterliche Ornamentik
aus einander srehen.
1. Das Prtanzenrankeiiornament in der byzantinischen Knnst. 9g ]^
Beiwerk, zu dieser Function ungeiiügeucl erschienen; in spätrüniischer
Zeit Avareii die Anforderungen an die Bedeutsamkeit des Ornaments so
geringe geworden, dass die Akanthusranke öfter zur Musterung grosser
Innenfläclien herangezogen wurde'--). An die fortlaufende Eanke setzen
sich die Theilglieder der ehemaligen Akanthushalbblätter der Reihe nach
an, und ZAvar unfrei, ohne selbständige Stielung. Dass darin das ganze
Geheimniss der Arabeskenornamentik liegt, hat schon Owen
Jones erkannt, wenn auch nocli nicht völlig richtig erfasst. Im Text zu
den arabischen Ornamenten seiner Grammatik der Ornamente hat er den
Arkadenwand- Ausschnitt Fig. 144 gleichfalls abgebildet und sagt dazu:
„ . . bildet diese Spandrille jedenfalls die Grundlage der bei den
Arabern und Mauren gebräuchlichen Verzieruno- der Oberflächen. Das
Fig. 144.
Arkadenzwickel von der .Sophienkirche zu Konstantinopel.
Blattwerk, welches den Mittelpunkt der Spandrille umgiebt, ist zwar
noch ehie Reminiscenz des Akanthusblattes, doch offenbart sich in dem-
selben der erste Versuch, das Principium der aus einander entspriessen-
den Blätter^^) zu beseitigen, denn die Rankenverzierung ist zusammen-
hängend und ununterbrochen. Das Muster ist über den ganzen Bogen-
zwickel vertheilt, um eine gleiche Färbung hervorzubringen, ein Resultat,
w^elches die Araber und Mauren unter allen Umständen zu erzielen
suchten."
") Apsismosaik der Kapelle der hl. Rutina und Secunda am Baptisterium
des Lateran, nach de'Rossi um 400 ; Deckenmosaik der Apsis von San Vitale.
23) Owen Jones fasste nämlich die Wellenranke nicht als ein fortlaufendes
Einheitliches, sondern als eine äusserliche Aneinanderreihung- einzelner Spiral-
ranken. Die Einseitigkeit dieser Auffassung darzulegen, ist nach den Aus-
führungen im 3. Kapitel dieses Buches Avohl überflüssig.
•2S2 t)i^ Arabeske.
Auch der Umstand, dass bereits in der l'rüliercn riunisclien Kaiser-
zeit Loclverung:en des g-riechischen Priueips, die Blätter selbständig an
eigenen Stielen abzweig-en zu lassen, vorgekommen sind, ist Owen
Jones nicht entgangen: ..Die römischen Ornamente kämpften beständig-
gegen dieses scheinbar unbewegliche Gesetz an, ohne es zu beseitigen."
Aber im Wesentlichen erschien ihm der endgiltige Schritt in justinia-
nischer Zeit doch als eine spontane Eründung, die eine ganz neue
Entwieklungsreihe des Pticinzenornaments geschaffen hat. "Wir waren
im Stande, die frühesten Anfänge und Grundlegungen dieses Processes
bis in die griechische Zeit hinauf zu verfolgen, wofür es Oavcu Jones
hauptsächlich schon an der nötliigen Kenntniss und Uebersicht des
seither durch die Forschung beigebrachten Materials gefehlt hat. Ferner
glaubte Owen Jones das "Wesen der ganzen Veränderung darin zu er-
blicken, dass nunmehr von byzantinischer Zeit an die Blätter sich un-
mittt'll)ar von einer fortlaufenden Rauke, ohne Vermittlung selbständiger
Stengel entwickeln. Darin liegt aber doch nicht der Kern der Sache.
Dieser ist vielmehr in dem Umstände zu suchen, dass das Blatt seine
selbständige Existenz, wie sie ihm in der Natur eigen ist, in der Dekora-
tion verliert. Das Blatt zweigt nicht mehr von der Pauke ab, son-
dern es durchsetzt die Ranke, verwächst mit derselben. An
<len byzantinischen Ornamenten von St. Johannes und der Hagia Sophia
ist dieses Verhältniss noch nicht so deutlich ausgesprägt, Aveil die ein-
zelnen Theilglieder des ursprünglichen Akanthushalbblatts der Reihe
nach scheinbar selbständig von einer Ranke abzweigen. Insofern er-
scheint der Process an den beiden gegebenen Beispielen erst auf linllieni
"Wege angelangt. Das in der Arabeske ausgeprägte Schlussresultat, die
Ranken von den Spitzenden der unfreien Blätter Aviederum weitei-
laufen zu lassen, findet sich an den byzantinischen Beis])ielen noch
nicht \rillig unzweideutig zum Ans(li-iicl< gebracht. Dennoch ist es
— wie wir später sehen werden - für die fi'iihere bv-zaiiiinische Kunst
schon über alle Zweifel hinaus nachzuweisen.
Wenden wir uns nochmals zurück zur iieirac lituug mmi l'ig. IFJ,
wo uns nocli zwei ( »rnamentstreifeu des Kapii;il> zu bes|irecheu lileil»eii.
Der eine zieiit sieh zwischen den zwei lo-r.iieuden \'(iluteii des Kapitals
hin und zeigt eine iut<Tniitiii-ende Welieiii'.nike in ilii'etn nackten
Sclicma. Hier bemerken wir keine Spur xon n.itur.disl isclien Bildungen:
eine blosse glatte Welleidinie schlängelt sich mui i'.lütlie zu i'.lütlie.
Diese letzteren zeigen den N'olutenkelcii «lei- Ihiehen l'.ihiietie in einer
Reducirung, wie sie das oben erörterte DreiliKitt in l-'ig. 11.". aufweist.
1. Das PHanzenraiikenorn.aiiieiit in der byzantinischen Kunst. 283
Aus diesem Kelch erhebt sieh eine dreil)lättrig'e BlUtlienkrone, zunächst
stehend dem dreihhättrigen Lotusprofil. Es kann kein Zweifel sein: es
ist die alte gTiechisehe intermittirende Wellenranke, deren Palmetten
allerdings beeinflusst erscheinen von jener Blattbildung-, die sich in-
ZAvischen am Akanthus infolge der Auflösung seiner individuellen Selbst-
ständigkeit vollzogen hat.
Der Ornamentstreifen endlich, der die Deckplatte ziert, zeigt eine
fortlaufende Wellenranke , aber nach dem alten griechischen Schema :
bloss die abzweigenden Blätter zeigen eine Stilisirung, die gerade so
viel vom Palmettenhabitus noch beibehalten hat, um die Abkunft von
diesem letzteren zu erAveisen. In der Mitte ist dieser Streifen unter-
brochen von einer ausladenden Bosse, die mit einer Lotusl)lüthen-Pal-
mettenreihe verziert ist. Die Lotusblüthen zeigen die gleiche Stilisirung
wie die vorbesprochenen der intermittirenden Wellenranke zwischen den
Voluten des Kapitals, nnd die Palmetten verrathen an den Voluten
gleichfalls die deutliche Beeinflussung des mit dem byzantinischen
Akanthusornament stattgehabten Auflösuugsprocesses.
Was an Fig. 142 und 144 die darin enthaltene Veränderung gegen-
über dem klassisch -antiken Eankenornament für den oberflächlichen
Blick so schwer erkennbar macht, ist der Umstand, dass die Kurven,
in welchen sich die Eankenlinicn bewegen, nichts Auffälliges gegen-
ül»er der griechischen Weise zeigen. Es ist die Bewegung der uns
■wohlvertrauten fortlaufenden Wellenranke, die uns da entgegentritt.
In der That hat die klassisch-antike Rankenornamentik im Allgemeinen
bis an ihr äusserstes Ende niemals verläugnet, dass sie ursprünglich
aus der Spiralornamentik hervorgegangen ist: sell)st als das ausgebil-
dete Akanthushalbl)latt jede Erinnerung an die ehemalige fast rein
geometrische Bedeutung der blossen Zwickelfüllung vollständig ver-
wischt hatte, wurde der rollende Schwung der Ranken immer noch aus
dem Kreise heraus konstruirt.
Betrachten wir dagegen Fig. 145 2^), die gleichfalls von einer Arkade
der Hagia-Sophia entlehnt ist. Fassen wir zuerst das Ornament der Bogen-
leibung oben in's Auge. Die Ranken laufen hier nicht mehr zu runden,
sondern zu spitz ovalen Konfigurationen zusammen. Dieser Punkt ist
■ein besonders entscheidender für den Werdeprocess einer, neuen Im-
jDulsen folgenden Dekorationskunst im Osten des ]\Iittelmeers. Die Ver-
änderung im Verhältniss zwischen Ranke und Blatt, die wir an Fig. 144
'-'*) Salzenbei-g- XV. 7.
284
Die Arabeske.
vollzogen sehen und die schon Owen .Lmes nls so bedeutungsvoll er-
kannt hatte, ist, wenigstens soweit als die Byzantiner in der Zeit
Justinians darin gegangen sind, auch von den abendländischen Künsten
übernommen worden. Dagegen liabcn diese letzteren allezeit an dem
mehr oder minder kreisförmigen Schwung der Kanke festgehalten,
während wir gemäss Fig. 145 schon an der Hagia-Sophia die erwaduMide
Neigung für spitzovale Kankentuhrung beobacliten können--^).
Fig. 14.5.
Kaiiitiil und Stück einer liogcnli'ibung, xmi dei- Snpliicnkirclic /.ii Konstaiitinopel.
Hinsichtlich der Einzelmotivc von i""ig. 1 IT» ist hiii/.iiwi'iscn ,iiif
die gekrümmten Halliiuilnietten, die das vorhcnx'hciidi' Mhiiiciii i\rv
l»lattdekoration l^ihh'u iind überaus bemerkenswert In r M.i.isx'u in sym-
metrischer Paarung zu gf sprengt en Vol 1 p.i hiid t c ii /. iis ,i ni incii -
treten. Die HalV)paliiietteii, die eine solche \'( ill]i,iliiietie znsjiiiimeii.selzeii
L'elien aber nicht von einer und dersellien K';nil<e, sondeni von ver-
-■•'; Auch Inet'ür dürfte d.is Studium |i(iiiiiM'i;iiiisclicr Dckm-.'itloiien eine
ganze Anzahl spielender Vorläufer liefein.
1. Das Pflaiizenrankenoniament in der byzantinischen Kunst. 285
seliiedeneii Stengeln aus. Ancli dies entspriclit nicht dem Vorgänge
in der Natur, avo jede Blütlie ihren eigenen einzigen Stengel besitzt.
Wir haben somit einen neuerliehen antinaturalistischen Zug zu ver-
zeichnen, der für die Arabeske geradezu charakteristisch geworden
ist. Betrachten wir doch daraufhin noch einmal Fig. 139. Links sehen
wir die Gabelranken wiederholt zu kielbogenartigen Kontigurationen
zusammentreten, Avie es eben der BcAvegung der beiden Hälften einer
gesprengten Palmette entspricht. Noch deutlicher prägt sich dies in
der Ecklösung rechts unten in Fig. 139 aus. Hier laufen die Gabel-
ranken von ZAvei verschiedenen Seiten her zusammen und bilden einen
Kielbogen, an den sich erst noch ein Dreiblatt als freie Endigung an-
schliesst. Haben Avir es nun auch an Fig. 145 noch nicht mit Gabel-
ranken zu thun, Aveil die Schematisirung der A^egetabilischen Einzel-
niotive im (>. Jahrh. noch nicht entsprechend fortgeschritten gCAvesen
ist, so ist doch die Neigung, zwei selbständige HalbmotiA^e zu einem
Vollmotiv unter einem geschAveiften Winkel zusammen treten zu lassen,
bereits uuA'erkennbar. Den Anknüj)fungspunkt an das Frühere, Helle-
nistisch-römische, bietet hinsichtlich der gescliAveiften BerührungSAvinkel
die gesprengte Palmette, ferner pompejanische Beispiele gleich Fig. 152,
hinsichtlich des Zusammenlaufens der (kelchbildenden) Rankenstengel
A^on verschiedenen Seiten her schüchterne Vorläufer gleich der oberen
centralen und den seitlichen umschriebenen Palmetten in Fig. 125.
Der Volutenkelch der Halbpalmetten in Fig. 145 ist Aviederum auf
einen fleischigen Blattkelch reducirt; hiebei ist überaus bezeichnend
für die folgende EntAvicklung der Umstand, dass die Kelchbildung im
Stein durch eine runde Vertiefung mittels des Bohrers erfolgt ist: ein
technischer Process, den sich späterhin auch die Saracenen angeeignet
haben.
Das unter der beschriebenen Bogenleibung betindliche Kapital
zeigt in der Mitte kreisrunde Einrollungen A'on Ranken, an die sich
seitAvärts lange geschAvungene Halbpalmetten des gesprengten Typus,
innen in den Einrollungen Ableger des Akanthusblattes ähnlich Fig. 143
ansetzen. Die in einander verschlungenen Kreise als Flächenmuster,
grosse mit kleinen alternirend, kennen Avir aus der römisch -altchrist-
lichen Kunst, AVO sie in die Ornamentklasse der BandA'crschlingungen
einzureihen sind. Dass die Byzantiner dieses Ornament mit besonderer
Vorliebe gepflegt haben, Avurde schon erAVähnt (S. 268). Die Fortbil-
dung, die die Saracenen daran geknüpft haben, hatte zur Voraussetzung
eine freiere Benutzung der Bänder. SoAvie in der Rankenführung sind
286
Die Aralioske.
die RöniLT auch in der Bänderführuiig im Wesoiitlieheu bei der
Kreisform stehen geblieben: die Saracenen haben dagegen ihre Bänder
skrupellos gebrochen und geknickt. So wie Fig. 145 lehrt, dass die
Byzantiner in Bezug auf die Emaneipation der Rankenführung von
der Kreisform die unmittelbaren Vorläufer der Saracenen gewesen sind,
so ergiebt sich aus den Verzierungen des Kapitals Fig. 140-''), dass
auch der Uebergang s'on der kreisförmigen zur geknickten
Bandverschlingung sieh bereits im vorsaracen ise Ikmi Byzanz
vollzogen hat.
Zur weiteren Bekräftigung des Gesagten mögen nocli einige
Details folgen, die den latenten saracenischen Zug in der In'zantinischen
.......
^ i' ■^•^■■-\'~-V 'A^\, ,.-,--1 fv t •--"'-,/-! \ - -^
f
'«Öu-
\^FT' ^^ f> '■'i^ -- v^^- v'"^ '>^~' '»r^' V^ ** -■
Fig. 14G.
Kaiiitiil mit GebälkstUck, von der Sopliieiikirche zu Konstantinnpcl.
Kunst der .Justinianischen Zeit des Weiteren zu (lenionstriren geeignet
sind. Fig. 147 von St. Sergius und Bacchus'-') gielit ein Beispiel für die
P'reiheit, mit der man in der \"erwendung der vom Akanthusblatt los-
gelösten Theilglieder verfulir. "Wir gewaliren da ein reducirtcs Akanthus-
halbltlatt, das in dem uns nunmehr A\ijlil\ci-ti'autcn Kelch aus zwei Spirz-
blättern steckt. Demselben ;^[otiv in hippig-akanthisirender Ausfühnmu-
begegnet man später in der saracenischen Kunst überaus liäufig.
Fig. 148-^) zeigt eine Art von l'almettenstilisirung, die der byzan-
tinischen Avie d< r früh saracenischen Kunst gleich geläufig gCAvesen
ist. Man vergjeiciie damit <len ponipejanisclieii Verläufer dieses ^Intivs
'*) Salzenberg- X\II. I, von der Hagia Sophia.
'^) Saizenberg V. ^.
*^) Salzenherg V. 7, von San Scrg-iuH und liacchus.
1. Das Püaiizenrankenoniaineiit in der bvzautinischeu Kunst.
28:
Vig. 149--'). Fig. 150^") zeigt die Verschlingung zweier Dreiblätter mit
den Stielen, und die Avechselseitige Durcliselmeidung der zwei
henaehbarten Blätter mit ihren Enden: ein Motiv, das in der
spielenden Behandlung der doch noch als vegetabilisch gelten sollenden
Elemente geradezu saracenisch genannt werden könnte.
Fig. 151'^') endlich zeigt die geschnitzte Verzierung von einem
hölzernen Spannbalken der Hagia - Sophia. In dem äusseren Kreise
Fig. 147.
Fig. US. Fig. ULt. Fig. 150.
Fig. 147, 148, 150, 153 Ijyz.antinisch. Fig. 149 pompej.anisch.
links gewahren wir unten zwei divergirende unfreie Halbpalmetten,
deren Scheitelenden zugleich als Stengel für zwei daraus entspriessende
Halbpalmetten der gleichen Art dienen: also das fertige Princip der
Arabeske ohne alle Maskirung. Allerdings gehen diese geschnitzten
Verzierungen nicht in die Zeit Justinians zurück: die Behandlung der
Details ist nicht mehr so scharf und eckig, sondern vielmehr Hüssig
und geradezu geometrisch korrekt. Dass al)er diese Ornamente, die
Fig. 151.
Verzierungeil von einem l)eckenbalken der Sophieukircüc zu Konstantiiiopel.
man ohne Weiteres als saracenische Arbeit des 11. — 12. Jalirh. be-
zeichnen könnte, noch zur Zeit der christlich -griechischen Herrschaft
in Konsttintinopel gefertigt worden sind, beweisen die Kreuze, die sich
an anderen Balken genau der gleichen Art ^2) vorfinden. Xoch immer
^^) Nicolini Pantheon IL
^°) Salzenberg- XVII. 4, von der Hagia Sophia.
3') Salzenberg XX. 14.
2-) Salzenberg XX. 12.
288 I^i'^' Arabeskt'.
liliebf da die AniiabiiK- möglich, das^s diese Schnitzereien entweder un-
mittelbar von Saracenen im Dienste der Byzantiner gefertigt, oder doeli
unter dem bestimmenden Einflüsse einer bereits erstarkten saraeeni-
sehen Kunst entstanden Avären: aber gerade im Hinblick auf alles das
vorhin Gesagte werden Mir keine Xotlnvendigkeit empfinden, fremde
Einflüsse für die Stilisirting in Fig. 151 verantwortlich zu machen.
Der eigenthümliche Eindruck wird Ja voj-nelnnlich liervoi'gebracht:
erstens durch die rund herausgebohrten Löclier für die Blattkelche,
zweitens durch ilas ausgeschweifte HlattMerk. Das eine wie (bis andere
haben Avir bereits an den skuli)ii-ten Dekorationen der Justinianisclien
Zeit festgestellt. Und ^vie die Neigung zu gesehweiften Spitzbogen-
fornien selbst schon in der griechischen Kunst latent gewesen ist, wie
sie l)loss eines Anstosses zu schematisirender Bildung bedurft liat, um
l-ig. 10:;.
Ornamente von iiunipejanischeii WauUmaUTeicn.
als maassgebendes Fornielement ins Lelieii zu treten, dafür cilire ich
nach all dem über die gesprengte Palmette, die auswärts gesclnveiften
Spitzenden der Akanthushalbblätter u. s. w. Gesagten noch die ilrei
nebenstehenden Details aus Pompeji (Fig. 152)''^).
Für das Aufgehen des Blattes in der Kanke, wotür wir soel>en
ein vollendetes Beispiel im äusseren Kreise links von Fig. l.'il kennen
gelernt haben, sind übrigens zweifellose Repräsentanten auch aus früh-
byzantinischer Zeit, von der llagia- Sophia, nachzuwi-isen. Fig. iriß^*!
zeigt drei Akanthushalbblätter rankenartig in einandei- ül)ergeliend.
Fig. 154 und 155 sind von der musivischen Dekoration entlehnt. Frstere
zeigt eine kapitälarlige Zusammenstellung von zwei Halbpalnieiten (h's
gesprengten Typus: der .spiralig eingei'ollte ^'olntenkelcll und ilie
feinen geschweiften Einzelblätter lassen keinen Zweifel iiltrig. Die
äussere Blattrippe aber schwingt sich rankenartig nach abwärts um
und dieni ;ds Stiel einer Palniette. Aehnlich sehen wir an l'Mg. 155
**; Nicolini, Dcscrizione g-cuerale 00.
"*) Salzcnberg XVII. 13.
1. Das PÜanzenvaiikeiiornaiiient in der byzantinischen Kunst. 2(S9
von den Füllhörnern einer nach bekannten ivJmischen Mustern ent-
Avorfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer
Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen-
treten, Avie Avir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der
Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe
oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet
sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge-
tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb-
ständigkeit des Blattes in der Rauke auszudrücken scheint.
Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben-
den Leitgrundsätzen des byzantinischen Kunstschaffens seinen unver-
kennbaren Ausdruck fand, war gewiss das Resultat tiefgreifender Kultur-
vorgänge, worüber Einiges bereits andeutungsweise vorgebracht worden
Fig. 154. Fig. 155.
Von der Mosaikverzierung der Sophicnkirche in Konstantinopel.
ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen Processe
gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders
günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent-
wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele
Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben
mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die
Kunst im Osten des i\Iittelmeerbeckens auch während der römischen
Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken-
ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich,
dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen-
ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der
frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh.
begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, Avie
Fig. 15(3 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a.
die Deckplatte des Kapitals aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier
und PoplcAA^ell, Architekt, byzant. Taf. 39, links mit den liegenden
S-Spiralen und in die ZAvickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz
Riegl, StiU'ragen. 1"
290 I^'^' Arabeske.
nach dem altgriechischen Schema, luir mit byzantinischer Blattstilisi-
rimg: am Halse des Kapitals eine nicht minder charakteristische
intermittirende Wellenranke. Und in der That lehren die -wenigen
römischen Denkmäler auf asiatischem Boden , die man bisher einer
sorgtaltigeren Publikation für Avürdig befunden hat •■■■), dass die inter-
mittirende Wellenranke unter reichlicher Hinzuziehung der flachen
Palmettenmotive daselbst allezeit eine sehr maassgebende Rolle ge-
spielt hat. Dieser Wechselbezug zwischen byzantinischer und helle-
nischer Weise ist auch Salzenberg bereits aufgefallen, der allerdings
Avieder über's Ziel geschossen hat, indem er kurzweg gesagt hat: „Das
(byzantinische) Blattornament zeigt nicht die römische Behandlungsweise,
sondern mehr die hellenische^'^)".
Fij,'. 15G.
GesimsstUck von iler Paiitokrator-Kirclic zu Konstantiuoijel.
Dieser Punkt ist wichtig nicht bloss für die Herausbildung der
Ornamentik drr .lustinianischen Zeit, sondern aueli für die spätere Ent-
wicklung. Es muss im Orient allezeit ein — sei es lokales, sei es an
gewissen Techniken haftendes — Beharren an älteren Weisen, insbe-
sondere an der Flachstilisirung in althellenischem Charakter, gegeben
haben. Nur so ist es zu erklären, dass uns — wie wir sehen werden —
noch an Kunstwerken des V2. — 14. .lahrli. fast rein griechische Panken-
verzierungen begegnen.
Ferner ist die Behandlung des Akantluis, die wir .in den Justinia-
nischen Steinskulpturen vollzogen sahen, nicht die alleini,::c nml aus-
schliessliche im frülibyzantinischen ]\eiche gewesen. Aneli d« r weiche
lappige Ak;intliu> hat daneben — M'ofür uns allerdings Iiauptsäelilicli
die nachfolgende Entw ieklung zum Zeugniss dienen muss — fortdauernd
Verwendung gefunden. Auf diese Unterschiede werden gewiss Material
^'•') Wie /.. 13. die aoiii traten l>aiicUnr(>iiski i)ul>iioii-tcn I»ciikniäli'r aus
I'aiiipliylicn und Pisidien.
■'V A. a. 0. V.K
1. Das Pfiaiizeiiraukeuoniameiit in der bvzaiitiiiischeu Kunst.
291
und Technik von sehr Avesentlichem EinÜusse gewesen sein: so wird
die Malerei natnrg'emäss die lappige Blattbildung bevorzugen, während
die Steinskulptur der scharfkantigen zuneigt. Aber auch lokale Unter-
schiede werden obgewaltet haben — Unterschiede, die zwar innerhalb
der kanonischen römischen Universalkunst keine Avesentliche Bedeutung'
gewinnen konnten, aber zur Zeit, da neue Impulse auftraten, neue
Dekorationsweisen in Fluss kamen, sehr wohl zu einer maassgebenderen
Stellung gelangen konnten. Wir wollen daher, bevor wir an die Erörte-
rung zweifellos saracenischer Denkmäler schreiten, noch raschen
Schrittes die Provinzen des oströmischen Reiches durcheilen, um zu
sehen, welche Fortsetzungen sich daselbst an die spätantike Universal-
kunsr geknüpft haben.
Fig. 157.
Gesimsstück aus El-Uarah in Syrien.
Verhältnissmässig am meisten Kenntniss ist uns von der spätantik-
frühmittelalterlichen Kunst in Syrien geworden. Die Aufnahmen, die
der Graf de Vogüe von den centralsyrischen Städteruinen gemaclit hat,
würden genügen, uns ein geschlossenes Charakterbild der syrischen
Ornamentik jener Zeit zu entwerfen, soweit dieselbe in der Architektur
Ausdruck gefunden hat. Wir werden uns im Folgenden bloss auf das
Pflanzenrankenornament beschränken.
Fig. 157 ist die Reproduktion eines Frieses von der grossen Pyra-
mide von El-Barah^'), die von de Vogüe in das 5. Jahrh. datirt wird.
Die fortlaufende Akanthusranke, die diesen Fries ziert, bringt uns so-
fort ein ähnliches Denkmal in Erinnerung, den Architrav von St. Johannes
zu Konstantinopel, Fig. 14-2. Vergleichen Avir beide nebeneinander, so
gelangen wir zu dem überraschenden, aber unabweisbaren Ergebniss,
dass das syrische Beispiel die Vorstufe des konstantinopolitanischen
bildet. Gerade das, Avas Avir an Fig. 14-2 A^ermisst haben, und Avas uns
darum von A^ornherein zögern hat lassen, darin eine fortlaufende Akan-
■") De Vogüe, Syrie centrale Taf. TG.
19*
292 r)i^ Arabeske.
tlmsranke zu erblicken — selbständig' abzAveigende Schösslinge in
einer der KankenbeAveg'uiig entgegengesetzten Riclitung — das lindet
sicli am Friese von £1-Barah deutlich beibehalten. Und auch das
alte klassische Akanthusblatt ist nocli klar zu erkennen. Wenn auch
die verbindenden Rankenstengel schon unterdrückt sind, gleichsam ehie
Blattrippe Avellenförmig weiterläuft, so sind doch die an der Peripherie
ausladenden Zacken noch subordinirte Bestandtheile eines untivieu
Akanthushalbblatts, und noch nicht selbständige dreispaltige bis vicr-
spältige Individuen wie zu Konstantinopel. Es leidet aber keinen
Zweifel: der syrische Fries ist der Ausgangspunkt, aus dem sich mit
dem nächsten Schritte der Fries von St. Johannes ergeben wird. Die
Stengel sind bereits unterdrückt, die Schösslinge sind abgegabelte
Akanthusblätter, und — was das Wichtigste ist -- die Hau})trii)pe dieser
abzweigenden Blätter setzt sich ^ om Ende des Blattes hinweg weiter
fort in einem Stiele, der schliesslich eine zur eckigen Palmette stilisirte
Blume als freie Endigung trägt. Wir haben es also bereits mit einer
ausgesprochenen Gabelranke zu thun, an die sich weitere gestielte
Blüthenmotive schliessen.
Die Bedeutung, die diesem syrischen Beispiele inneAvohnt, beruht
hauptsächlich darin, dass uns damit laut und eindringlich gesagt wird,
wie diese ganze Bewegung auf dem Gebiete des ornamentalen
Kunstschaffens keineswegs als eine lokal-byzantiniscli»- auf-
gefasst werden darf, die von Konstantinopel ausgegangen wäre und
ihren Weg in die Provinzen des Reiches gefunden hätte. Die Keime
waren vielmehr überall vorhanden, weil sie eben mit der griechisch-
römischen Universalkunst überall hin verstreut worden Avaren ; auch die
Kulturlage, sowie die treibenden Kräfte nach Veränderung und Fort-
bildung sind im ganzen Reiche die gleichen gewesen. Ferner beweist
die vortrefllichc iiüssige Bildung des Frieses von El-Barah — falls der
Zeichner sich nicht AVillkürlichkeiten erlaubt hat — gegenüber der
steifen, kriechenden an der konstantinopler Johanneskirche, dass man
in Dingen der dekorativen Skiilpiiir im .">. .I,i!ii-h. in Syi'ien gegen
l-Jyzanz mindestens nicht im Rückstande gewesen ist. üelH-igens stellt
d;is Beisi>iel in Syrien niclit vereinzelt da. Einmal zeigt Taf. 1.1 bei
de Vogüe eine älinliclie Behaiidlimg der (nrtlautriKlcn Akaiitlmsraiike.
Ferner sind die Thürliogen an der bei de Vogüe, Temple de Jerusalem
Taf. V aljgebildeten Porte double sowie an der goldenen Pforte mit
einer fortlaufenden Akanthusranke geschmückt, die geradezu als engeres
Zwischenglied zwischen El-Barali luidSi. Johannes bezeiclmct werden ilarl".
1. Das PHanzeinaukeiioniameiit in der byzantinisclieii Kunst. 293
Polyg'onbildung' mit ühersclineicleiiden Ranken und füllenden Blät-
tern und Blüthen, und damit eine Zwischenstufe zu einem specifisch
saracenischen Dekorationssehema, treffen wir an syrischen Bauten
Aviederholt, so z. B. auf Taf. 43 bei de Vogüe. Anderseits finden sich
auch wieder frappante Parallelen mit altgriechischen Rankenbildungcn,
wie Fig. 158^^), womit die fortlaufende Wellenranke Fig. 96 aus dem
5. Jalirh. v. Ch. zu vergleichen ist.
Fig. lös.
l'ricsstreifen aus Kalb Luzeh in Syrien.
Von Spätantiker Kunst auf egyptischem Boden hat man vor etwa
zehn Jahren so gut wie Nichts gewusst. Heute verfügen wir, wenigstens
Avas die Ornamentik betrifff, von dorther über ein reicheres ^Material als
von irgend einem anderen Kunstlioden jener Zeit. Wir danken dies erst-
lich einmal den textilen Gräberftmden aus Sakkarah, Akhmim, Faj'um
u. s. w., dann den Denkmälern koptischer Skulptur, die in das Museum
von Bulak gerettet worden sind und zum grossen Tlieile im 3. Hefte
des 3. Bandes der Memoires publies par les membres de la mission archeologique
frcmraise au Caire, von AI. Gay et unter dem Titel: Les monuments coptes
du muste de Bonlaq ihre VeröflTentlichung gefunden haben.
Das hiemit gebotene, Avider f^rwarten reiche Material hat nun aller-
dings schon mehrseitige Bearbeitung erfahren. Einen Theil der Textil-
funde — die ersten nach Europa gelangten dieser Art, die vom k. k. öster-
reichischen Museum in Wien erworlien Avorden sind — hat J. Kara-
bacek hauptsächlich auf die daran ztt beobachtenden Zusammenhänge
mit der persisch-sassanidischen und der späteren saracenischen Kunst
itntersticht^^). Das rein Ornamentale an jenen Funden in seinen Be-
ziehungen zur späten Antike Avenigstens in grossen allgemeinen Zügen
klar zu stellen, hat Verfcisser in dem \"on der Direktion des k. k. österreichi-
schen Museums herausgegebenen Kataloge der betreftenden Collektion'*")
•^^) De Yog'ile, Syrie centrale Taf. 121), von Kalb-Lvizeh.
•^') Katalog- der Th. Graf sehen Fiinde in Egypten, Wien 1883.
■*°) Die egyptischen Textilfiinde im k. k. österreichischen Museum,
Wien 1889.
294
Die Arabeske.
nnteruommcn. "Was hingeg-en die koptisehen Skulpturen lietrifft, :^o liat
nächst Gayet G. Ebers^') sich darüber eingehender verbreitet. Auch
dieser Autor hat den engen Zusaninienliang dieser Denkmäler mit den
spätrömisch-byzantinischen zu (Umsten einer vermeintlichen Renaissance
national-egyptischer Kunst Avcit unterschätzt, Avas icli in einem Autsatze
über Koptische Kunst in der ßi/zantinischen Zeitschrift*'-';^ im Einzelnen nach-
zuweisen versucht habe. Trotz dieser verschiedenen Anläufe steht eine
zusammentassende Bearbeitung, die ge.Aviss ein höchst bedeutsames Re-
sultat ergeben dürfte, noeli aus: wir aVx'r werden uns im Nachstehenden
i&^
m
^^^*>^w
l'rairmciit vom Giebpl oines Sarkophag-Deckels. Kgyiitisch-spätrömiscli.
beschränken müssen auf die l-".rörterung derjenigen Denkmäler, die uns
über die Entwicklung der Rankenornamentik im frühmittelalterliclien
Egypten Aufschluss zu gewäliren geeignet sind.
Das weitaus bedeutsamste darunter giebt Fig. 15!)-''') wieder. Es
ist dies das Fragment eines skulpirten Giebels aus Stein. Reciit> >in(l
zwei Blätter vom gesprengten Palmettenfächer eines Eckakroleri(.)ns
sichtbar, darülier Tlieih- vom ^'order]eib eines 'I'liiei-es. Die Mitte des
*') In einer .Studie: SiniihiMliclies. die Iceiitische Kinist u. s. w. Lei]»zii:'
bV.fJ.
*-') P'.ben CDezember ISOJ) im Drnclse lietiniilich.
*-''l fiayet a. a. 0. Taf. G; veu ilnii uinl l'.)iei< für Uy/.üntinisclie Tniport-
naare erklärt.
1. Das PÜanzeuvaukenoniameut in der byzantinischen Kunst. 295
Giebels ist mit einer nicht eben fein ans;»'eführten Gruppe von zwei
Personen g'eschmückt, worin Gayet David und Bathseba erkennen wollte.
Uns interessirt hier bloss das Ornament, das sich in dem zweimal spitz-
winklig gebrochenen Bordürenbande befindet. Dieses Ornament besteht
aus zwei ineinander verschlungenen Wellenranken. Die Blätter — drei-
theilige Ableger des Akanthusblattes, wo nicht direkte Epigonen der
flachen Halbpalmetten — zweigen nicht frei an selbständigen Stielen
von der Kjtnke ab, sondern durchsetzen die letztere. Eines der drei
Blättchen, aus denen jedes grössere Blatt besteht, ist nach rückwärts
gekrümmt, und somit als Kelchblatt aufzufassen ; die beiden anderen
Blätter Aveisen in der Kichtung der Ranke. Man braucht bloss diese
beiden letzteren nicht in selbständiger Ausladung zu belassen, sondern
in eine feste, glatte Umrisslinie zu bannen, und wir haben eines der
allergebräuchlichsten saracenischen Streifenmuster, namentlich für
pilasterförmig aufsteigende Füllungen. Zu Grunde liegt wiederum
nichts anderes, als die neue emancipirte Weise, die Eanke von den
Spitzen der unfreien Akanthushall)b]ätter oder Halbpalmetten weiter zu
führen. AVo aber die Ranken enclgiltig auslaufen, dort bilden Voll-
blätter (oder Vollpalmetten, was bei der nunmehrigen schematischen
Stilisirung schwer zu entscheiden ist) die freie Endigung.
Wie es das si)ätere häufige Vorkommen dieser Art von Ranken-
verzierung in der ausgebildet saracenischen Stilisirung erwarten lässt,
ist dasselbe in der byzantinischen Uebergangsfassung ;in Skulpturen
egyptischer Provenienz noch wiederholt nachzuweisen: so bei Gayet
Taf. 4 und Taf. 93. Gayet allerdings will die figürlichen Darstellungen,
die damit auf Taf 4 und (\ verbunden sind, als Zeugnisse für byzan-
tinischen Ursprung geltend machen und die Stücke daher für importirt
ansehen. Wir, die wir Gayet's Unterscheidung zwischen einer byzan-
tinischen und einer national-egyptischen Kunst im 6. und 7. Jahrhundert
n. Ch. keineswegs für begründet erachten, werden auch die erwähnten
Denkmäler ohne Bedenken egyptischem Ursprünge zuweisen. Aber
wenn dem selbst so wäre, Avie (iayet möchte, Avürde dies für unseren
Gegenstand kein Avesentlich anderes Resultat bedeuten: der zur sara-
cenischen Einverleibung des Profilblattes in die Ranke treibende Zug,
der sich als dem Schema A^on Fig. 159 zu Grunde liegend erwiesen hat,
Avurde ja von uns bereits an so A-ielen anderen Denkmälern aus dem
oströmischen Reiche, auch solchen lokal konstantinopolitanischer Her-
kunft, festgestellt. Es ist nur ein recht unzAveideutiger und entschiedener
Schritt nach der angedeuteten Richtung, den uns Fig. ir)9 repräsentirt,
296
Die Arabeske.
und diesen werden wir immerhin elier auf einem Bode-n erwarten, auf
dem späterhin die reine Arabeske sich entfaltet hat, als innerhalb der
Bannmeile von Byzanz, wo man niemals recht über die halbe Mitte
zwischen dem Beharren an der Tradition und dem Nachgeben gegen-
über den dekorativen Neigungen der Zeit hinaus gekommen ist.
Was sonst an Beispielen einer Rankenornamentik auf koptisclu>n
Skulpturen vorliegt, bewegt sich in der gleichen Richtung, wenngleich
in minder entschiedenem Tempo. Ich verweise diesbezüglich bloss auf
die zahlreichen Gabelungen (Fig. 160V\), die ebenfalls nicht denkbar
wären ohnr das Aufkommen jenes neuen Grundprincips der Blattranken-
führung, das Avir schon an der Fig. lö!! als maassgcbend erkannt haben.
Auch die üppige Gliederung der von einer fortlaufenden "Wellenranke
abzweigenden SchössKnge in reich verzweigte Nebenranken ^■'1 wider-
Fi-. 160.
Bordiirenfragiuent von einer egyptiscli-friiluuiftelaltorliclien Orabstolo.
Streitet der antiken Tradition, die an dieser Stelle im ^^'esentIichen nur
eine spiralige Kinrollung mit einer freien Kndigung gekannt luit. Es
verrieth sich in dieser Neuerung der zur dicht und gleichmässig ver-
streuten Kleinmusterung neigende neuorientalische Geschmack. Daneben
finden sich Beispiele von nackter spiraliger "Wellenranke gleich dem
mykenischen IJrscftema (Fig. 50), nur bereichert durch eine nicht minder
primitive Zwickelfüllung mittels einfacher GielicH'^^). Es ist dies niclit
unwichtig im Hinldick darauf, dass uns noch unter der vollen Ilerr-
.schaft der ausgebildeten Arabeske dergleiclien uiiypiselie Ixankt'iilMl-
dungen •>tter l)egegnen werden.
Wir müssen es nns versagen, das überreiche aus ]':gy]iteii \i<r-
liegende Älatcrial nach der besprochenen K'iehtung \\vv\\ \\eiter /u er-
örtern. Es drängt uns. noch die früh-mittelalterlielien Denkmäler der
♦«) Gayet a. a. (». Taf. :»n.
*-■) Z. B. Gayet a. a. 0. Tat". '.)«, DO.
*'■) Gayet a. a. 0. Taf. 27.
1. Das Pflaiizeiu-ankenornameut in der byzaiitinisclieu Kunst. 297
übrigen asiatischen Länder vorzuneiimen, die zu Ostrom Bezielmngen
unterlialten haben. Hinsichtlich Kleinasiens ist das zugängliche
pnblicirte Material leider ein so geringfügiges, dass wir dasselbe ohne
Schaden ausser Rechnung lassen können, zumal auch die Vermuthnng
gestattet ist, dass gerade der Avestlichste Vorsprung Asiens dem Beispiele
von Byzaiiz am nächsten und engsten gefolgt sein mag. Dagegen liegt
eine an Zahl geringe, inhaltlich aber Averthvolle Denkmälergruppe aus
den östlichsten Grenzgebieten der Mittelmeerkultur vor, die zwar keine
politische, wohl aber eine künstlerische Provinz des Römerreiches ge-
bildet haben.
Eine sehr Avichtige, ja entscheidende Rolle bei der Herausbildung
eines mittelalterlieh- orientalischen, des sogen, saracenischen Stils pflegt
man den Persern der Sassanidenzeit (220 — 041 n. Ch.) zuzuschreiben.
Was uns von bezüglichen Denkmälern mit ornamentaler Ausstattung
erhalten ist, würde nach dieser geltenden Autfassung eher seinen Platz
unter den beglaubigt saracenischen Denkmälern selbst, oder doch als
Einleitung zu diesen letzteren beanspruchen. Dass Avir nichtsdesto-
Aveniger die Besprechung auch der persisch-sassanidischen Denkmäler-
gruppe derjenigen der byzantinischen Fortbildungen der antiken Ran-
kenornamentik anreihen, hoffen Avir im Laufe unserer Ausführungen
selbst zu rechtfertigen.
Eigentlich ist es recht merkwürdig und bezeichnend dafür, Avohin
wir mit der blinden Anhängerschaft des Kunstmaterialismus und der
Aermeintlich autochthonen EntAvicklung fast jeder Kunstweise von
einigem nationalen Gepräge gerathen sind, dass es einer Rechtfertigung
nach der gedachten Richtung heute ül)erhaupt noch bedarf. Leute, die
noch einen off'enen, durch Voreingenommenheit nicht getrübten Blick
für historische EntAvicklungen besassen, haben — Avie Avir sehen Averden
— schon A^or vierzig und mehr Jahren nicht einen Augenblick ge-
zweifelt, dass die bezüglichen Denkmäler der Sassanidenkunst in eng-
stem Zusammenhange mit der Kunst des abendländischen Westens
gestanden sein müssen. Erst die seither aufgekommene übermächtige
BcAvegung, die überall sozusagen spontan Avirkende materielle Hebel
für das Kunstschaffen thätig sehen möchte, avo es sich um traditionelle
Anlernung und Nachahmung handelt, hat die ursprünglichen richtigen
Anschauungen unbefangener Forseher A'erdunkelt und in den Hinter-
grund gedrängt. Indem Avir also einige besonders charakteristische
dieser Denkmäler nach der Publikation A'on Flandin und Coste, Voyage
en Perse in Erörterung ziehen, Averden Avir uns nicht auf die blosse
293 Die Arabeske.
Ilervorliebiing" desjenigen hescliräiikon dürtcii, av.is i'iir unsere IXiiie^Tuiii'
des Entwicklungsganges der Pflanzenrankenornanientik von Bedeutung
ist, sondern auch die kunsthistorische Stellung di<'ser ganzen DcMikniäh'r-
gruppe zu präcisiren trachten.
Das ^laterial, das uns hiet'ür vorliegt. l)est(^lit erstlicli aus dem
Bogen des vorletzten Sassanidenkiaiigs Chosroes l'arwiz zu Tak-i-Bcistan:
die Entstehungszeit desselben AV(n'den Avir rund um (tOO n. Ch. annelnnen
dürfen. Ferner aus einer Anzalil \-on Arehitekturlragnienten . die
Flandin und Coste zu Isiiahan gefunden haben und die im allge-
meinen Charakter wie in den Details eine su weitgehende Teberein-
stimmung mit der Dekoration auf dem Chosroes - Bogen zur Seliau
tragen, dass wir sie nnlx^denklieh ungefähr der gleiclien Kntstelinngs/eit
zuweisen können. AVir bewegen uns somit in einer Zeit, da in Byzanz
jene Neuerungen, die wir Iiauptsäcldieh an den Bauten Justiuians wahr-
nehmen konnten, iiereits zu fertiger Ausgestaltung gelangt wai'en. aliei'
seit dem Zerfalle des römischen Weltreichs doch noeli nicht so \\r\
Zeit verflossen war, dass die Differenzirung der Kunst in den Pro\"inzen
bereits entscheidende Fortschritte geuiaclit lialx'u konnte. Alit anth-ren
Worten: die uns erhaltenen sassanidisejien Baudekoi'atioiien stammen
genau aus jener Zeit, in der sich die für unser<> iSonderaufgalie grund-
wichtigen Uebergangserscheinungen vollzogen haben müssen.
Betrachten wir zuerst das Kapitril i'ig. KU. Die A'erziernng ist
bestritten dui'ch ein einziges, vielf.idi gegliedertes Pflanzenmotiv.
Cliarakterisirt erscheint dasselbe durch den fleischigen. \-on l\ingen und
Hülsen unterbrochenen Stengel — durch die Blattrankiu, die in kreis-
fVirmigcm Schwünge nacli abwärts sicii eini'oden und in eine Blume
endigen • — dui-ch die gi'ossen iii)pigen lilätter. die ,inl'\\;irtsstrebend
davon abzAveigen und das erste Blatt nächst dem Siiel.msntz voluten-
.irtig einwärts, das äusserste dagegen auswäiMs gekniniml und geschweift
zeigen, und unter deren Spitzen wiedei- ein i\,inkenstengel mit Mallilifiii
und krilnender Blume herxoi-liriclit. indlicli dni'cli die l')hnne. die
den Ilauptstamm selbst Icn'int. mit X'ilnten ,im Siiel.nis.it/. und luelir-
faclien Blattkelchen. die den M\;den Kern einscliliesseii.
Entliält sclion der Anfl)au Xiclits, w.is uns niclii von so und so
vielen römischen Denkmäh-ni bekannt wiiic. se gilt das deiche \>'\\
den Blättei-n. I)iesellien sind (bircliwegs und .lusseliliesslich vorn
Akanthus be.>,tritten. Cnd zwar ist es niclit der geometrisireniie Ak.in-
thus, den wir an den Hauten i\r\- rriihb\ zantim'schen Zeit so idicr-
wiegend angetrotfen JKilien. sondern ein l)nschiger, üi)piger, plastischer
1. Das Pflanzeiiraukenoniaineiit in der byzantinischen Kunst.
299
Akaiithns, der dein echten römischen Akantlms noch iiberans nahe
steht. Die einzelnen Hauptzacken schneiden zwar sclion tief in das
Blatt hinein, ohne aher dessen Individnalität als nntheilhares Ganzes
in Frag-e zu stellen. Die Krümmung der Spitzen der g-rossen seitlichen
Akanthushalbblätter erinnert wohl einerseits an die ausg'esprocliene Vor-
liebe der nachmaligen Saracenen für ausg-eschweifte kielbogenförmige
Linienführung, ist aber gleichwohl noch rein römisch, Avas auch durch
die nicht von der Blattspitze weg, sondern unter derselben hervor-
laufende Ranke bestätigt wird. Antik sind ferner die unzAveideutigen
Volutenkelch -Bildungen sowohl am StieL-nisatze rler grossen seitlichen
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Persische Kapitale .aus der SassaniiliMizeit.
Blätter, als an demjenigen der centralen Blütlie, und zwar entsprechen
dieselben nicht so sehr römischem Stilgefühl, das am plastischen Akan-
thus den flachgedacliten Volutenkelcli grösstentheils entbehren zu können
geglaubt hat, als dem strengeren griechischen, das ja einst-
mals noch vor der Herausbildung einer stärker naturalisiren-
den römisch -klassischen Kunst in Asien seinen siegreichen
Einzug gehalten hatte.
Was dem Vorausschauenden an Fig. KU als Vorläufer der
specifisch saracenischen Weise erscheint, das betritft nicht
die Rankenführung, sondern die Blatt- und Blüthenbildung.
Am Akanthusblatt sind es die eng nebeneinander hin gezeich-
neten Seitenrippen, dann die Umrisslinie, die an den meisten
Blättern einer inneren, ausgezackten parallel läuft-*"; und
") Vgl. Fig-. 163 von einem anderen Kapital der gleichen Gruppe.
300 1^^^' Arabeske.
nicht zum luiiuU-sti'U ilie plastisch zusainineng-elcgte Form des
Akauthushalbblatts, Avodurch sich dieses letztere zur Komposition
mehrfacher Kelche zu grösseren Blüthenformen bequem eignete, wie
dies gleich an der centralen Blütlie von Fig. Kil sichtbar ist. Es ist
dieser Umstand deshalb von ganz besonderer Bedeutung, weil Avir
späterhin in der Arabeske vegetabilische Formen finden werden, die
aus doppelt zusammengeschlagenen lappigen Kelchblättern gebildet er-
scheinen.
Auf das der sassanidischen Blüthenbildung /u (rrunde gelegene
ornamentale Gesetz noch näher einzugehen, verliietct uns schon der
Umstand, dass dies nui- dann erfolgreich geschehen könnte, wenn Avir
die Blüthenbildung seit hellenistischer Zeit, da eben eine solche A'on
naturalisirendem Charakter anhebt , im Zusammenhange A'erfolgen
würden. Diese gCAviss dankl)are .Arbeit bleibt noch zu leisten; Einzelnes
von speeieller Bedeutung hcrAorzuheben A\ir(l sieh späicr noch Gelegen-
heit ünden.
Betrachten Avir das l'ilasterkapitäl, Fig. l(i-j. \oui ('liu.^roes- Bogen
zu Tak-i-Bostan. Am Halse eine Reihe Akanthuskelche A'on dem eben
erAvähnten plastisch zusammengestülpten Charakter; die ,,Pfeifen" sind
mit dem Bohrer hineingegraben. Auf dem Kapital selbst die Ptianzen-
staude mit dem fleischigen kandelaberartigen Stengel Avie in Fig. Kil.
AbzAveigend Blätter in l'rntilansielit. \on denen es zweifelhali bleilit, ob
Avir sie als flache Halbpahnetten oder als Akanthushalbblätter erklären
sollen; der theihveisc Mangel A-on Volutenkelchen Hesse letzten^s als
das Wahrscheinlichere erscheinen, Avenn nicht unten zwei nn/\veit'elliafte
Akanthushalbblätter in kreisrundei- I'j'nrnllnng sieh liefänden. die eine
etAvas abAveichende Behandlung zeigen. An tue erAv.äJniten Halbpal-
metten nun sehliesst sich jedesmal A'on der Spitze Aveg Je eine Blume
an, Avoriii Avir wieder jenes sattsam ei'örterte antinatui'alistisclie (!esetz
der Blumeiu'aid<<'nbildung erkennen. — Auf der Deckplatte liegt eine
Keihe von Dreiblättern (Fig. 14.'3), deren jedes von einer herzfV'trmigen
Linie umschrieben ist.
Diese beiden gegebenen Beis})iele sassanidischer Ornamentik weiden
Avold genüg(;n, um Oavcu .Jones" Urtheil zu rechtfertigen, der sieh dar-
über folgendermaassen ausgedrückt hat: ..Die ()i-namente sind nach
denselben l'riiiei])ien Avie die i-(")miseli<ii ( )nianieiiie knnsli-uirt. ilueh \(T-
künden sie dieselbe .Modifikation <lei- nicidellii-teii Oberlläeiie, die man
in den l)yzantinisclien ( )niamenten enidi'ekt, denen sie autVällig ähnlieh
sehen". Diejenigen, <lie darin ureigenste Iler\(irl»ringuiigen des \-er-
1. Das Pflanzcnraiikcuovnaiiient in der bvzaiitinischen Kunst.
301
meintlichen persischen Kunstvolks sehen möchten, tragen wir aber:
wann, unter Avelchen Verhältnissen soll sich diese „nationale" Kunst
entwickelt haben? Mit der persischen Kunst der Achämenidenzeit
die wir ja im 3. Kap. (S. 10!») kennen gelernt haben, hat die Ornamentik
der Sassanidendenkmäler Nichts zu thun. Sollte diese durch die
Parther aus Centralasien gekommen sein? Von dort ist aber, Avie wir
von Türken undMongolen wissen, niemals etwas Anderes als Geometrisches
nach dem Westen gelangt. Es bliebe somit nur die Annahme , die
Perser hätten parallel mit der griechisch-römischen Pflanzenrankenor-
namentik eine eigene aus dem Nichts heraus gebildet, hätten in wenigen
Jahrhunderten aus eigener Kraft den ganzen Gang der Entwicklung
durchgemacht, wozu die übrigen Kunstvölker des Alterthums, Avie Avir
gesehen haben, ZAvei Jahrtausende gebraucht haben. Eine solche An-
nahme AA'ird aber schAverlich viele Anhänger linden.
Fig. 1G4.
Detail von einem persischen Kapital aus der Sas.sanifleiizeit.
Der Akanthus trägt an Fig. lOl und 1G2, Avie erAvähiit, eine natu-
ralisirende, üppige, römische Form zur Schau. Die vom vollen Blatt
abgezupften schematischen Zacken der frühbyzantinischen Kunst treffen
Avir an einem anderen sassanidischen Kapital, Avovon wir ein Detail in
Fig. 164 Aviedergeben. Dasselbe erscheint auf den ersten Blick völlig
saracenisch; und doch ünden Avir daran bei näherem Zusehen kein
Detail, das uns nicht \^on frühbyzantinischen Denkmälern lier bekannt
Aväre. So die gesprengte Palmette unten (vgl. Fig. 148), das Dreiblatt
in der Mitte (vgl. Fig. 14.3), dessen rundovale Umschreibung sogar
noch antiker ist als die herzförmige in Fig. 162, und endlich das Paar
von divergirenden Dreiblättern oben (vgl. Fig. 14.3). Wir ersehen
daraus, Avie nahe bereits die frühbyzantinische Weise der sara-
cenischen steht, und wie gleichmässig sich der Process in
allen von der oströmischen Kunst beherrschten Gebieten an-
gebahnt hat. An den Blumen- und Blattmotiven blieb in der That
nicht mehr viel zu ändern, um zur reinen Arabeske zu gelangen: nur
302 Die Avcibeske.
in der Eaukeufüliruiig" war noch t-iii entschiedenerer Scliritt nacli
vorwärts zu thuu, wenngleich der grün dsätzli die. wie wir gesehen
haben, auch nach dieser Kichtung bereits gethan war.
2. Frühsaraceiiiscbe Kankenoniaiiieiitik.
Indem wir uns endlich der Besprechung von Denkmälern zuwenden,
die nach Al)lauf mehrerer Jahrhunderte seit dem Aufkommen des
Islam bereits nachweislich für Saracenen hergestellt worden sind, wollen
wir uns vor Allem noch einmal die specitischen Eigenthündichkeiten
gegenwärtig machen, die das ausgebildete saracenische Kankenornamenr.
die sogenannte Arabeske, charakterisiren.
1. Die Ranken werden an sich -wieder zu mehr oder minder
linearen, also geometrisirenden \'erbinduugselementen, in ihrer
Bewegung Aerlassen sie aber sehr häutig den aus der Kreislinie heraus
konstruirten Sclnvung. wie er der vom Spiralornament herkommenden
klassisch-antiken Kanke allezeit eigen gewesen Avar, und rollen sich
nu]imehr aucli in ovalen, gebrochenen, geschweiften Linien ein,
laufen von verschiedenen Richtungen her vielfach sogar zu polygonen
Kontigurationen zusammen, was insbesondere dann statthat, wenn die
Ranke l)andartig gestaltet wird, das Rankenornament mit dem Band-
verschlingungsornament sich ver(|uickt. In solchem Falle A-erlauten
die bandförmigen Haui)tlinien nach einem neuen (polygonalen oder
kurvi linearem Schema, während die leinen füllenden Ranken dazwischen
den vollen schiaien Kreisschwung beil)ehalten.
■2. Die Motive knüpfen entweder an die alten llacheu Palmetten,
oder an das alte Akanthushalbblatt, oder endlich an die byzantinischen
Ableger dieses letzteren au. Der anlinaturalistisclie Zug, der bereits
die Ranken wiederum in eine geometrisirende Richtung gebraclit liai.
verrätli sich an den Einzelmotiven durch die Reducirung oder Unter-
drückung der Einzel blätter, überhaui)t durch eine ausgesi>rochene
Neigung zur symiueti-ischen Sc heuia t isi ru ug und iliireh Aus-
scliweifnng der spitz zulaufenden Tinile z. H. Blatts|titzeu i.
Neben solchen \()]lig geometrisch stili.'^iit« ii .Mi)li\en (Dreiblatti laufen
-"jelic von mehr naturalisirendem Charakter, deren Modeliirung unzwei-
deutig auf einen genetischen Zusani nie n h.i ug mit dem pl.i st isehen
Akantli usblatt hinweist. .\ber selbst in diesem J'.iUe ^ind an i\i-y
Peripherie rund um das fein .lusge/ackte Detail glatte ungeglii'derte
Cuirissl ini<' II gezogen, die den gewissennaassen ;;(Miuietrisclien ii.iliitns
2. Frühs;ir;iceiiisclie Eankenornamentik.
303
nacli aussen herstellen. — Cliarakteristiscli ist ferner die überaus häufii;-
zu beobachtende Weise, zwei Halbblattmotive als Endigungen zweier
von verschiedenen Seiten zusammenlaufender Ranken zu einem ,yanzen
Motiv unter einem geschweiften Winkel zusammentreten zu lassen.
Inwiefern dies mit einem ganz bestimmten Grundgesetz der sarace-
nischen Flächenornamentik — dem unendlichen Kai)port — zusammen-
hängt, Avird weiter unten (S. 307) seine Erörterung ündcn.
3. Das Verhältniss zwischen Eanken- und Blüthcnmotiven
gestaltet sich endgiltig dahin, dass die letzteren von den ersteren nicht
mehr bloss abzweigen, sich an die Ranken ansetzen, sondern dieselben
durchsetzen, unfreien Charakters mit den Ranken gleichsam v(U'wachsen.
Fig. IGö.
Stuckbortle von der Moschee des Ibu Tulun zu Kairo.
An die Spitze unserer Denkmälerschau setzen wir die Stuckorna-
mente von der im Jahre 878 nach zweijähriger Baudauer vollendeten
Moschee des Ibn Tulun zu Kairo. Prisse d' Avenues*^) hat die-
selben vollständig publicirt: bloss die daselbst in der Mitte befindliche
breite Füllung Xo. 17 wird man von den Resten des 9. Jahrh. abziehen
und einer späteren Zeit (12. — 13. Jahrh.) zuschreiben müssen. Jedes
einzelne der hienach verbleibenden 36 Bordürenfragmente verdiente
um der durchgängigen Beziehung zur historisch gewordenen Pflanzen-
ornamentik Avillen eine besondere Erörterung: die umfassende Aufgabe,
die wir uns hier gestellt hal)en, zwingt uns diesbezüglich uns auf das
allerknappste Maass zu beschränken.
Vor Allem begegnen uns die alten wohlbekannten Wellenranken-
schemen. Fig. 165*^) zeigt eine intermittirende Wellenranke mit
alternirenden dreispaltigen Lotusblüthen und Palmetten, das verbindende
Rankenglied als Gabelranke (Fig. 134— 13G) charakterisirt. An Fig. 160^^)
■**) L'art arabe d"apres les luoniiments de Caive Taf. 44. Eine Anzahl
auch bei Owen Jones Taf. 30.
*») Prisse a. a. 0. 31.
=0) Prisse a. a. O. 84.
304
Die Arabeske,
ist das gleiche Scliemn bereichert um eine Halbpalniette (oder ein
Akanthushalbblatt\ die mit ihrer Spitze unmittelbar in die Vollpalmette
übergeht, somit die Wellenranke imzweideutig- durchsetzt. Die beiden
Gabelranken von Fig. 165 sind hier zu flankirenden, einrahmenden und
zugleich raumfüllenden Elementen geworden; man beachte attch. wie
dieselben für die fünfspältige Vollpalmette eine glatte äussere Vm-
l-'ig. 166.
Stiickhorde von der Moschee des Ibn Tulini zu Kairo.
risslinie ergeben, und in der gleichen Weise besorgen dies die
äusseren Blätter der dreispaltigen Lotusblüthe gegenüber den vier Aus-
zackungen der rankendurchsetzenden Ilalbpalmetten.
Eine fortlaufende Wellenranke enthält Fig. lt»7^'). Von Jeder
WellenbeAvegung der Hauptranke zweigt ein Schössling ab, und zwar
zuerst in kreisförmigem, antikem Schwünge. Anstatt aber mit der Pal-
mette zu endigen, setzt sich das äusserst»' Blatt^-) dieser letzteren
Fig. 167.
Stuckborde von der Moschee des Ihn ']"uUin
zu Kairo.
ritr. 167 a.
Uebersetzuiig von Fig. 167
in's Griechi.sche.
Aviederuni in einem Rankenstengel fort, der in entgegengesetzter KMch-
tung zur ursprünglichen Kreiseinrollung verläuft und sich noch einmal
gabelt. Zweierlei unt<-rscheidet die.<e frühsaracenische Wellcnranke auf
den ersten Blick von einer klassiscli-.nitikcii : 1. das C insdi lagen des
^'j Prisse a. a. O. :53.
") Wenn eine Ilalbpalinetto gemeint ist; wenn aber eine Vollpahuette,
dann setzt die fortlaufende Ranke an das mit dorn vorhandenen einen Keleli-
blatt koiTesjtondirende zweite Kelchblatt an.
2. Frühsaracenische Rankenoniameutik. 305
fortlaufenden Kankenscliösslings in eine entgegengesetzte Richtung,
2. der Umstand, dass die durch das Volutenkelchblatt am unteren An-
satz deutlich charakterisirte Palmette nicht die freie Endigung des
Schösslings bildet, sondern denselben bloss durchsetzt. Wie aber
diese beiden, scheinbar grundsätzlichen Unterschiede bereits im alt-
griechischen Schema vorgebildet gewesen sind, beweist die in Fig. IGTa
gegebene Uebersetzung von Fig. IGT in's Antike. Die Ranke läuft hier
nicht einheitlich fort, sondern theilt sich, und die Palmette ist blosse
Zwickelfüllung^^). Die byzantinische Zwischenstufe finden wir in Fig. 160.
Noch auf zwei Punkte, die uns an Fig. 167 bedeutsam entgegen-
treten, muss die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Erstlich auf die ausge-
sprochene tropfenförmige Zwickelfüllung in den Winkeln, die durch
die Abzweigung eines Hauptschösslings von der Hauptranke entstehen.
Das Postulat der Zwickelfüllung, überaus mächtig in pharaonischer Zeit
(S. 62), ist in Egypten auch im Mittelalter in bevorzugter Anwendung
geblieben, ^fan vgl. hiefür namentlich die Beispiele aus koptischen
jMiniaturen, die Stassoft"^*) gegeben hat: die weit ausladenden, ovalen
Knöpfe in den Rankenzwickeln wirken daselbst geradezu unschön und
anstössig. Das zweite, noch bemerkenswerthere Detail an Fig. 167 be-
steht in den kommaähnlichen Schlitzen, durch welche jede Palmette
oder vielmehr Hallipalmette zweigetheilt ist. Es drückt sich darin eine
Untertheilung des durchsetzenden Blüthenmotivs aus, die neben der
Gliederung der Blattperipherie in Zacken nebenherläuft. Inwiefern
dieses Detail für die Fortentwicklung bedeutsam gewesen ist, Avird sich
sofort an einem geeigneteren Beispiele zeigen lassen.
An Fig. 168"^) laufen die Ranken zu spitzovalen Konfiguratiunen
zusammen. In das Innere der Spitzovale werden von unten zwei
Ranken entsendet, die sich in zwei Halbpalmetten fortsetzen. Diese
Halbi)alnietten treten als Fächerhälften zu einer gesprengten Palmette
zusammen, die aber nocht nicht freie Endigung ist, sondern eine blosse
Durchsetzung der Ranken, die von den Spitzenden der beiden Fächer-
hälften sich fortsetzend umschlagen und nach abermaligem Zusammen-
schlüsse erst in ein Dreiblatt auslaufen, das nun eine definitive freie
Endigung bildet. Auch für diese Art der Rankenführung fiele es nicht
schwer, das nackte klassische Schema hinzuzuzeichnen. Wir sind aber
^^) Diese schematische Uebersetzung- ist übrigens für das Mittelalter auch
monumental zu erweisen: Tragaltar in der Coli. Spitzer, Jvoires XIII.
^^) Ornement slave et oriental Taf. 132—135,
") Prisse a. a. 0. G.
Riegl, Stilfragen, 20
306
r)ie Arabeske.
der ^lübe dies zu thuii überhoben dui'cli den übeiTaschenden Umstnnd,
dass uns eine solche Uebersetzung in's Grieehisclie an einer,
später zu erörternden, echt saracenischen Holzschnitzerei des
XII. Jahrhunderts vorlieg't (Fig. 168a). Es ist dalicr auch geAviss
nicht zntallig und am wenigsten als Kullchnung aus saracenisehem
Kunstbesitz zu erklären, Avenn wir genau dem gleichen ]\lotiv — eine
gesprengte Palmette , deren Fächerhältten ol)en rankenartig sich fort-
setzen, gegen das Innere umschlagen tmd endlich in ein gemeinsames
Dreiblatt frei auslauten — sehr häutig auch an byzantinischen Kttnst-
Averken begegnen'^). Was das Gesamratmotiv in Fig. Iß8 so fremdartig
..orientalisch" erscheinen lässt, ist Aveder die Rankenführung noch die
Stilisirung der BlütlienmotiA'e, sondern A^or Allem
das Aufgehen dieser letzteren in der Kanke: auf
den ersten Blick A-erniag Xiemand zu erkennen,
Avo die Ranke aufliTirt uiul die
Blüthe beginnt und umgekehrt,
Avogegen in der klassisch -anti-
ken Ornamentik Kanke und fül-
lende l'.ilmettenfächer ui's|)riing-
lieli deutlich und klai- geschie-
den sind, und selbst noch in der
In'zanlinisclieii Oi'nanu'ntik die
unfreien Ak,inlliusli,ill)l»lätter sich noch leidlich A-on
der Hanke sclieitleii lassen. Die Saracenen halien
elieii konse<]uent und entschieden fortgebildet, Avas
sie im Keime und zum Theil schon im .Aufsprossen
von den antiken KulturA'ölkern übernommen halben:
auch unter diesem Hinblick erscheint der T^nterschied ZAvisehen
spätantiker und saracenisc hei- Ornamentik l:»loss als ein
gradueller, nicht als ein ha bit ue | Icr.
Betrachten Avir noch dii' ausgtjzackteii llall>i>almetten, die sich
innerhalb des Spitzovals zu einer gesprengten Palmette ergänzen. Die
ausladenden Zacken deuten avuIiI die rjn/clnen Blattei" des Fächers an,
aber die P>lattri|>pen sell)St sind nicht kenntlich gemacht: die glatte
äussere l'inrisslinie l)esorgen die das SpitzoA'al begr<'nzenden Hanken.
Femer zeigen die genannten llall>|>;i!nieiten wiederum die schon an
iMg. ir.Sii.
Fig. V.u.
Stackborde von der
Moschee des Ihn Tuliiii
zu Kairo.
■"■) Z. B. Stassoff. ODiemeiit slavc et orieiital 'Tnf. 121. 12. Aber kciucs-
Aveg-s selten auch in der aVx'ndläniliscbcn Kunst des X. -.XII. .Fahrli.
2. Fi-ühsavacenische Kankenornanientik. 3(j7
Fig. 167 bemerkten Komma - Sehlitze , die wiederum jede Palmette
etwa in zwei Theile tlieilen. Es drückt sich darin oflfenbar die Ten-
denz zur Zweitheilung, Gabelung der ganzen Halbpalmette aus,
deren Endresultat in der arabesken G abelranke (Fig. ISOaj vorliegt.
Die beiden Eankenbänder, die für das eben beschriebene Füllungs-
motiv den spitzovalen Eahmen bilden, theilen sich über dem Scheitel
wieder, um abermals ein Spitzoval zu bilden, wovon in Fig. 168 bloss
der untere Anfang sichtbar ist. In Folge des Zusammenlaufens der
beiden Eankenbänder zwischen den beiden Spitzovalen mussten im Fries-
streifen naturgemäss rechts und links segmentartige Zwickel entstehen.
Man betrachte die — beiderseits im Gegensinne identische — Fül-
lung dieser Zwickel. Bei näherem Zusehen ergiebt sich dieselbe als
nichts Anderes, als die Hälfte des Füllungsmotivs, das wir im Spitz-
oval angetroffen haben. Besser als es mit vielen Worten an den
Einzelmotiven demonstrirt werden kann, drückt sich darin der scliema-
tische, antinaturalistische Zug aus, der schon diese werdende sarace-
nische Eankenornamentik charakterisirt. Der Künstler schaltet mit
dem ursprünglich vegetabilischen, also bestimmten lebendigen Xatur-
gesetzen folgenden Motiv, wie mit einem leblosen, geometrischen: er
theilt es, versetzt es ganz nach Belieben, je nach dem Be-
dürfniss des zu füllenden geometrisch-symmetrisch abgezirkelten Eaumes.
Andererseits vergleiche man die seitlichen Segmentfüllungen von
Fig. 168 mit Fig. 167. Die ersteren erscheinen hienach als nichts An-
deres, als blosse Ausschnitte aus einer fortlaufenden Wellenranke, als
ein blosser Schössling dieser letzteren. Der einzige Unterschied besteht
darin, dass in Fig. 168 entsprechend dem grösseren auszufüllenden
Segmentraume die Palmette mehr in die Länge gezogen und in mehr
Zacken gebrochen ist. Ziehen wir hieraus wiederum den Eückschluss
auf die Füllung innerhalb des Spitzovals in Fig. 168. Dieselbe ist hie-
nach auch nichts anderes, als die Verdoppelung jenes Schösslings der
fortlaufenden Wellenranke Fig. 167"). Diese Wahrnehmung ist doch ge-
wiss nur geeignet den schematischen Eindruck zu verstärken, den wir
soeben von dieser Art Eankenornamentik erhalten und hervorgehoben
haben. Es drückt sich darin zugleich ein ganz wesentliches Grund-
gesetz der Arabeskenbildung und der saraceni sehen Flächen-
ornamentik überhaupt aus. Ein — wenn auch zusammengesetztes —
^'j Jetzt erklärt sich uns auch die -wiederholt (S. 284, 303) konstatirte
Neigung zwei Halbmotive zu einem symmetrisch aufgebauten Vollmotiv zu-
sammentreten zu lassen.
20*
3()8 Die Arabeske.
Element liegt in der Regel einer ganzen Gesammtkoneeption zu Grunde:
sei es durch Halbirung, sei es durch Verdoppelung, wird ein fortwähren-
der Rapport hergestellt. In geometrischer Ausführung war dieses Gesetz -
zwar längst bekannt und geübt: Quadrirung, Kautennetz shul die älte-
sten Vorstufen desselben. Die Errungenschaft der Sara cenen lag
darin, dieses Gesetz des unendlichen Rapports zum leitenden
in ihrer Pfl a nzenrankenornamentik gemacht zu haben.
Dass wir in diesem Falle von einer ornament-gcschichtlichen ..Er-
rungenschaff sprechen dürfen, wird sofort gerechtfertigt erscheinen,
wenn man die betreffenden Ornamente des 9. Jahrhunderts noch einmal
aufmerksam betrachtet. Dass die seitlichen Füllungen in Fig. KiS nichts
Anderes sind als die Hälften der mittleren Spitzoval -Füllung, springt
keineswegs so sehr in die Augen , und Avird erst bei näherer Unter-
suchung Avahrgenommen. Noch weniger drängt sieh dem Auge der
Zusammenhang auf, der zwischen der Spitzoval-Füllung von Fig. 168
und der Wellenranke Fig. IGT obwaltet. Das ist eben das Charakte-
ristische am Arabeskenornament, dass dasselbe trotz geringer Ab-
wechslung in den Motiven und fortwährender Wiederholung
der Einz elkon figurationon dennoch niemals langweilig Avird.
Das Gesammtmuster erscheint unendlich reicher als es ist. Ja für den
naiven abendländischen Beschauer erscheint es oft so verwim und
komplicirt, dass man daran verzAveifeln möchte, überhaupt den Ariadne-
faden dafür zu finden, wenngleich dies bei einiger Kenntniss der
Grundgesetze der Arabeskenbildung Jederzeit mit geringer jMühe zu be-
werkstelligen ist.
Einmal bei diesem l'nnkte angelangt, wollen wir denselben nach
der historischen Seite noch etwas Aveiter erüriern. wiewdid es eine
AbschAveifung von der geraden Linie der Darstellung unseres Gegen-
standes Vjedeuter. Wann ist der uneiulliche Bapport in der Flächenorna-
mentik aufgekommen? Lässt sich dersell)e auch in vorsaracenische Zeiten
zurück n;icIiAveiseny \Vie nniii sieht, lie/wecken diese f'ragen die l-'est-
stellung des etwaigen sclir)pre)'isclien Anllieils der Saraeenen an dieser
Art von Flächendekoration. Das Thema ist I)egreifiichermaassen ein
so Aveitgespanntes. das Matei-i;d ein so reieldialtiges, dass eine er-
schöpfende, geAvisscn Erfolg verheissende Bearbeitung desselben ein
ganzes Bucli füllen Avürde. Hier müssen Avii- uns auf die Markirung der
Hauptpunkte der Entwicklung beschränken.
TJnendlicIien h'ajtpdrt ei'giebt schon das Scliachbi'ett- und das h'nuten-
■2. Frühsavacenische Piankenoniameiitik. 309
mustcr: in den geometrisclien Stilen muss derselbe also schon früh-
zeitig: Anwendung- gefunden haben. Damit kommen wir aber über die
primitive Streifendekoration kaum wesentlich liiuaus. Unser Interesse
an dem Schema beginnt erst recht von dem Augenblicke an, da man
darin über die Verwendung bloss geometrischer Einzelmotive hinaus-
geschritten ist. Dies ist — soviel wir sehen, zuerst — in den Decken-
dekorationen des neuen thebanischen Reiches von Egypten der Fall
gcAvesen. Das Gerippe derselben bilden zwar Spiralenverschlingungen,
aber die Füllungen dazwischen sind vielfach animalischer oder vege-
tabilischer Natur. An den Reproduktionen von Prisse d'Avennes^*^)
lässt sich nun öfter nachweisen, dass z.B. eine füllende Palmette am
Rande des Musters, wo dasselbe an die Bordüre stosst, bloss zur Hälfte
dargestellt ist. Es giebt sich damit ziemlich unzweideutig der Gedanke
kund, dass man sich jenseits dieses Durchschnitts die hall)e Palmette
zu einer vollen ergänzt, das ^Muster somit im unendlichen Rapport weiter-
laufend zu denken hat. Doch bildete diese Art, das Muster an den
Rändern, Säumen abzusetzen, wenn man nach Prisse's Abljildungen
schliessen darf, keineswegs die Regel -'''0; eine endgiltige Entscheidung
wäre wohl ül^rigens nur vor den Originalien zu treffen.
Dass in dc-r griechischen Dekorationskunst der unendliche Rapport
keine entscheidende Rolle spielen konnte^'-), Avird Jedermann klar sein,
nach demjenigen was wir im :>. Kapitel dieses Buches über Ziele und
Tendenzen der griechischen Pflanzenornamentik kennen gelernt haben.
So lange die griechische Kunst in ihrer langsam aber stetig zunehmen-
den naturalisirenden Tendenz einen aufsteigenden Gang genommen
hat, war darin für ein nvendticJies Pflauzenrankenmuster kein Raum.
Erst von hellenistischer Zeit ab, als der naturalisirende Process seinen
Höhepunkt erreicht hatte und die beginnende Reaction in einer vorerst
leisen, dann stetig anwachsenden Neigung zum Schematisiren der nicht-
geometrischen Ziermotive sich zu regen begann, dürfen wir überhaupt
nach einem unendlichen Muster von nichtgeometriseher Beschaffenheit
in der antiken Kunst Umschau halten.
^^) Z. B. Ornementation des plafonds, postes tieuronnees 9.
^») Vgl, z. B. unsere Fig. 23, S. 69.
•=0) Wohl aber findet sich derselbe in der mykenischen Kunst: in Wand-
malerei bei Schliemanu, Tiryns Tat". XI, in Vasenmalerei ebenda Taf. XXVII.
In letzterem Falle sind wohl die begrenzenden Polygone am oberen Rande
halbirt, nicht aber die füllenden Motive von augenscheinlich vegetabilischer
Herkunft. — Diese Din"-e harren alle noch der o-enaueren Verfolgung.
3 Kl
Die Arabeske.
Pompeji, das uiiscliätzbarr, hat uns auch diesbezüglich unver-
ächtliche Aufschlüsse geliefert. Trotzdem die pompejanische Dekoration
als das hohe Lied der freien Kankenornamentik und der figürlichen
Streumuster bezeichnet -werden darf, haben sich daneben doch auch
Beispiele von geometrisirender Wanddekoration nach dem Schema des
unendlichen Rapports gefunden. Erstlich einmal das nackte Rauten-
muster"^'!: wobei bloss die bunte Färbung, in der die einzelnen Rauten-
felder prangen, den wechselnden Sclnuuek hervorbringt. Dann eine
reicher behandelte Rautenniusteruug. wo die grösseren RautenfeUler
y^T^
?'"•'-
■^v-, ''''.^'S'
:^<
Ki;,'. ICH.
Miisnik-Fi'ilUiiiL' aii^ lieiii lsi.•^tL■mllel zu l'umpeji.
nach abwechselndem Schema durch kleinere Rauten verschiedener
Färbung untermustert erscheinen'''-). Audi hier ist die Färbung allein
das schmuckbereitende Element. In beiden Fällen aber begegnen wir
an den Rändern Dreiecken = halben K'aiiten, wodurch sieh der unend-
liche Rapport unzweideutig kundgiebt.
Bei solch einfaclisten Mustern ist man aber in Pompeji niclit stehen
geblieben. ^Vir liegegnen daselbst melirfachen höchst benierkenswertiien
Versuchen ''Fig. lti'.»)''''j, •■'"'' •■'hi<"he in Theilkonipartiniente zn zei'legen,
^') Niccolini, Descriz. gcncr. XLVII.
'-) Niccolini, Descriz. ^^cncr. XXXVr.
'■•) Niccolini, Tcmpio dlside II.
2. Frühsaracenische Kaiikeuornamentik. 3|]^
die zwar sämmtlich von geometrisclier Grundform, aber untereinander
niclit gleich sind , sondern verscliiedene Konfig'urationen darstellen :
Dreiecke, (^»uadrate, Eauten, Sechsecke, deren je mehrere zusammen
sich zu einer grösseren Kontlguration höherer Ordnung (Zwölfecken,
Sternen) zusammenfassen lassen. Es sind dies die direkten und
nächstverAvandten Vorläufer der saracenischen Polygonal-
ornamentik mittels eckig gebrochener Bänder. Nur wollte sich der
klassisch -antike Kunstsinn mit bloss geometrischen Konfigurationen
nicht gern begnügen: wir sehen daher in die einzelnen Sechsecke u. s. w.
in Fig. 169 kleine ornamentale Motive — in diesem Falle allerdings
von sehr einfacher, fast geometrischer Grundform — eingesetzt. Und
selbst diese haben schon genügt, um den unendlichen Rapport an den
Eändern zu stören, zu trüben: die besagten Füllmotive waren eben
nicht so absolut geometrischer Natur, oder — was dasselbe ist — sie
waren nicht so symmetrisch komponirt, um sich nach Bedarf einfach
halbiren zu lassen. Und damit haben Avir auch den Hauptgrund be-
rührt, warum der unendliche Rapport bei den Römern niemals zu einer
so maassgebenden Rolle gelangen konnte wie später im Mittelalter:
der Römer wollte sich nicht mit bedeutungslosen geometrischen Füllseln
begnügen, er wollte das Figürliche nicht missen.
Der Belege für das eben Gesagte lassen sich noch mehrere auf-
zählen. Haben wir es in Fig. 169 an den Eändern immerhin noch mit
leidlicli für sich abgeschlossenen geometrischen Kompartimenten zu
tliun gehabt, so sind in einem anderen Falle '5^) die das Rautennetz
bildenden Spitzovale an den Rändern etwa in Dreiviertellänge abge-
schnitten, nur damit die schwebenden Eroten und Bacchantinnen und
die graciösen Blumenzweige innerhalb der von je vier Spitzovalen ein-
geschlossenen sphärisch-quadraten Kompartimente vollständig zur Dar-
stellung gebracht werden konnten. Man opferte lieber den unendlichen
Rapport und die Reinheit des ornamentalen Grundplans, als dass man
den Gebrauch der dekorativen Figuren eingeschränkt hätte.
Einen überaus wichtigen Schritt zur Vervollkommnung dieser
reicher variirten Flächendekoration nach geometrischem Grundschema
bedeuten jene Deckenverzierungen (Fig. 170)^^), an denen kreisförmige
und sphärisch -polygonale Kompartimente mit einander abwechseln,
und durch verschlungene Bänder unter einander verbunden erscheinen.
Bedarf es da noch eines weiteren Beweises für unsere Annahme, dass
") Niccoliiii, Descriz. gener. XLVI.
*'■•) Niccolini, Terme ]iresso la porta Stabiana IIT, IV
312
Die Arabeske.
die polygonalen Bandverschliuirungen der saracenischen Kunst un-
mittelbar auf spätantike Anfange zurückgehen ? — dass sie nichts
Anderes sind als die aussersten und konsequenten AusbiUlungen einer
geonietrisirenden Tendenz in der Flächendekoration, deren erste leise
und schüchterne Regungen sich bis in die vorgesclirittenere hellenisti-
/w^wj^:j^
rip. 170.
l'oiiipojaniiiCiK; Dcckemlckmation in liemalioin .'^tiick.
sehe Zeit zurückverfolgcii lass<'ii uml (linn t'nrtgcsetztc Verfolgung
durch so viel ^rosaikfnsshiWlm \'iii Trici' liis Afrik.-) niMntnHri)i;il (.■!•-
wiesen vorliegt?
In Fig. 1 7o sind die s)iliiii'ischiii Kunip.irtinicnli' .ilternials linrch-
weg niit ligiiriiclien l);ii-.<tellnngen gcfiilli. w.'is w iidi rnm die ciiirteiicn
2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
o 1 •,>
OlO
Schwierigkeiten an den Rändern zur Folge hatte. Die pompejanische
Kunst hatte es aher auch zu Wege gebracht, einen Ausgleich zti finden
zwischen dem geometrischen Grundschema und der Xeigung für eine
nichtgeometrische Füllung: indem sie entsprechend stilisirte vege-
tabilische Motive dazu verwendet hat, um damit geometri-
sche Kompartimentc zu bilden. Der Beweis liegt vor auf einer
niosaicirten Säule im Xeapeler Museum (Fig. 171)*'^): das Rautennetz
ist durch Blüthenkelche hergestellt, die auf gerade Diagonallinien auf-
gereiht sind; an den Durchkreuzungsstellen sitzen Rosetten mit vier
kreuzweise davon ausgehenden dreispaltigen Blüthenprofilen, als Fül-
lungen dienen gleichfalls Rosetten, wofür
auch der Grund klar zu Tage liegt: die
Rosette zeigt nämlich die symmetrischeste,
und daher geometrischeste Projektion, in
der sich überhaupt Blumen darstellen
lassen.
Die Wichtigkeit, die das eben erörterte
pompejanische Flächenmuster innerhalb der
Gesammtgeschichte der Ornamentik bean-
spruchen darf, kann nicht genug betont
werden. Es liegt uns hiemit ein vollkom-
mener unendlicher Rapport vor, bestritten
durch vegetabilische Motive in der ent-
sprechenden Auswahl und Stilisirung. Zum
ersten Male tritt uns hier dieses Schema
entgegen, das späterhin in der saraceni-
schen Dekoration, insbesondere in der Ornamentik von Teppichen
und Fliesen von so übermächtiger Bedetitsamkeit geworden ist: halbe
Blumenprofile an den Rändern, die sich in der Phantasie zu ganzen
ergänzen und somit das Muster in"s Unendliche fortspinnen lassen.
Wie überraschend dieses Beispiel uns innerhalb der pompejanischen Orna-
mentik entgegentritt, wird erst recht klar, wenn man sich vergegen-
wärtigt, Avie peinlich die Römer noch in viel späterer Zeit darauf ge-
sehen haben, vegetabilische Ornamente in der Komposition als untheil-
bares Ganzes zur Anschauung zu bringen. Als solches typisches Beispiel
für römische Flächendekoration mittels vegetabilischer Ornamentmotive
diene Fig. 172*'' j.
ilnsai Filter Säulen»cliaft
aus Pompeji.
*^) Niccoliui, Descriz. gen. LXIII.
") Desgodetz, Les editices antiqiies deEome, Temple du Jupiter tonnant III.
314
Dir Arabeske.
Xocli eines Punktes muss hier Erwähnung geschehen, da ein still-
sehweigendes Darüberhinweggehen Missdeutung erfahren k(">nnte. Man
hat nämlich aueli das Schema des nnendlichen Rapports in dem ausge-
bildeten {'har.iktcr wie es uns in Fig. 171 entgegentritt, sowie alle
anderen ornamentalen Systeme aus technischen Prämissen al>zuleiten
gesucht, und namentlich mit dem Plattenbelag identiticirt. Diese
Hypothese beruht auf der Walirnelimung, dass der unendliche Rapport
sich in der Regel auf polygone, vielfach sogar auf quadrate Grund-
formen zurückführen lässt. Avas für die Technik des Fliesenmosaiks in
1 1! iii-HüJug^Tiv'timuiMv \v- \\ www ivw n' u' vyT{nt;:!:w^'^TrT(r!iT'~^'WW--'tff"TC''l!'^Tif
ts^^isStiStiiJtmmit^m^mtwmM
Fi^-. 172.
■^knlpirte Füllung von einem rilmisclien (Icbillkstlick
der Tliat den \'<H'ilicil mit sich braelite, dass iiiaii eine Unzahl von
Fliesen mit dem gh-iclien .Miistei" brennen könnt«'. di<' einfach n«'l)cn
einander gelegt, ein vcjlikdiiiniriic,-^ und vei'liälliiissnuissig reiclies .Muster
ergal»en. Alter aueh in diesem Falle liai niaii (im kausalen Sai-hver-
lialt umgekehrt. Dass die Fliesenfabrikatioii (kIit ^\i-v ..Platleiibelag"
sich mit Eifer dieses dekorativen Systriii> lirmäeliiigtc, das .'-icii {\vv
genannten 'ricjniik in «Iit That ganz licsonders eniiilahl. ist Ja gewiss
nur natüriieli. Dass alter der niifiidliehe Ixa))])!)!-! zuerst an Fliesen
Anwendung gefunden haben soll, ist selileehli rdiugs iinhewiesen. Kein
Bel.spiel aus rönii>rh<'r /cit lässt sieh daliir aiiliilirrii : w.is wir im \'(>r-
2. Frühsaraceni.sche Kankeiionianientik. 315
stehenden an einschlägigen pompejanischen Denl^mälern Icennen gelernt
halDen, ist durchweg entweder in bemaltem Stuck, oder in Wand-
malerei, oder in Stiftmosaik ausgeführt, in keinem einzigen Falle mittels
grösserer Platten. Dagegen hat man in Ländern, in denen der ge-
brannte Thon die Stelle des — fehlenden — Steins vertreten musste,
schon sehr frühzeitig bemalte Fliesen gebraucht, wie in Chaldäa und
hienach in Assyrien. Aber diese emaillirten quadratischen Fliesen
aus dem alten Mesopotamien zeigen keineswegs Ornamente nach un-
endlichem Eapport zusammengestellt, sondern Darstellungen gegen-
ständlichen Inhalts wie diejenigen aus Khorsabad (bei Place, Ninive),
oder Bogenfriese mit aufgereihten vegetabilischen Ornamenten, wde in
unserer Fig. 33, S. 88.
Wir werden daher auch für Erscheinungen gleich Fig. 171 nicht
technische, sondern künstlerische Momente als die zeugenden und
bildenden anzunehmen haben. Und diese dürften im letzten Grunde
keine anderen gewesen sein, als diejenigen die zur allmählichen Ent-
naturalisirung des Akanthus und der Kanke geführt haben. In der
That laufen von nun an Iteide Erscheinungen parallel. Wo wir den
ersten ausgesprochenen Umbildungen des Akanthus begegnen — im
Ostrom des 5. und G. Jahrhunderts — dort tritt uns auch die Wand-
verzierung nach dem Schema des unendlichen Eapports in häutigerer
Anwendung entgegen, — P>eides etwa auf dem halben Wege der Ent-
wicklung, die erst in der saracenischen Kunst an das äusserste Ziel
gelangt ist. Fig. 144 enthält noch eine völlig in antikem Geiste kon-
cipirte, wenn auch im Einzelnen bereits stark veränderte Ranken-
ornamentik. An Fig. 145 vollzieht sich der Uebergang in ein geometri-
sches Grundschema , aber der unendliche Rapport ist doch noch recht
mangelhaft zum Ausdruck gebracht: am deutlichsten in der Halbpal-
mette unten am Rande, die man in der Phantasie zu dem vollen Fächer
einer gesprengten Palmette zu ergänzen hat. Ein vollständiges Beispiel
von unendlichem Rapport giebt aber Salzenberg a. a. 0. auf Taf. XXV. 2:
in der Anordnung und selbst in den Motiven herrscht darin mehrfache
VerAvandtschaft mit dem pompejanischen Beispiel Fig. 171, weshalb ich
davon keine Abbildung gebe. Einschlägiges Material ist übrigens
an Denkmälern der oströmischen Kunst so zahlreich erhalten, dass es
eine eigene Bearbeitung lohnen würde. Ich gebe daher in Fig. 173
bloss ein besonders charakteristisches Beispiel aus Beturs a (Syrien)*^^).
^-) Nach de Vogüe, Syrie centrale Taf. 43.
316
Die Arabeske.
Die Bänder, die hier theils vierpass-, tlieils hretzenförinig-e Ver-
schlinguiig'en bilden, sind — was dem obertläeliliclieui Besclianer voll-
ständig: entgeht — Jedes nach Art eines liegenden Kreuzes hingwlegt,
Avorin sich bereits die für die Saraceuen so charals;teristische Tendenz
nach Verräthsehmg der Schlingbewegungen unzweideutig ankündigt.
Als Füllung dient eine Rosette, die aus vier byzantinischen Akanthus-
Dreiblättern zusammengesetzt ist. An den Rändern bezeichnen halbe
Rosetten in halben Vierpässen den uuendlii-lieu Rapport, in den oberen
Ecken sind dieselben folgerichtig vollciuls auf ein \'iertol r<(Uu-irt.
Fig. 173.
Skulpirte Füllung aus Hetursa (.Sj-ricn>.
"Wir krhrrn nunmehr zu unserer Darstellung der Rankenorna-
mentik auf frühsaracenischen Denkmälern zurück. Fig. 174'^'') zeigt die
geschnitzte Vorderwand eines Elfenl)rinkästchens, dass sich gegen-
Avärtig im Musec des arts decoratifs zu Paris Ixiindet. Eine Inschrift
am Deckel bezieht sich auf das Jahr 905 n. Chr. . also ungefähr ein
Jahrhundert nach der Entstehung der Stuckonianicute der Moschee des
Um Tuluu zu Kairo, l'n-idc lljilftcn — rechts und links vom Scliloss-
beschlag — entsprechen einander in vrilligcr Synnnetrie, so dass wir
Ijloss eine Hälfte zu enirtern brauclien. In vicliu Details erweist
sich Fig. 171 elier /jiriickgeiilielieu in der l'Jitwicklung uegeiiüber .jenen
älteren Beispielen. Die spiraligen Abzweigtingen, die Stiele, an denen
die grösseren Blüthen sitzen, und anderseits die geringe Rolle, die den
kleinen unfreien Halbpalmettcn zugewiesen ist, lassen den engen Zn-
'''••) Schlumbcrger, Un empercur byznntin 'In X'''"'^ .sieclo. r.-nis IS'IO.
.S. 125.
2. Frühsavacenische iiankenornainentik.
317
sammenhang mit dem antiken Rankenornament noch recht greifbar
deiitlicli ersclieinen. Das Gleiche gilt von der an.sg'esprochen vegeta-
bilischen Modelliriing, der feinen, kleinlichen Fiederung sämmtlicher
Blattmotive: dass dies auf eine stilistische Veränderung mit dem
Akanthusblatt zurückgeht, wurde schon auf S. 2l)!> auseinandergesetzt,
und erscheint vollends bewiesen durch Fig. 175, wo der Akanthus zum
Theil noch mit den rund herausgebohrten Pfeifen zwichen den ein-
zelnen Zacken versehen ist '''). Auch sind die fein ausgezackten Konturen
der Blätter ohne umschreibende glatte Aussenlinie geblieben. Dennoch
Avird schon beim ersten Anblick Niemand an der saracenischen Her-
kunft dieses Kästchens ZAveifeln. Es liegt dies vor Allem an dem
Fig. 174.
Voi-derwaucl eines saracenischen Elfenbcinkästcbens, datiit vom Jahre 905 n. Cli.
eigenthümlichen Polygon, welches die Hauptranke in der ganzen Höhe
der Wand bildet, ferner in gewissen Durchschneidungen der Ranken,
endlich — wie es wenigstens zunächst den Anschein hat — in der Be-
handlung einiger Blüthenmotive.
Es ist eben charakteristisch für diesen ganzen Umwandlungs-
process der nattiralistischen antiken Ranke zur geometrisirend-stilisirten
Arabeske, dass derselbe an verschiedenen Punkten gleichzeitig ansetzt
und in der Fortbildung keineswegs gleichmässig verfährt : hier wird
die Schematisirung der Motive mehr gefördert, dort diejenige der
Rankenführung, Avie es eben auf einem so weit ausgedehnten Gebiete
'^') Beiläufig- bemerkt, war die Behandlung- des Akanthus au abend-
ländischen Arbeiten (Elfenbeinschnitzereien, Miniaturmalereien) jener Zeit nicht
selten g-enau die o-ieiche.
318 Die Arabeske.
zwischen Pyrenäen nnd Jtinduknsch niclit anders geschelicn konnte.
Gewiss wird man beim Aveiteren Verfolg'en der Geschichte der saraee-
nischen Kunst dazu gehing:e]i, bestimmte lokale Gruppen genau zu
unterscheiden und zu charakterisiren. Heute handelt es sich noch
darum, das Einheitliche in dem ganzen Knnvicklungsgange aufzuzeigen,
das seine — einzig mögliche — "Wurzel in der gemeinsamen spätantik-
byzantinischen Kunst hatte, d. h. in jener Kunst, die in allen die>en
über drei Welttheile sich erstreckenden Ländern l)eim Aufkommen
des Islam die herrschende gewesen ist.
Erörtern wir nun kurz die vorhin lixirten, specitiscli-saracenischen
.Alotive an Eig. 174. Es ist dies erstlich die Einrollung der Haupt-
ranke zu einem Polygon mit theilweise sphärischen Seiten. Dasselbe
dient als Rahmen einer Konfiguration von zwei einander doppelt ülM^r-
schneidenden Rankenzweigen. J3esonders charakteristisch ist dabei
die untere Durchschneidung, die in der Weise geschehen ist, dass die
daran ansetzenden Hal])blätter eine Art Vollblatt bilden. Die Blüthen-
motive sind aus akanthisii'cnden Blättern gebildet und zeigen zweierlei
Typen: in einander geschachtelte zwei Kelche mit krönendem, palmetten-
fächerartigem Blatt, oder (inneiiialb des Kielbogens) seitwärts ge-
krümmte lange Fächer über einem Kelch aus kreisfV>rmig eingerollten
Voluten. Die Ableitung dieser Blüthenformen Avird uns weiter unten
des Besonderen beschäftigen.
Vorerst wollen wir aber noch ein zweites Elfenl)einkästchen
(Fig. 175) in Betracht /.ielieii, woran so nahe Beziehungen zu dent
datirten Stück Fig. 17 1 zu beobachten sind, dass wir beiden wohl un-
gefähr die gleiche Zeitstellung einzuräuiueii gezwungen sind. Die
deutlich antikisirende Bildung des Akantlius und das Fehlen des Poly-
gons von Fig. 174 scheinen zwar geeignet, uns in Fig. 175 eher eine
frühere Entwicklungsstufe erblicken zu lassen; das Gleiche gilt von den
Spiralranken, die aus den Halbpalmetten am (il)i'i'en l\ande der Vorder-
Avand gleichsam ZAvickeltÜllend herA^orbrecheu. Aber anderseits fehlt
es auch Avieder nicht an l'uiilsten , Avelcjie den „saracenischen" Cha-
rakter von Fig. 175 reehl deutlieh niaeheii. So die vielfachen \>-v-
schlingungen 'namentlich am Deekel i. ilie Dnrchschneidungen wn
Blättern und Ranken und die Stilisirung dei- einzebien P)lattmotive.
In den Gabehingen rechts und links vom Schlosslx-sehlag auf dei-
Vordei'Avand erscheinen ganze Akanthusblätter eingesetzt, mit eine)-
Einziehung in der Mitte: es ist dies di«- leil»haftige saraceniselie ( iabel-
ranke (B^ig. 138, 13f> a, b). Ilinsichtiieh dei- iietontcn Einziehung in
2. Frühs.-iracenische Rankenoniamentik.
319
der Mitte dieses Motivs verweise ich aucli auf die entAvicklung'sg'e-
schichtlich damit zusammenhängenden Schlitze, die uns an den Pal-
metten Fig'. 167, lii8 (S. 307) entgegengetreten sind, und die nunmehr
ihre Erklärung finden. Die Ranke, an der sich die eben besprochene
Gabelung vorfindet, erscheint unmittelbar unterhalb dieser Gabelung
von einem grossen Akanthusblatt überschnitten. Dasselbe ist durch
die — allerdings akanthisirend gebildete — Volute am Ansatz als Halb-
palmette charakterisirt , wie es denn überhaupt für diese Stufe der
rig. 175.
Spanisch-saracenisches Elfenbein kästchon.
saracenischen Ornamentik als geradezu charakteristisch bezeichnet
werden darf, dass die allgemeinen Umrisse von den zum Geometrischen
neigenden flachen Palmettentjq:)en, die Einzelbehandlung dagegen meist
vom Akanthus entlehnt ist. Auch jene eben erwähnte akanthisirende
Halbpalmette nun nähert sich sehr dem Habitus der saracenischen
Gabelranke, die ja eben aus diesen zwei Wurzeln herkommt: derEanken-
gabelung mit akanthisirender Zwickelfüllung und der Halbpalmette.
Dass übrigens diese beiden Wurzeln im letzten Grunde auch eins und
dasselbe sind, ist uns aus der Entwicklungsgeschichte der antiken
Pflanzenrankenornamentik längst klar geworden.
Noch auf ein Detail an Fig. 175 sei aufmerksam gemacht: die
Die Arabeske.
Eanke, welche in der zuletzt erörterten H;ilbi);ilmette endigt, ents^eudet
kurz vorher einen unfreien Halbblattfäelier, der die Hauptranke durch-
schneidet und mit einem gleichartigen Gegenüber in symmetrischer
Paarung zusammentritt, so Avie wir es zu Aviederliolten Malen au Halb-
palmetten beobachtet liaben. die zu gesprengten l'ahuetten zusannnen-
traten. Dieses eclit ,.arabeske" ^Motiv tritt gleich den früher erwähnten
in der Gesammtwirkung nur deshalb zurück, weil die akantliisirende
Bildung der Details den Kindruck vornehmlieh beherrsclit.
Da die Inschrift des Küstchens (Fig. 175) den Namen eines spani-
schen Khalifen nennt, so erscheint die Herkunft desselben aus spanisch-
maurischem Kunstgebiet ziemlich sichergestellt. Da
ist es nun gewiss lehrreich zu selien, dass die ehrist-
lich-spanischc Kunst sich der gleichen Stilisirung des
Akanthus bediente. Den Nachweis hiefür möge Fig. 17(>
bieten. Wir sehen da einen gerade aufgesprossten
Stannu, von dem rechts und links in symmetrischer
Paarung je zwei Akanthushalbblätter abzweigen. Die
Blätter zunächst dem Stamme sind deutlich voluten-
artig eingerollt, abei* ebenso wie die ülu'igen Blatt-
theile fein gefiedert. Die Bekriniung bildet eine fünf-
spaltige Palmette, die von den zwei Halbfächern einer
gesprengten Palmette eingerahmt erscheint, Die akan-
tliisirende Bedeutung ist auch liier durch die tiefen
Einziehungen zwischen den einzelnen Blattgliedern
sichergestellt, und die Konturen durchweg in der gleichen feinen AVeise
gefiedert, wie in Fig. 17 1 und IT.'i, und ausserdem von eiiu'r glatten
Umrisslinie umzogen, worin w'w mindestens kein unsaracenisches ]\lo-
ment zu erkennen vermögen. Kndlicli zeigt auch der fünfblättrige
Fächer, aus dem der Stamm emporwächst, die erörterte akantliisirende
Behandlung.
Fig. 1 TU ist entlehnt aus dem Codex \'igilanus im l*>cni-ial. und
zwar von einem Blatte mit bildlichen Darstellungen, d« ren l'>eiselii'it'ten
im paläograpjiischen Charakter noch star]< kursive lllemenie ;iiif\\('isen
und dalier nicht unter das '.K .lalirli. lierabgerückt werden ki'uinen, und
somit gewiss jünger sind, als die Kästchen Fig. 171 und 17.'». AVas aber
der Fig. 17(> besondere Wichtigkeit verleiht, ist die Beisehrilt ..ail)or",
die bei ihren AViederhoIungen mchrlaeh wiederkehrt. Es ist also sozu-
sagen der ..Id(!albaum'', d(;n sieh die spanischen Miniaturisten der
Karolingischen Zeit unter solclieii mit Akanthusl)l;itteni besetzten Ge-
r ig. ITC.
2. Frühsaracenische Eankenornaiiieiitik. 321
bilden vorgestellt haben. Muss da nicht die Bedeutung- dieser Gebilde
bei ihren Schülern, den Saracenen, wenigstens ursprünglich, noth-
wendigermaassen die gleiche gewesen sein?
An Fig. 174 konnten wir wahrnehmen, dass das Akanthusblatt
darin nicht bloss zur Stilisirung des Halbpalmetten fächers — also in
seiner traditionellen historischen Funktion — verwendet erscheint,
sondern auch zur Gliederung der Voluten, die als Halbkelch am An-
sätze einer jeden solchen Akanthus-Halbpalmette — gleichfalls einem
traditionell-historischen Schema zufolge — angebracht wurden, und
endlich zur Zusammensetzung der grösseren Blüthenmotive selbst,
in welche die Ranken frei endigen. Diese umfassende Anwendung des
Akanthusblatts müsste uns in einer Kunst, deren Ziele auf das Abstrakte,
Symmetrisch-Schematische gerichtet waren, Wunder nehmen, wenn sie
in diese Kunst neu aufgenommen wäre. Sie ist aber nicht minder ein
überkommenes Erbstück aus der späten Antike. Hier ist die Stelle,
um auf die Rolle, die der Akanthus als vegetabilisches Einzelmotiv in
der spät-antiken und früh-mittelalterlichen Kunst gespielt hat, näher ein-
zugehen: erstlich um gewisse typische Formen der saracenischen Kunst
zu erklären, zweitens um der Frage willen, wohin denn das weitaus
wichtigste Ornamentmotiv der Antike ^ eben der Akanthus — im
mittelalterlichen Orient gekommen ist? — eine Frage, die man sich
bisher noch gar nicht vorgelegt zu haben scheint, da man eben unter
dem lähmendem Drucke der allverbreiteten Meinung stand, dass für
die Erscheinungen auf dem Gebiete der Ornamentik das Kausalitäts-
gesetz keineswegs unbedingt geltend gemacht Averden dürfte.
Der Ausgangspunkt liegt auch hiefür wieder in der ausgebildeten
hellenistischen Kunst. Fig. 177 zeigt die Eeliefverzierung einer steinernen
cylinderförmigen Ära aus Pompeji^'). Das Ornament trägt alle charak-
teristischen Züge der hellenistischen Dekorationskunst. Die mit einer
Schleife umwundenen Embleme des Herkules repräsentiren die unver-
meidliche Götter- und Heroensage, aber in spielender dekorativer Be-
handlung, trophäenartiger Zusammenstellung; dahinter zwei gekreuzte
Zweige, die nach abwärts divergiren und mit den von beiden Seiten ent-
gegenkommenden Zweigen unten zu Festons verknüpft werden. Wir ahnen
zwar den kreisförmigen Schwung der ornamentalen Ranke, sehen aber
nur knorrige blätterbesetzte Zweige. Soweit athmet alles Naturalismus.
Wenn wir aber dasjenige, womit die Zweige belaubt sind, in's Auge
'1) Niccolini, Descriz. genev. XCVI.
Riegl, Stilfragen. •^l
Q09
Die Arabeske.
fasseil, so geratlien wir in A'erleg'enlieit. Zwar, dass es Blätter sind,
ist bis auf eine geringe Anzahl von knospenartigen Endigungen viUlig
klar; welcher botanischen Species gehören aber dieselben an? Es ist
eben nicht eine bestimmte südliche Blattflora, die uns da entgegentritt.
sondern ein rein ornamentales Blattwerk. Der Charakter, den der
Naturalismus der hellenistischen Zeit besessen hat, lässt sich kaum an
einem anderen Beispiele so treffend nachweisen, wie an Fig. 17(>. Es
ist das Akanthusornament, das hier tlazu l^enutzt ist, um ein Blattwerk
von rein ornamentaler Herkunft und Daseinsberechtigung zu Schäften,
— gleichAvohl aber ein BlattAverk, das den Beschauer nicht einen Augen-
blick darüber im Zweifel lässt, dass eben ein solches damit ücmeint
• l'ig. 177.
ücliefverzierung eines Steincylinders, aus Pompeji.
ist. Während Avir z. B. angesichts der alten strengen Palmette uns niclit
bloss fragen, auf welche Iilumeiisi)eei('S sie wohl zurüekgehen möchte,
sondern vor Allem, ob iil)erliaupt eine Blume (l.iliintei- zu suchen ist,
fällt an dem B]aiiw<-i-k in Fig. ITii eine solche Frage liinweg. Was in
diesem Falle die Intention des Künstlers gewesen ist, leidet keinen
Augenlilick Zweifel: es galt ein ornamentales Blattwerk darzustellen,
und zu diesem Zwecke verwendete der Künstler das iliui traditionell
überkommene und für äliidiclie Zwecke hewähiMe Akanthusornament.
Der Naturalismus der helleuistisclien Künstler ging in der Ornamehtik
nielil l»is zum unmittelbaren Absclireiben der Natur"): die dekorative
") Wolil aber, wenn die Al)>icht auf geu'enstiintliiclic Darstellung' vor-
handen war. in wek-liem Falle uiau der Xatui' ihre charakteristiselicn Seiten
2. Frühsaracenische Rankenornamentik. 32o
Kunst bewalu'te sich noch immer ihre eigene Sphäre, wenngleich sie
an ihren Hervorbringungen den Zusammenhang mit der lebendigen
und realen Natur deutlicher durchblicken liess als dies jemals in den
zeitlich voraufgegangenen Künsten der Fall geAvesen war.
Dieser Punkt ist nicht bloss für die hellenistisch-römische Pflauzen-
ornamentik, sondern für das dekorative Kunstscliafifen aller vergangenen
Jahrhunderte bis auf die neueste Zeit allzu wichtig und bedeutsam, als
dass es überflüssig erscheinen könnte, denselben noch an einem weiteren
Beispiele zu erläutern. Fig. 178") zeigt die Reliefverzierung von einer
anderen steinernen Ära aus Pompeji. Aus einem doppelten Blattkelch
(der gleichfalls unsterbliche historische Nachfolge gefunden hat) —
Fig. 178.
Steincyliuder mit Keliefverzieriing, ans Pompeji.
einem ab- und einem aufwärts gerichteten — entspriessen zwei Ranken,
die nach bekanntem hellenistischen Schema (Fig. 121) sich nach Rechts
und Links entfalten, spiralig einrollen, ja sogar verschlingen. In diesem
Falle erscheint ausnahmsweise auch die botanische Species charakteri-
sirt, die wir uns darunter vorzustellen haben: kleine Träubchen sagen
trefflich abzulauschen wusste. AUerding-s ist dann oft in Fällen wie z. B. Ant.
Denkm. I. 11 (Wandbild in Prima Porta) die Grenze zwischen g-egenständ-
licher und dekorativer Absicht nicht mehr streng- zu ziehen. Solche Fälle
scheinen vielmehr zu beweisen, dass man schon in der aiigusteischen Zeit
sich auf einem Wege zum Realismus in der Kunst befand, von dem man
jedoch alsbald abgekommen ist, um sich ihm erst wieder in neuerer Zeit,
diesmal aber entschiedener, zuzuwenden.
^^) Niccolini ebendas.
21*
324 Die Arabeske.
ims nämlicli, das es Eebrankcn sind, die sich da nach dem altgriechi-
schen Schema der dekorativen Wellenranke über die Fläche des Cy-
linders verzAveigen. Betrachten Avir aber die Blätter: ihre Form ver-
stösst zwar nicht ang'enfällig gegen das Aussehen von realen "Wein-
blätteru, aber ein Botaniker wird sie als Kopien nach der Xatnr ge-
wiss sehr mangelhaft finden. „Diese Weinblätter sind nicht streng nach
der Natur faesimilirt", Avird er sagen, „sondern der Künstler hat in ihre
Zeichnung etwas aus seiner Phantasie hineinfliessen lassen." Und was
die Phantasie des Künstlers in diesem Falle erfüllt hat, kann für uns
keinen Augenltlick zweifelhaft sein: es ist Aviederum das Akanthus-
ornament mit seinen lappigen Ausladungen und den tiefen „pfeifen"-
artigen Einziehungen dazAvischen, das der Stilisirung dieser „Weinblätter"
zu Grunde liegt. Immerhin bezeichnet eine so Aveitgehende Annäherung"
an die natürliche Erscheinung, Avie sie insbesondere das Einstreuen a'ou
Träubchen beweist, eine Ausnahme, für deren Erklärung sich aller-
dings schAverAA-iegende Gründe geltend machen lassen: A'or Allein die
gegenständliche und symbolische Bedeutung, die mit dem Weine und
Avas damit zusammenhängt seit frühester historischer Zeit verknü]^ft
worden ist, geAviss aber auch die augenfällige VerAvandtschaft . dir
zwischen der ornamentalen Ranke und der Rebranke olnvaltet. ^^'ir
finden daher die Weinranke nach dem Scliema der fortlaufe lu Ion
Wellenraukc bereits auf verhältnissmässig so frühen Beispielen, Avie
der sogen. Alexandersarkopliag A'on Sidon (pulil. bei Hamdy Bey, Ne-
cropole de Sidon). Dass auch in diesem Falle das Akanthusornament
für die Stilisirung des Weinlaubs A'orhildlich gcAvesen ist, bcAveisen die
..Pfeifen", doch sind hier überaus bezeichnendermaasscn die Konturen
der Weinblätter entsprechend dem griechischen Akanthus (Fig. 111)
spitz ausgezackt, zum Unterschiede von der Aveichen und lappigen
Bildung an dem römischen Beispiel Fig. 178.
Wenden Avir uns Avieder zurück zu Fig. 177. Die einzelnen aus
dem Akanthuseiement gestalteten IMätter sind nach Bedürfniss in die
Länge und Breite gezogen; von ;iir dii'scn Pi'ujckiioucu inicfi'^sin
uns bloss eine: es sind dies die zusammengefaheten abAVärts liängeuden
Blätter, die mit ihren auswärts gekrümmten Spitzenden bloss längs einer
Ranke aufgelegt zu Averden brauclien, um als Akanthushalbblätter gelten
zu köuiHii. Dieses kraiitartig zusammengefaltete Akantliusl)latt ist es
nämlicli, das in die si»ätrömisehe Antike und mit dieser in das [Mittel-
alter übergegangen ist, und das Element zur Zusammensetzung neuer
bedeutsamer Blütheuniolivf ircbildet li.ii.
2. Friihsaracenisclie Eankenornamentik.
325
Aber auch die Verwendung' des Akanthut- zur Bildunj;- neuer kompli-
cirter Blüthenmotive ist keine Neuerung der byzantinischen Zeit. Pom-
peji bietet hietur bereits überzeugende Beispiele. An der fortlaufen-
den Wellenranke (Fig. 179)'^) endigt die Einrollung rechts in eine ge-
meinübliche Kosette, die P]inrollung links dagegen in ein buschiges Ge-
bilde, das unzweifelhaft aus Akanthusblättern zusammengesetzt, dennoch
nicht als Blatt, und somit wohl nur als Blume, und zwar als orna-
mentale Blume erklärt werden kann.
Aus früherer byzantinischer Zeit bieten die besten Beispiele von
komplicirten buschigen Blumenkelchbildungen aus zusammengefalteten
Akanthusblättern die sassanidischen Architekturfragmente, Avovon unsere
Figuren 161 — 163 überzeugende Proben an die Hand geben.
Fig. I7;t.
Steinerner Fries mit Ak;inthiis-Ranke und Blumen. Aus Pompeji.
Der Zeitpunkt, von welchem ab die Ornamentik in den dem Islam
zugefallenen Provinzen des ehemaligen oströmischen Eeiches einen von
der Entwicklung in den unter byzantinischem Scepter verbliebenen
Ländern merklich verschiedenen Charakter angenommen hat, lässt sich
heute noch nicht genügend deutlich erkennen. Soviel ist aber schon
aus unserer bisherigen Uebersicht klar geworden, dass die Fortbildung
zunächst lange Jahrhunderte des früheren Mittelalters hindurch keine
politischen Grenzen gekannt, hüben und drüben den gleichen Weg ge-
nommen hat. Freilich konnte es nicht ausbleiben, dass das Fortbildungs-
tempo in Ländern, wo die Pflege figürlicher Darstellungen in Folge
religiöser Satzungen geflissentlich zurückgestellt, wo nicht geradezu
unterdrückt wurde, und die Kunst somit im Wesentlichen auf die Be-
friedigung des Schmückungstriebes, auf die Ornamentik allein be-
schränkt erschien, ■ — dass das Fortbildungstempo der Rankenornamentik
in solchen Ländern schliesslich ein rascheres werden musste, als inner-
halb der Grenzen byzantinischen Kunstgebietes, wo man trotz ikono-
klastischer Neigungen doch der bildlichen Darstellung einer Anzahl
'') NiccoUni, Tempio detto volg-avmente di Mercurio No. 8.
326 ■ ^^ie Arabeske.
von figürlichen Typen religiöser Bedeutunü- nicht entsagen -wollte odw
konnte.
Im '.'. .Jalirli. fanden wir an den Stnekornanienten der Moschee des
Ibn Ttilun zti Kairo die ersten Spuren einer Ditferenzirnng saraceniselier
und byzantinischer Ornamentik: doch muss die bezügliche Entwicklttng
zunächst eine sehr langsame gewesen sein, da wir sie noch fast hundert
Jahre später an Elfenbeinschnitzereien nur um Geringes weiter fort-
geschritten angetroffen haben. Ja man darf verninthen, dass. wenn
erst unsere Kenntniss der byzantinischen Ornamentik ciuf ein grösseres
und umfassenderes Material gestellt sein Avird, die Differenzpunkte
zwischen der byzantinischen und saraeenisclien „Araljeske" sich eher
noch mehr vermindern, der gemeinsame Entwicklungsgang für beide
sich noch um ein Stück Aveiter herab verfolgen lassen Avird"^). Erst im
12. Jahrh., Avie Avir sehen Averden, tritt uns die saracenische ..Arabeske"'
ziemlich fertig entgegen, erscheinen die verschiedenen charakteristisclien
Züge, Avelche den Begriff der Arabeske zusammensetzen, nicht l)loss
A'ereinzelt, sondern in ihrer Gesammtlieit neben einander A-ertreten und
in Folge dessen die Beziehungen zur klassisclien Kankenornanicntik
nicht mehr so unmittelbar zu Tage tretend. Ob zAA-ar Avir also — Avie
Eingangs gestanden Avurde — einen genauen Zeitpunkt für die
Trennung der byzantinischen und der saraccnisehen EntAvicklnng
in der mittelalterlichen Rankem ini.uiu'iitik heute noch niclit lixircn
können, so Averden Avir dieselbe dnch im Allgemeinen in das K». und
11. Jahrh. verlegen dürfen, Avdcher weit gespannte Zeitraum sich aus
dem Grunde rechtfertigt, als der bezügliche Process in den Aveit aus-
gedehnten Gebieten, über AA'elche sich die Herrschaft des Islam im Laufe
der Zeit erstreckt hat, gewiss nicht einen gleichmässigen, sondern «-inen
zeitlich sehr verschiedenen Gang genommen haben muss.
Die ornamentalen Elemente, an welchen sicii die raschere und
somit \'0u der strcngbyzantinisclien verschiedene EntAvicklnng auf
saraccnischem Boden \-ollzogen liat, müssen notliAvendigennaasseii die-
jenigen gewesen sein, l)is zu denen die gemeinsam«' Mntw icl^liuiL;' im
Osten des Mittelmeeres, im ciii-istlieh l)\/.iniini>ehen wie im saraccni-
sehen, zuletzt geführt liatt«-.
Ist nun der Trennungs]Mini<i ii.icli dem eben vorhin Gesagten im
IM. und ]l. .lalii'h. zu suclien, ao werden Avir lieni uns aus die>er Zeit
") Sclioii die Beispiele hei Sta.s.setV a. a. o. T.if. 1^*0 — iL'l lassen dieseu
Kindruck recht überzeugend "■eAvinneu.
•2. Frühsaracenische liankenornamentik. 327
Ijekannt gewordenen Pflanzenrankenornament In' zant inischer Her-
kunft besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden liaben, da dasselbe eben
die letzte Phase gemeinsamer byzantinisch-saracenischer und zugleich
den Ausgangspunkt für die erste Pliase einer rein saracenischen Orna-
mentik repräsentirt. Am besten unterrichtet sind wir über das Kunst-
schaffen dieser Zeit im byzantinischen Reiche aus ^[iniaturhandschriften,
deren Pflege man damals augenscheinlich ganz besonders zugewandt
war. Die ornamentale Ausstattung der Bücher religiösen Inhalts war
in der Regel eine sehr reiche und buntfarbige. Als maassgebendstes
Element tritt uns hiebei das uns im Besonderen beschäftigende, das
vegetabilische entgegen, und zwar sind es die Blüthenformon. die
den charakteristischen Tlieil dieser Ornamentik ausmachen.
Es sind dies Kombinationen von Akanthusblättern, Avie wir
solche schon seit pompejanischer Zeit (S. 325) kennen gelernt haben.
Fig. 180 zeigt die einfachste und vulgärste, auch in der romanischen
Fig. 180. Fig. 181. Fig. 182. Fig. 183.
Byzantinische ßlütheiibilduugen aus Akauthus.
Kunst des Abendlandes weit verbreitete Form: den Akanthuskelch. Zwei
der Hälfte nach zusammengeklappte Akanthushalbblätter (Fig. 177,
161 — 163) treten da zu einem Kelch zusammen. Damit haben wir das
nackte Schema gegeben; die sozusagen lebendige Ausführung in Mini-
aturmalerei zeigt Fig. ISC^). Hier erscheint der Kelch gemustert mit
kleinen Doppelschralfen, und versehen mit einem Zwickelabschluss, den
das mittelalterliche Kunstgefühl niclit minder wie das antike fortgesetzt
verlangte.
Komplicirtere Formen zeigen Fig. 181 und 182. An ersterer ge-
wahren wir zu Unterst einen Kelch ähnlich Fig. 180, darüber einen
zweiten, dessen obere Ränder volutenartig nach abwärts umgeschlagen
sind. Dazu kommen Avieder füllende Schraften und Zwickelabschlüsse.
Charakteristisch ist die Neigung zum Umklappen, Einschlagen der
Ränder, und zu geschweifter Bewegung der Blattspitzen. (Vgl. auch
'«) Fig-. 180—183 nach Stassott" a. a. O. Taf. 121: Xo. 24, aus einer Hand-
schrift des XI. Jahrhdts.
Die Arabeske.
die Blume in der Eiiirollung' einer Alianthnsranke Fig. liU.) Diese Be-
wegung gestaltet sich mitunter sehi' lebhaft, wie in Fig. 182, avo die
Akauthushalbblätter weder streng symmetrisch gruppirt sind, noch nach
der gleichen Kichtung Aveisen, sondern auf und al> und durcheinander
geschlagen erscheinen"").
Eine sehr liäufig wiederkehrende Form zeigt Fig. 183. Im Grunde
haben wir da nichts Anderes, als ein Akanthushalbblatt mit umge-
klappten Seiten, aus einem akanthusartig gegliederten Volutenkelch
emporsteigend.
Nach der vollzogenen Erörterung der Fig. 180 — 183 Avird es nicht
mehr schwer sein, die entsprechenden Bildungen in Fig. 184"^) in ihrer
Wesenheit zu erkennen. Am häufigsten begegnen uns hier Dreiblätter in
akanthisirender Stilisirnna": soAvohl am Volutenkeleh als am krönenden,
Fig. 184.
Kopfleiste .aus einer l)yzantiuisclien Miniaturhandsclirift des 10. Jahrh.
etAA-as ausgescliAAeiften Blättchen. Dieses Dreiblatt A-ereinigt also in
sich die typischen Eigenschaften des saracenischen Pflanzenornaments:
geometrische Umrisse bei vegetabilischer Detailbehandlung. Auch
Fig. 183 erscheint hienach bloss als eine reichere und üppigere Aus-
gestaltung eines solelien nkantliisirenden Droibhatls. Im mittleren Ivnnd
^') Da ('S in der Absicht dieses Kapitels uielit liea-en kann, alle Erseliei-
nung-en der ausg-ebildetcn saracenischen Dekorationsflora zu erklären, Avill ich
gleich bei dieser Gelegenheit bemerken, dass die kapriciöse Art der Blattbe-
liandlung gleich Fig. 182 gleichfalls von der saracenischen Kunst überiionnnen
Avorden ist, Avie zahlreiche Teppiche. Miniaturen und Fliesen aus dem späteren
Mittelalter und der l)eginuendcn Neuzeit bcAveiscn. Ich knüpfe daran eine
Selbstberichtigung, da ich im Jahrbucli der Kunstsaninilungen des Aller-
höchsten Kaiserhauses Band XIII S. ?>0'^ die Meinung ausgesprochen habe, jene
eigenthündiche Blattbehandlung AvUre auf chinesische Einflüsse zurückzu-
führen. Nun mir der Avahre SachA'erhalt klar gCAvorden ist, vermag ich die
gleiche Tendenz auch in der Mildung der IJIatträndcr zahlreicher Ai'abeskeii-
motJA'e des 14. und 1."». .lahili. zu cikeiinen.
'") Nach Stas.sofr a. a. (». Tat. IlM, 17.
2. Frühsaracenische Rankenornainentik.
329
von Fig. 184 ist ein Dreiblatt von zwei Gabelranken umschlossen: ein
eclit saracenisches Motiv, aber ganz vegetabilisch charakterisirt und auf
byzantinischem Kunstgelnet entstanden. Auf der Bildung von Fig. 181
beruht endlich diejenige der Blüthen in den beiden äusseren Kunden.
Bei der Erörterung der Ornamentik der Elfenl)einkästchen Fig. 174
und 175 haben wir uns die Charakterisirung der dasell)st auftretenden
frei endigenden Blüthenmotive für späterhin vorbehalten. Nunmehr er-
scheinen dieselben durch den blossen Hinweis auf die Bildungen
Fig. 181 und 18o völlig klargestellt.
Fiij. 18ü.
Kopfleiste aus einer armeuisclicn Miniaturhandschrift des 11. Jahrh.
Die byzantinische Miniaturmalerei hat gerade in der uns beschäf-
tigenden Zeit eifrige Aufnahme in den armenischen Klöstern gefunden.
Ein Beispiel, angeblich aus dem 11. Jahrh., auf dessen Bedeutung ich
schon bei anderer Gelegenheit ''•') hingewiesen habe, ist publicirt bei
Collinot und Beaumont, Ornements turcs Taf. 27—29. Der Ausschnitt
aus Taf. 28, der in unserer Fig. 185 wiedergegeben ist, repräsentirt
recht lehrreich die letzten Stadien einer gemeinsamen byzantinisch-
saracenischen Ornamentik: Unfreie Akanthushalbblätter (in mehr steifer
palmettenfächerartiger Stilisirung), Gabelranken, Blumentypen gleich
'9) Altorientalische Teppiche S. 166 f.
330
Die Arabeske.
Fig. 181 und 18:5. an kreisrund eiug'erollten Eanken, an deren Fillirung
das Nichtklassisclie bloss in der Durchkreuzung besteht''^')-
Es erübrigt uns noch eine Anzahl von saracenischcn Kunstdenk-
mälern aus jener Zeit zu betrachten, da die Eigenthünüielikciten des
sarazenischen Rankenornaments liereits nachweislich ihre reife Aus-
bildung errreicht hatten. "Wir Averden bei dieser Betrachtung von
dem Bestreljen geleitet sein, stets den innigen genetischen Zusammen-
hang mit dem vorangegangenen klassischen, beziehungsweise byzanti-
ni.schen Pflanzenrankenornanieut aufzuzeigen. Ja selbst das noch lang-
währende Vorkommen einzelner i-in-
schlägiger 3Iotive in der urthümlichen
Form durch Beispiele nachzuweisen.
Das Beweismaterial ist fast ausschliess-
lich aus Prisse d'Avennes, L'art arabe
entlehnt, fusst somit überwiegend auf
den Denkmälern von Kairo aus dem
12. 1-1. .lalirli.
Fig. 18G zeigt eine durchbrticliene
Fensterfüllung von der iloschee El-
Daher, nach Prisse aus dem 13. Jahrh.
Das Ornament mit seinen Akanthus-
Ablegern an kreisrund gerollten Ivan-
ken könnte man schlechtweg byzanti-
nisch nennen. ]\[an ersieht auch dar-
aus, wie der Zusaniniensehluss der
Ranken zu Spitzovalen schon in der
AVellenbewegung selbst begründet lag,
also ein wesentliches (harakteristicum der Arabeskenführung schon in
der klassisch-antiken "WeHenranke gleichsam latent \nrlianden ge-
wesen ist.
*°) Die .^Palmettenstäbe" der arnieniselien Buclnllustration, von denen bei
.1. Strzyg'owski, das Etschniiadziu Evangeliar 8. lU, die IJede ist, sind niclits
Anderes als Gabelranken, an verschlungenen Wellenlinien pilasterförnng über-
einander aufsteigend, wofür das eigontliche Iiistorische Prototyp in Fig. 159
vorliegt. Die N'erwandtschaft derselben mit den sassanidiselien Ornamentbil-
dungcn gleich Fig. K^Jl— 163, bin ich der T^et/.te zu l)estreiten: doch liegt diese
Verwandtschaft keinesfalls inniiitteli)ar zu 'fage. sondern ist erst aiis der Be-
trachtung und Erkenntniss <ler allgemeinen iu\i\ gemeinsamen Entwicklung
heraus, wie ich sie im r)l)igcii zu gehen ■versiidit liahe, wirklich und über-
zeugend zu verstehen.
n-. isi3.
Steinerne ItaukenfüUung aus Kairc
2. Frühsaracenische Rankeuornamentik.
331
Fig. 186 steht nicht vereinzelt da. Es gehören hieher u. a. ans
Prisse eine zweite Füllnng von derselben Moschee; ferner zwei Fiü-
Inngen von der Moschee Thelai Abu-Rezik, Avovon eines noch fast rein
justinianisch , das andere ähnlich Fig. 18G , mit durchgeschlungenen
arabischen Schriftzügen.
Die letzteren zwei Beispiele versetzt Prisse in das 12. Jahrh.; ist
diese Datirung in der That nicht zu spät angesetzt, so erscheint uns
damit ein überraschendes Zeugniss geliefert für den Conservatismus,
mit welchen die kairenischen Arbeiter in einzelnen kunsttechnischen
Zweigen an der Rankenornamentik rein byzantinischer Stilisirung fest-
gehalten haben. Ungefähr auf der gleichen Stufe stehen die Orna-
mente von der Marmorkanzel der Moschee von Cordova, wie Fig. 187^')
Fig. 187.
Steinerne Friesfüllung aus Cordova
Fig. 188.
Sternfüllung in Stuck.
Au.s der Cuba (Palermo).
beweist. Es ist dies ein Ausschnitt aus einem Bordürestreifen, einen
Bogenfries mit gereihten Lotusblüthen und Palmetten in akanthisirender
Uebertragung enthaltend. An der letzteren Bedeutung lassen die rund
herausgebohrten „Pfeifen" keinen Zweifel aufkommen. Eine Inschrift
bezieht sich auf das Jahr 965 der christlichen Aera; die Kanzel stammt
somit aus der 2. Hälfte des 10. .Jahrh. und wäre hienach um mehrere
Jahrhunderte älter als Fig. 180, der sie aber in der Entwicklung eher
voraus ist. Man beachte in Fig. 187 noch den aus zwei Akanthushalb-
blättern gebildeten Kelch an der niedrigeren Blüthe (die die Stelle
einer Palmette des alten Lotusblüthen-Palmetten-Schemas vertritt). Die
sachliche Identität dieses skulpirten Kelches mit dem gemalten Akan-
thuskelcli Fig. 180 liegt wohl klar zu Tage.
^') Nach Girault de Prang-ey, Essai sur rarchitecture des Arabes et des
Mores Taf. 4 No. 6.
332 r)i^ Arabeske.
Dagegen ergicbt eine nahe Yerwandschaft mit dem Ornamenta-
tionssysteni; das Avir an Elfenbcinarbeiten des 10. Jahrh. (Fig. 174, 175)
angetroffen haben, die Betrachtung der sicilianischen Arbeiten, die
zumeist im 1-J. .lalii'li. für die normannischen Könige von deren sarace-
nischen Unterthanen gefertigt worden sind. Als Probe diene Fig. 18!^^-)
von der Stuckbekleidung eines Kuppelgewölbes der Cuba bei Palermo.
Die gefiederartige Behandlung des Akanthus erinnert sehr an jene er-
Avähnten Elfenbeinschnitzereien: auch die Palmetten mit seitwärts ge-
schlagenen Akanthushalbblättern und den scharf herausgebohrten Kelch-
voluten finden sich an Fig. 174 bzw. 175; ihre byzantinische Vorstufe
haben Avir in Fis-. ISS kennen ü'elernt.
Fig. 189.
Holzgeschnitzte Friesfiilliing. Aus Kairo.
Eine vollende te Arabeske tritt uns in Fig. 189^^) entgegen.
Wenn man von dem mit Kreisfiguren besetzten Bande absieht, das in
lambre(|uinartiger Zeichnung mitten durch den Ornamentfries sicli liiii-
durcliwindet und denselben in zwei reciprokc Kundzackenreihen ilieili.
ist die Verzierung durchweg von Rankenwerk bestritten. Die Führung
der Ranken ist bereits eine sehr mannigfaltige und komplicirte, nament-
lich nicht mehr auf die Kreisbewegung beschränkte, die !\Io(iM' al)er,
mit Ausnahme von kleinen Spiralschösslingeii und Akanthus.ihlegern
nach früiihyzantinischer Art (8. 277 f.), von glatten Konturen umrissene
*"*) Nacli Girault de I'nmgey a. ;i. < ». Tat. 1'2 Nn. 1.
"') Von der holz^eschnitztcn Isan/il licr Moschee von Kus, nach l'risse
frAvennes au.s dem XII. Jahrh.
2. Frühsaracenische Rankenoniamentik.
333
Halbpalmetten und Gabelranken, znm Theil auch Vollmotive^^). Er-
örtern wir die erstercn, als die wichtigsten, im Einzelnen.
In a erkennen wir zwei zu einem Vollmotiv (nach Art der ge-
sprengten Palmette) zusammengestellte Halbpalmetten (oder Akanthus-
halbblätter mit streng gezeichnetem Fächer): Kelch und Fächer er-
scheinen vegetabilisch gegliedert, wie z. B. in Fig. 174, aber glatt um-
rissen: ich verweise auch auf die Schlitze in der Mitte der einzelnen
Halbblätter ^5). Beide Fächer setzen sich wieder rankenartig fort zu
einer ähnlich behandelten Gabelranke u. s. w.
Die vegetabilische Gliederung von a felilt der Halbpalmette 1j.
Deutlich scheidet sich bloss das gekrümmte Kelchblatt und der Fächer,
sowie eine ausladende Zwickelfüllung dazwischen. Was aber den
Fig. 189 a.
Fig. 189 b. Fig. 189 c.
Details von Füllungen in Holzschnitzerei, aus Kairo.
Fig. 100.
breiten Körper dieses arabesken Motivs aitsfüllt, das ist uns kostbarer
als alle akanthisirende Gliederung. Es ist nämlich eine leibhaftige
griechische Eanke mit allen ihren Eigenthümlichkeiten, die uns da
entgegentritt. Dort wo sie sich zum ersten Male gabelt, ist ein Pal-
mettenfächer eingesetzt, in der Richtung der zwickelfüllenden Aus-
ladung im Aussenkontur. Nach Links endigt die Ranke alsbald in eine
regelmässige griechische A^ollpalmette, nach Rechts rollt sie in einer
typischen fortlaufenden Wellenranke dahin, mit spiraligen Schösslingen
und peinlich beobachteten Zwickelfüllungen.
Nehmen wir dazu die Halbpalmette c. Von derselben ist das Gleiche
zu sagen wie von b, mit dem Unterschiede, dass Avir in der Ranken-
füllung diesmal eine deutliche Halbpalmette nach altgriechischem Muster
(Fig. 126) vorfinden. Den Uebergang von der reinen und selbständigen
Palmettenranke zur akanthisirenden Gliederung des arabesken Halb-
^^) Den palmettenartigen Volimotiven in Fig. 189 lieg-en wohl Bildung-en
in der Art von Fig. 181 zu Grunde.
«^) Vgl. Fig. 167, 168 S. 304, 306.
334 Die Arabeske.
pcilmettenkörpers zeigt Fig. 190, von einer anderen Füllung der gleichen
Kanzel. Prisse d'Avennes giebt von der letzteren noch eine ganze An-
zahl von Blättern mit Details, die eine selbständige erschöpfende Unter-
suchung und Erörternug verdienen würden. Davon möge an dieser
Stelle nur noch unsere Fig. lG8a Er-\vähnung finden: eine Doppel-
ranke mit zwickelfüllenden Halbpalmettenfäehern nach gesprengtem
Typus, oben in eiiie Vollpalmette frei endigend. Die verblüttenden Be-
ziehungen, die zwischen diesem anscheinend rein griechischen Eanken-
ornament und dem saracenischen Fig. 168 obwalten, haben bereits auf
S. ?)0H gebührende Hervorhebung gefunden. Die Betrachtung von
Fig. 189 — 190 hat ergeben, dass wir darin keineswegs eine vereinzelte
Kopie oder Keminiscenz nach altem Muster, sondern einen festen orga-
nischen Bestandtheil der saracenischen Ornamentik zu erkennen haben.
Es erscheint damit über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen, dass selbst
Fig. 191.
U:iiiken-Zierlei.sto: bvzantinisihc BucJnnalerei
noch die ausgebildete sarazenisclie Kunst das reine Hache Palmetten-
Rankenornament nach bestem griechischem Muster gekannt und geübt
liat. Die Brücke, die diesbezüglieli vom ;"). .Jaln-li. v. Chr. zum \2. .lahrh.
n. Chr. führt, ist auch nicht scliwer herzustellen. Dass das flache
Palmetten-Kankenoniament auch zur Zeit der Vorherrschaft des Akan-
thus sich fortdauernd im Gebrauehe erlialten hatte, Avurde schon bei
Besprechung des spätantiken l\;ink(noni;iinents hervorgeliobeii, des-
gleichen der Umstand, dass die frülimiitelalterliclie Kunst im ostnimischcn
Keiehe mit wohl «-rklärltai-er A'orlielx' ('8. -289) auf die stilisirtercu
hellenisehfii l'hithen- und Ixanki-nfornicii zunickgcgritVcii h.itle. Byzan-
tinische Zwischenstufen biet<'n ;il)(r .Miiii;ttunii,ihi'<iin «U'S !<•. tuid 11.
.lahrh., wie z. B. Fig. 19186;.
Wir l)egegnen aber an di'ii kairfiii^chiMi Dciikiniihrn des s|i;itcrcn
Mittelalters .inch noch Arabeskt-n, di«- tihiic .lUc Dni'chscliiH-idung nnd
Polygonbildung lediglicli durch dir .'ibstrnkti' linMldunu- dn- Kinzcl-
W') X.icli Stassoir ;i. a. (>. 'laf. 12;;. 10.
2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
3F>5
motive (Voll- und Halbpalmetten) den saraeenischcn Charakter ver-
rathen. Fig. 192 bietet ein solches Beispiel (nach Bourgoin, Precis de
l'art arabe I. 32), wozu ich in Fig. 192a eine Uebersetzmig ins Grie-
chische gebe.
Einzelne bestimmte Techniken scheinen es somit gewesen zu sein,
an denen sicli das feine klassische Palmettenranken-Ornament bis in
Fig. 192.
Arabesken-Füllung-, aus Kairo.
das spätere saracenische IMittelalter erhalten konnte. An Holz-
schnitzereien ist es z. B. auf den berühmt gewordenen Füllungen vom
Moristan des Sultans Kalaun vom Ende des 13. Jahrh. noch nachzu-
weisen*^'). Dass aber an den Schnitzereien der Kanzel von Kus das
gTiechische Palmettenrankenornament gerade dazu bestimmt w^ar, die
grossen abstrakt umrissenen Halbpalmettenmotive auszufüllen, das
Fig. 192 a.
Uebersetzung von Fig 192 ins Griechische.
scheint mir ein nicht zu unterschätzender Fingerzeig dafür zu sein,
dass die saracenischen Künstler sich des engen sachlichen
Zusammenhanges ihrer Arabeskenornamentik mit der
'^O Am Leibrock des Centaiireu, worauf ich schon anderwärts (Altorien-
talische Teppiche 161 ff.) hingewiesen habe; ebendas. reprodvicirt nach Prisse
d'Avennes; ebenso bei Lane Poole, Art of the Saracens of Egypt 125.
536
Die Arabeske.
früheren klassiselien Kankenoriiaiuentik völlig hewussi
waren. Und zwar betone ich: des sachlichen, nicht des historischen
Zusammenhang'es, denn um den letzteren hat sich das ornamentale
Kunstschaffen früherer wahrhaft schöpferischer Jahrhundertc niemals
gekümmert.
Aus dem 14. Jahrh. stammt Fig. lU.-i von einer Füllung der Kanzel
in der Grabmoschee des Sultans Barkuk zu Kairo. Die arabesken
Halbpalmetten haben hier feine lineare Halbpahnetten eingezeichnet;
mit diesen sind wir unmittelbar an die Behandlung der Motive in
Fig. 139 herangekommen, die wir seiner Zeit ( S. 203) unserer Definition
Füllung; in Stuck, aus Kairo.
von den specifischen Eigcniliiiinliehkeiien d^T Arabeske zu (iniiule ge-
legt hatten. Hier drängt sich die Frage auf: gehen die erAv.iliulcii ein-
gezeichneten Füllungen der Motive von Fig. 193 auf dif ]<lassisclie
Halbpalmette zurück, Avie es unter Hinweis auf das zu Fig. ISüb und c
und 190 Gesagte in fler Tli.ii dcnkliar \\;ire. oder sind diesellien als
stilisirtc Uebertragung der unigckla])]it(n l>;iiid(i- <l<s Akanlliu^lialli-
blatts (Fig. 180 183) aufzufassen?
Diese Frage ist nicht unwichtig, ^\l■il wir licjni alisirakiiii ('li,i-
rakter der saracenisclien Hlüthenmotivc in (\qu nieistcu l'äliiu unsirlirr
sind, ob wir uns darunter Akanthus oder flache Projekiioii (Palnicttcii-
fächer) als zu Grunde liegendes formgebend<'s Element vorzustellen
2. Frühsaraceuische Kankenornamentik.
33:
haben. Was an den erwähnten Einzeiehnungen an den Motiven von
Fig". 193, sowie an Fig-. 139 (insbesondere an b und c) zunächst an
flache Halbpalmetten-Projelvtion denken lässt, ist hauptsächlich die
Kelchvolute am Ansätze des eing-ezeichncten Blattes, die Avir von alt-
egyptischer Zeit her (S. 60) als wesentlichen und unzertrennlichen Be-
standtheil der Blüthendarstellungen in Palniettenprojektion kennen ge-
lernt haben. Die Kelchvolute an den saracenischen Halbpalmetten und
Gabelranken in Fig-. 193 und 139 kommt aber nicht von der altgriechi-
schen Palmettenvolute, sondern von einer Eigenthümlichkeit des Akanthus
selbst her, nämlich "S'on den rundlichen „Pfeifen", die immer zwischen
je zwei Zackenausladungen des
Akanthusblattes angebracht sind.
Inwiefern dies schon an den
frühbyzantinischen Ablegern des
Akanthusblattes als formbilden-
des und charakteristisches Ele-
ment zu beobachten ist, haben
wir ciuf S. -279 festgestellt. In
Fig. 194 gelje ich ferner einen
Ausschnitt aus dem Apsismosaik
von San Clemente in Rom^^), das
im ]-2. Jahrh. vielleicht von by-
zantinischen Arbeitern, gewiss
aber unter der Herrschaft der
Maniera greca, Avenigstens in der
Ornamentik , ausgeführt Avorden
ist. An den Akanthushalbblättern, die da der Reihe nach die Akan-
thusranke zusammensetzen, erscheinen die entwicklungsgeschichtlicheu
Abkömmlinge der plastischen „Pfeifen" jedesmal am Ansätze, an der
Wurzel des Blattes durch eine voluten förmige Einrollung deutlich her-
voro-ehoben.
Fig. l'Jl.
Rankeneiurollung vom Apsis-Mosaik
in San Clemente (Rom).
Angesichts der Systemlosigkeit in den Anschauungen, die gegen-
wärtig vom Wesen und Ursprung der saracenischen Ornamentik und
insbesondere von ihrem wichtigsten Ausdrucksmittel — von der Ara-
beske — in Umlauf sind, erschien es geboten, vor Allem einmal den
**) Nach de'Rossi, Musaici antichi delle chiese di Roma Tat". 21. Man
beachte auch die frei endigende Blüthe in der Mitte der Einrollung, mit ihren
umgeschlagenen Blättern gemäss Fig. 181—183.
Riegl, Stilfragen. 22
338 DiP Arabeske.
Werde- und Ausbildung-sprocess derselben von cinheitliehom Gesichts-
punkte aus darzustellen. Auf die lokale Provenienz des jeweilig ge-
wählten Beweismaterials Avurde wenig Gewiclit gelegt; zum überwiegen-
den Theile wurde dasselbe entlehnt von den Denkmälern in Kairo, wo
sich — offenbar Dank dem unvergleichlichen Klima ^ die reichste
und unversehrteste Auswahl davon erhalten hat. Zweifellos hat es
aber auch lokale Sonderentwicklungen gegeben, und Aufgabe der
weiteren Forschung wird es nun sein, den Dififerenzirungeii in den
geographisch so weit verstreuten Gebieten der Islamvölker nachzu-
gehen, und das Trennende zwischen den einzelnen festzustellen. Aber
ich wiederhole es — unsere Aufgabe war nach der entgegengesetzten
Seite gelegen: es galt erst einmal den historischen und genetischen
Zusammenhang in der Entwicklung des Pflanzenrankenornaments seit
antiker bis in die neuere Zeit aufzuzeigen, und zu diesem Behnfe die
gemeinsamen grossen Gesichtspunkte, nicht die trennenden kleinen
Varianten, liervorzusuchen und festzustellen.
Diese Aufgabe glauben wir nun gelöst zu haben durch die Er-
bringung des Nachweises, dass die ausgebildete fertige Arabeske, wie
sie uns an kairenischen Kunstwerken vom Anfange des 15. .Inln-h.
entgegentritt, in ihren scheinbar geometrischen Motiven einen unvt-r-
kennbaren Kern von pflanzlicher Bedeutung birgt. Unsere ünter-
suchitng in dem vorhergehenden, dritten Kapitel dieses Huelies hat aiier
ergeben, dass die Pflanzenornamentik seit dem für uns überliaupt kon-
trollirbaren Beginn menschlichen Kunstsehartens einen streng historischen
Gang eingehalten hat. Xachdem einmal in Folge etwelclier für uns
nicht mehr bestimmbarer — vermuthlich gegenständlich symbolischer
- Gründe das pflanzliche Element in die Dekoration eingeführt Avorden
war, haben die Kultur\'rilker die in historischer Reilienfolge die künst-
lerischen Errungenschaften ihrer A'orfalireii ülieiMialinnn und weiter-
bildeten, in Bezug auf das Pflanzenornament immer bloss an die ihnen
von iliren Vorgängern überlieferten Typen angeknüpft, und dieselben
ihrerseits nacli eigenem Kunstermessen ausgestaltet und iliren Nacli-
folgern hinterlassen. Ein willkürliches Hineingreifen in das natüi'liehe
Pflanzenreich behufs Seliaffung von Ornamenten^") Imt erstlich in dem
Ausniaass*.', wie es gew<"ihnlieh angenommen zu werden i>llegt. üImt
haupt niemals stattgefunden, oder wo dies dennoch'"'! der Fall gewesen
*') Also — was wicflerliolt heteiit wui-de — iiiflil in fj'Cf^'Cns t ;i n «1 1 ic li e i"
Bedeutung'-.
'■^'') Etwa in der niykenisclieii eder in (U;r lielleiiistiscli-riiiiiisclieii Kunst.
2. Frühsaracenische Rankenornamentik. 339
zu sein scheint, niemals zu dauernden Erfolgen geführt, wogegen die
stilisirten Palnietten-, Akanthus- u. s. w. Ornamente ihre ewige, klassische
Bedeutung selbst noch in unserer modernen Zeit des llealismus bewahrt
haben. Von der durch gewisse stilisirte Blüthenprojektioneu, z.B. die
Palmette, vorgezeichneten Linie der Entwicklung ist man in der Haupt-
sache bis in die späteste antike Zeit (und sagen wir auch gleich, bis
zum Spätmittelalter) nicht mehr abgewichen. Aus solcher Erwägung
heraus ergab sich uns die Aufgal)e, das spätantike Pflanzenranken-
ornament mit der Arabeske zu verknüpfen, die dazwischenliegenden
Entwicklungsphasen durch datirte Beispiele aufzuzeigen, und dies ist
uns, trotz des fast absoluten Mangels an Vorarbeiten, hoffentlich auch
gelungen.
Was wir im Xachfolgenden noch zu sagen haben, betrifft an-
scheinend l)loss ein bestimmtes provincielles Geliiet innerhalb der
grossen gemeiusaracenischen Kunst. Aber schon die damit verknüpften
Fragen von allgemeinerer Bedeutung mögen es rechtfertigen, wenn wir
das Kapitel von der Aral^eske mit der Erörterung einer Dekorations-
Aveise von scheinbar bloss lokaler Bedeutung aV)schliessen.
Es hat nämlich in der Kunst des saracenischen Orients auch eine
Art von Pflanzenrankenornamentik gegeben, die man als eine natura-
lisirende bezeichnen könnte. Die Denkmäler, auf denen sie uns er-
halten ist. bestehen hauptsächlich aus Knüpftepi)ichen und aus Thon-
fliesen, und als ihre Heimat Avird überwiegend Persien bezeichnet^').
Die Entstehungszeit der bezüglichen Denkmäler reiclit zAvar grossen-
theils herab in die letzten drei Jahrhunderte, da europäischer Einfluss
nicht bloss in der Türkei, sondern auch in Persien nachweislich breiten
Eingang gewonnen hatte. Aber an einzelnen Beispielen lässt sich das
naturalisirende PflanzenrankenAverk bis in das 15. Jahrh. zurück A^er-
folgen.
Fig. 195 zeigt ein Fragment sammt Eckstück von der Bordüre
eines persischen Teppichs^-), dessen Entstehung aus stilistischen Gründen
in das 16. Jahrh. verlegt wird. Das Grundschema der Rankenführung
bildet die intermittirende Wellenranke, und ZAvar nach echt saracenischer
^') Von der persisch-saraeeuischen durchaus abhäng-ig- ist die indische
Pfiauzenranken-Ornamentik : den Thatbestand umzukehren, wie auch schon
geschehen ist, war abermals nur möglich unter der Herrschaft des Vorurtheils
A-on einer wesentlich autochthonen Entwicklung aller ornamentalen Künste.
3-') Abgebildet in dem vom k. k. österr. Handelsmuseum herausgegebenen
PrachtAverke : Orientalische Teppiche Taf. H.
uo
Die Arabeske.
licliandlunii": geoiiietrist'h-ara-
liesko Spitzovale bilden die
Blüthenmotive und aucli die
Ixankenscliwing'ung'en dazwi-
schen sind lireit dabin stili-
sirt, aber anf diesem arabes-
ken Fond entfaltet sich erst
i'in feines vegetabilisches
l»ankenAverk , das natürlich
iu seinem Verlaufe der Haupt-
sache nach gleichfalls das in-
te-i-mittirende Wellenschcnui
einhält. Im frei bleibenden
<i runde zwischen den gros-
sen Motiven der intermittiren-
den Wellenranke verbreitet
sich das Kankenwerk gemäss
dem fortlaufenden Wellen-
schema'-'^). Die einzi'lnni
l'lüthenmotive ZAveigen nur
/um T])eil von den Eanken
ab, nanu'ütlii'h die grösseren
sind fast durchweg unfrei und
(lurciisetzen die TJanken: l)is-
licr alles wohlbekannte Eig'en-
tliümlichkeiten der genu'in-
saracenischen Pflanzenranken
Ornamentik. Erst die Betrach-
unig der Kiii/elinotive (M'giebt
I lltel"se]lie(le gegell fi her (li'll
1 \ piselien A ra besk ei 1 1 11 u Stern,
wie wii' sie etwa in h'ig. \'.VJ
l<<'!lllell gelernt lialieli.
l''ass«'n wir zuerst das
grosse Spitzoval in der Mitte
in's Auge. Tm einiui i'und-
lichen, das (_Jesammtmoti\ im
'^^) Die (lurcligescliiuiigciien .,\\'olk<'iibiiii(l('r" wie man meint, ZeuL;-
chincsisclien Eiiifhissos — kommen hier iiiclit in Betiaclil.
2. Fvülisaracenisclie Raukeaoriiamentik. 341
Kiemen wieclerliolenden Kern leü,-en sich äusserlich einige Blätter an,
die von unten emporwachsen und in undulirender Bewegung, an die
Fächer der gesprengten Palmette erinnernd, emporstreben. In die
spitzen Winkel, die zwischen je zweien dieser Blätter einspringen,
erscheinen zwickelfüllende Blätter mit akanthisirend behandelten Rän-
dern eingesetzt. Wir wollen der Kürze halber für das ganze Motiv
in seiner Grundform die Bezeichnung Kelclqmlmette gebrauchen.
Das eben erörterte Motiv kehrt noch mehrmals wieder. So in der
Mitte einer jeden Wellenschwingung, wo die den Kern kelchförmig ein-
schliessenden, ausgeschweiften Blätter an den Rändern gleichsam zu-
sammengeklappt und akanthisirend behandelt sind. Ferner im
Innern des zur Ecklösung verwendeten Spitzovnls, hier umschlossen
von einem äusseren Kranz von Blättern, die nicht minder fein aus-
gezackte Ränder zeigen. Kehren wir aber zur Wellenschwinguug
zurück, so fallen daselbst neben der erwähnten Kelchpalmette noch
zwei grössere, häufig wiederkehrende Blüthenmotive auf: oben ein
flacher, ausgezackter, oblonger Teller, aus dem sich der Blüthenkolben
erhebt: die sogen. Fächerpalmette , unten hingegen eine Kranzpahnette,
die sich von der Kelchpalmette wesentlich dadurch unterscheidet, dass
die den Kern umgebenden Blätter um denselben nicht kelchartig
herumgeschlagen und in geschweifte Spitzen auslaufend , sondern
gleich einem Kranz herumgereiht und in geraden Achsen geführt er-
scheinen.
Charakteristisch für diese Motive bleibt die eigenthümliche Stili-
sirung der Blatt ränd er. Und zwar muss dieselbe für ganz Avesentlich
angesehen worden sein, weil sie uns fast an allen den genannten Motiven,
an dem einen mehr, an dem anderen minder scharf gezeichnet, entgegen-
tritt. Um eine historische Erklärung dafür zu finden, liegt es am nächsten,
die arabesken Blüthenmotive der vorhergehenden, mittelalterlichen Kunst
heranzuziehen und zu untersuchen, ob es nicht diese gewesen sein
könnten, aus denen jene oben beschriebenen ..Palmetten'^ etwa unter
dem Einflüsse einer gegen Ende des Mittelalters in der orientalischen
Kunst autgekommenen Neigung zur Xaturalisirung, entstanden sein
möchten. Aber auf Grund einer Betrachtung des typischen Ai'abesken-
musters von Fig. 139 werden wir kaum in der Lage sein, daraus die
naturalisirenden Palmetten jenes persischen Teppichs im Wege direkter
künstlerischer Formen -Entwicklung und Umbildung abzuleiten. Es
bleiben hiernach bloss zwei Möglichkeiten offen: entweder haben wir in
den fraglichen Motiven etwas specifisch Persisches, das Produkt einer
342
Die Arabeske.
autochthonen lokcilen Entwicklung- zu erlüicken , oder die "Wurzel für
ihre Entstehung- muss ausserhalb der persischen und saracenischen
Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti-
gen Tage — entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit ^ die
grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir -werden für diese angeb-
lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts,
oder aus unbekannten technischen Prämissen ebenso-svenig zugeben kön-
nen, -\vie -svir es bisher irgend-svann für zulässig gefunden haben. Bleibt
somit ])loss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und
z-\var naturgemäss -svieder nach dem nächstgelegenen.
Was -wir schon durch den Hinweis auf die cikanthisirende Ge-
staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der
gleichsam zusammengeklappten Blät-
ter der Kelchpalmette vernehmlich an-
gedeutet haben, giebt die Erklärung-
für das ganze Genre: es sind blü-
thenförmigc Kombinationen von
Akantliusblät t (TU, ähnlich den Bil-
dungen, wie wir sie gemäss unseren
Ausführungen auf S. 325 bereits von
römischer Zeit ab nachweisen konn-
ten; für die Kelchpalmetti' lässt sich
der Entwicklungsgang sogar ziemlich
genau herstellen. Den Ausgangspunkt
geben persische Bildungen aus der
Sassanidenzeit (Fig. IGl). Den römi-
schen Charakter haben Avir auf S. •2li'.i
zur Genüge klargestellt: wenn nocli
ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die-
selben niclit doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten,
so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kclchpalmctte
in frühmittelalterlicher Zeit aucli ausserhalb Persiens vorkommt, und
zwar auf den nocli a oi- Sclduss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken
der Omar-Moschee zu .Icj-usalem (Fig. r.iC.)'"), die man gemeiniglich als
Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren
Entwicklung sind es Bildungen (hr liyzanlinisclicn Kunst gleich
Fig. 1 HO— IM.'), die mit dnu ]\[otiv diT Kch-h|i;iluiciii' dem Wesen nach
V^y^:. lOi;.
Kelchpalrnctle vom Mosaik der Oinar-MoscLee
zu .Terusalcm.
'•") Nacli de Vr»giit\ Teniple de Jerusaleiii Tat'. XXI.
2. Friihsaraceuisclie Kankcnornamentik.
343
aufs Engste parallel laufen^^j: insbesondere Seidenstoffe liefern Zwischen-
glieder, von denen es zumeist offene Frage bleibt, ob sie byzantini-
schem oder saracenischem Ursprünge zugewiesen werden sollen. Völlig
abgeklärt und in ein echt saracenisches Schema gebracht, tritt uns die
Kelchpalmette in der mesopotamischen Kunst des 13. und 14. Jahrh.
entgegen, die uns durch zahlreiche, zum Theil datirte Metallarbeiten
repräsentirt ist''^). Als Beispiel diene Fig. 197 von dem tauschirtcn Schreib-
zeuge eines kairenischen Mamelukensultans des 14. Jahrh.-''). Hierbei ist
es wichtig zu beobachten, dass das auf dieser Denkmälergruppe vorfind-
liche Pflanzenrankenornament im Allgemeinen von arabesker Stilisirung
ist, und fast ausschliesslich schematisch umrissene Palmetten mit Voluten-
Fig. 197.
Kelcbpalmette und.Kankrnornamcnt von einer Mossul-Broiize.
kelch (Fig. l'.'T), zum Theil mit einfach gefiedertem Fächer aufweist.
Es erscheint damit nämlich bewiesen, dass der Gebrauch der Kelch-
palmette als solcher keineswegs einer bestimmten naturalisirenden
Richtung eigen gewiesen ist, und dass dieselbe als ornamentales Motiv
3^) Auch die zwickelfüllenden Blätter der „Palmetten" in Fig-. 19.5 haben
ihre entsprechenden Analogien in Fig. 180 — 183. Vgl. S. 327.
'^) Vgl. Stanley Lane Poole, Art of the Saracens of Egypt. 8. 170 ft".
■'') Nach Prisse dAvennes a. a. 0. Ecritoire du soiütan Bahrite -Schaban.
— Der spielend delcorative Gebrauch, den die saracenisclie Kunst vom
Pflanzenrankenornament g-emacht hat, äussert sich in höchst beachtenswerther
Weise in der theilweisen Ersetzung der Halhpalmetten durch Vogelleiber, wie es
sich an den erwähnten mesopotamischen Metallarbeiten — und anscheinend nur
an diesen — ttnclet: z.B. foi'tlaufen de Wellenranken mit abzweigenden Vogel-
leibern bei Prisse a. a. 0.
344 I^i^' Arabosko.
längst fertig und gegeben war, wenn in der Tliat, wofür nielirfaeher
Anschein spricht, gegen Ende des Mittelalters eine naturalisirende
Tendenz in gewissen Techniken und auf bestimmten lokalen Gebieten
zum Durchbruch gekommen sein sollte Mit weitaus besserem Grunde
wird man aber die KrklJirung der naturalisirenden Bildungen gleich
Fig. 195 darin zu suchen haben, dass, so wir in antiker (S. -240) und
früh-mittelalterlicher (S. 'JS'.V) Zeit auch in der vollentwickelten sara-
cenischen Kunst, namentlich an einzelnen Techniken traditionell haftend,
jederzeit zwei Strömungen der Ptlanzenrankenornamentik, eine flache
und eine plastischere, eine arabeske und eine naturalisirende, neben
einander hergelaufen sind. Diese letztere wäre es sonach gewesen, die
in direkter Linie von den spätrümiselien in einander gesehacliielten
Akanthusblattkelchen zu den Kelchpalmetti'n auf drn Teppichen der
persischen Staatsmanufakturen des lO. .lahrh. geführt hat.
Um den Ursprung der besprochenen naturalisirenden liltithen-
bildungen in der persischen Teppichknüpferei des 15. und Hi. .lahrh.
zu erklären, Avurde vor Kurzem'-'®) auf die Idee Sir Georges Birdwuods
zurückgegrifft-n, der die daran obwaltenden Beziehungen zu dem alt-
egyptischen und altmesopotamischcn Ornamentmotiv der Lotusblüthe
zuerst literariscli zum Ausdruck gebracht hat. Dem betrettenden Autor
ist es vermuthlich niclit bewusst gCAvorden, dass er damit im Crnnde
nichts Anderes gesagt hat, als was ich schon in meinen „Altorientali-
schen Teppichen", vernehmlich genug für denjenigen, der sich nicht
der Mühe entschlagen hat, sich mit dir Entwicklung der antiken
Pflanzenornamentik vertraut zu maelirn, angedeutet habe. Darin sind
wir eben gegenwärtig ülier den Standpuidct den noch l'irdwood u. A.
in den bezüglichen Fragen einnehmen mussten, hinausgeschritten, dass
wir dasjenige, was jener geistreiclie Forscher mehr intuitiv geahnt und
als Endresultat künftiger Specialuntersuchungen Nirkümlei hattr. nun-
mehr mit einzelnen Zwischengliedern zu l)eleg<ii. eine zusammen-
liängende Entwicklungskettc für die früher luse behaupiften Anlialts-
punkte herzustellen, im Stande siml. Alicr den von Birdwood, Owen
Jones, de Vogü«'- und Aiuhrcn vor so h-inger Zeit ausgesprocluMuni
Grundideen, soweit sie sich nach der angedeuteten Kiehtung bewegen,
«•ntgegenzutreten, wäre icli der Letzte; ja, ich stehe nicht an zu ei--
klären, dass es um unsere Erkenntniss mittelalterliclier Kunstgesi-liiehte
besser und reifer Ix-stelll wärc^, wenn die geiMde Linie rein lii>tori-
'-•") Im .I}ilnl)uch der Uyl. preuss. Kunstsanmihmgcn XIIl. ]:>4.
2. Frühsaracenische Kankenornamentik. 345
scher Betraclitungsweise, wie sie z. B. de Vog'üe gepflogen hat, nie-
mals verlassen worden wäre.
Die ornamentalen Bhimentypen der persischen Teppiche un-
mittelbar auf achämenidisch-persischc oder assyrische Anfänge zu-
rückzuführen, ist darum unstatthaft, Aveil sich zwischen diese und das
saracenische Spätmittelalter eine ganz grundverschiedene Kultur- und
Kunstschicht gelegt hat, bedingt durch das sieghafte Vordringen der
hellenistischen Antike und die eigenthümlichen Fortbildungen in der
sogen, byzantinischen Zeit. Aber selbst abgesehen von solchen all-
gemeinen stilhistorischen Erw^ägungen, wird man die persische Teppich-
blumistik schon deshalb nicht als unmittelbar autochthone Abkommen-
schaft altorientalischer Kunstformen gelten lassen können, weil das
Substrat selbst — der orientalische Knüpfteppich — nichts schleclithin
Altorientalisches ist^^). Die allgemein verbreitete Meinung, dass der
orientalische Teppich seit Urzeiten in Westasien in Gebrauch gCAvesen
wäre, widerlegt sich durch die Beobachtung, dass der für die neueren
Orientalen charakteristische Gebrauch des Teppichs an Stelle des Sitz-
und Standmöbels im ganzen orientalischen Alterthum nicht nachzu-
weisen ist, derjenige von solchen Möbeln aber feststeht.
Auch dies ist charakteristisch für die seichte, schablonenhafte
Art der Betrachtung auf diesem Gebiete, dass man die in den Schriften
der Alten erwähnten orientalischen „Teppiche" schlechtweg für Knüpf-
teppiche nahm, und es ganz überflüssig fand, diese Meinung an der
Hand der bildlichen Darstellungen zu kontrolliren. Diese erweisen
aber für den ganzen antiken Orient von der altpharaonischen bis ein-
schliesslich der achämenidisch-persischen Zeit den Gebrauch von Stuhl,
Bettstelle und Tiscli, dagegen kein einziges Mal einen Teppich an
deren Stelle. Erst die in Folge ihres nomadenhaften Vorlebens an die
Möbellosigkeit geAvöhnten centralasiatischen Stämme turko-tartarischer
Abkunft, deren Vordringen und Sichfestsetzen in Westasien fast die
gesammte Geschichte des mittelalterlichen Orients ausfüllt, haben den
Knüpfteppich mit sich gebracht und seinen so charakteristischen Ge-
brauch im Westen eingebürgert. Wo die eingewanderten Nomaden-
tribus bei ihrer ursprünglichen Lebensweise stehen geblieben sind,
haben sie auch ihre heimische, primitiv-geometrische Verzierungsweise
— abstrakte Symmetrie in Form von Linien-Kombinationen — in ihrer
^^) Eingehender habe ich diesen entscheidenden Punkt besprochen in der
österreichischen Monatsschrift für den Orient, Jänner 1892: Die Heimat des
orientalischen Knüpfteppichs.
346 Kit" Arabeske.
Teppichornamentik beibehalten, wie sie der soi;en, Xoniadenteppicli
grossentheils nocli licute zeigt. Wo sie aber grosse und glänzende
Hoflialtungen aufriehteten, wie in Persien und in Kleinasien, dort über-
trugen sie die bei den dortigen Kulturvölkern vorgefundene höher-
stehende Yerzierungsweise — eben die von der klassischen Antike
überkommene Pflanzenrankenoruamentik — auf ihre l^uxusteppiche.
Also weder der Knüpftepi>ich, noch sein „geblümtes" ]\[uster sind
in Westasieu urheimisch, in dem Sinne, wie man dies gewöhnlieh ;in-
zuiK-hmen pflegt. Ersterer stammt aus Centralasien; vereinzelte ver-
sprengte Ausnahmen, etwa am Kaukasus, mag es immerhin schon im
Alterthum gegeben haben. Das ..Blumennmster" aber darf nur inso-
ferne als „urorientalisches" gelten, als ja in der That die unmittel-
baren Vorläufer der saracenisehen Ptlanzenornamente — die klassisch-
antiken — im letzten Grunde aus dem Orient herstannnen. Die einzel-
nen Glieder dieser Kette aber, die von der geheimnissvollen lUunie
des Xilthals und der Siuralranke des vorläufig noch räthselhafteren
..mykenischen" Inselvolkes zu den ornamentalen Wundcrlcistungen der
Arabeske führt, glaube ich im dritten und vierten Kajiitel dieses
Buches in ziemlich lückenloser Keihe zusammengefügt zu haben.
r.'i:-
(
PLEASE DO NOT REMOVE
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NK
1175
R5
1893
C.l
ROBA
,
^iJ-ilL^^i)!.